Die Tage danach

Für einen Moment schien es, als könnte die Ermordung von Hrant Dink eine historische Wende bedeuten. von pinar ögünç, istanbul

Niemals hat sich meine Mutter an einer politischen Kundgebung beteiligt, nichts hat sie je dazu bewogen, ihren Unmut öffentlich kundzutun. Obwohl sie sich als Sozialdemokratin bezeichnet, stimmte sie meistens für eine der rechten Parteien, weil sie stets irgendeine Gefahr sah, die das Land abwenden musste.

Als Hrant Dink am 19. Januar auf offener Straße ermordet wurde, rief meine Mutter ihre armenischen Freunde an, die sie aus Kindheitstagen kannte, um ihr Beileid auszudrücken. Und an jenem Dienstag, als Hrant Dink beerdigt werden sollte, ging sie zum ersten Mal in ihrem Leben wegen einer Sache, die in ihrem Land passiert war und die sie nicht zu akzeptieren bereit war, auf die Straße, reihte sich in den Zug ein, der den Sarg begleitete, und lief den langen Weg von Sisli zur Marienkirche im Stadtteil Kumkapi.

Unter den hunderttausend Menschen, die an diesem 23. Januar Hrant Dink die letzte Ehre erweisen und dabei Plakate wie »Wir alle sind Hrant« und »Wir alle sind Armenier« in den Händen tragen, sind viele Mütter und Väter. Etliche von ihnen haben all die Jahre die Nachrichten über Folter, Verschwundene und außergerichtliche Hinrichtungen schweigend erduldet. Plötzlich sind sie auf der Straße und erinnern zum ersten Mal daran, dass sie Bürger dieses Landes sind. Jedes Mal, wenn der eine oder andere Teilnehmer trotz der Bitte der Veranstalter, auf Sprechchöre zu verzichten, etwas wie »Der Staat ist der Mörder« herausschreit, wird er von diesen Vätern und Müttern zur Ruhe ermahnt; fast so, als wollten sie ein unartiges Kind schelten. Solche Parolen sind für sie doch zu viel.

Als Rakel Hrant, die Witwe des Ermordeten, zu den Teilnehmern spricht, können viele ihre Tränen nicht halten. »Mein Geliebter«, sagt sie, »du hast uns verlassen, die Menschen, die du geliebt hast, deine Kinder und Enkel, aber dein Land hast du nicht verlassen.« Es ist der rührendste Moment der Veranstaltung. Die Stimmung ist eine andere als am Abend des Mordes, als sich rund 3 000 Menschen spontan vor dem Redaktionssitz von Agos versammeln. Tränen sind nur in wenigen Augen zu sehen, in vielen hingegen Zorn. »Seht den Staat, seht den Völkermord«, rufen sie. Und: »Der Völkermord dauert an!« Viele haben das Gefühl, an einem historischen Ereignis teilzuhaben, und auch in den Chefredaktionen und Sendeleitungen scheint man den Eindruck zu teilen, dass etwas in Bewegung gerät.

Abgesehen von ein, zwei einschlägig bekannten kleinen Krawallblättern haben sich am nächsten Tag sämtliche Zeitungen dazu entschieden, Hrant Dink zu einem Volkshelden zu verklären. Plötzlich schien es vergessen, dass er erst vor wenigen Monaten gemäß Paragraf 301 wegen »Verunglimpfung des Türkentums« rechtskräftig verurteilt worden war. Plötzlich konnte man im Fernsehen sehen, was ein sichtlich bewegter Dink kurz vor der Bekanntgabe des Gerichtsurteils in eine Kamera sagte: »Wohin könnte ich schon gehen, wenn ich dieses Land verlassen wollte? Aber wenn ich bleibe, wie soll ich meinen Nachbarn ins Gesicht blicken? Was soll ich den Menschen sagen, die sich auf der Straße nach mir umdrehen, weil ich die Türken beleidigt habe?« In die Rede über den »Vaterlandsverräter« hätten diese Worte nicht gepasst, jetzt eigneten sie sich dazu, Dink als »Patrioten« zu vereinnahmen.

Ohne die geringste Scham sprach jede Meldung, jeder Kommentar vom »Ansehen der Türkei« und bemühte jene Redewendung, die man sonst nur heranzog, wenn es einen internationalen Erfolg im Fußball oder in einem Schlagerwettbewerb zu feiern oder einen Anstieg der Bettenzahl an der türkischen Riviera zu melden galt. Die tödlichen Kugeln hatten nicht Hrant Dink getroffen, sie hatten die Türkei getroffen. Nicht um ihn ging es, sondern um das Ansehen der Türkei. Und irgendwer wollte es beschädigen, irgendwer schickte sich an, die Türkei zum Spielball seiner Interessen zu machen. Wieder einmal.

Als im Juli 1993 mehrere tausend aufgehetzte Islamisten in Sivas 37 Menschen bei lebendigem Leibe verbrannten, ohne dass Sicherheitskräfte eingeschritten wären, wusste der damalige Staatspräsident Süleyman Demirel sofort, dass es sich um einen »bedauerlichen Einzelfall« handelte. Solchen Mord und Totschlag, von dem die jüngere türkische Geschichte allzu viel zu berichten hat, zu »bedauerlichen Einzelfällen« zu verharmlosen, ist eine Übung, die jeder türkische Politiker im Schlaf beherrscht. Bei dem Mord an Dink verhielt es sich nicht anders, zumal es ein Minderjähriger war, der die Tat begangen hatte und den man leicht als Psychopathen darstellen konnte.

Wer aber hatte diesen Jungen zu einem »Psychopathen« gemacht? Wie konnte die Stadt Trabzon, aus der er stammte, zu einem Hort von »Psychopathen« werden? Wimmelte es nicht im ganzen Land von solchen »Psychopathen«? Trugen nicht auch jene Richter und Staatsanwälte eine Verantwortung, die Dink exakt wegen dem Artikel angeklagt und verurteilt hatten, den auch der Mörder als Grund für seine Tat angab? Was war mit den Verfassern der unzähligen Schmähartikel über Dink, die der Mörder eher gekannt haben dürfte als den inkriminierten Originaltext? Würde man fragen, wie dieser Staat, dessen Beamte Hrant Dink zum Angriffsziel machten und der ihm trotz der Gefahr, in der er sich befand, keinen Schutz zukommen ließ, Rakel Dink vor die Augen treten sollte?

Gerade einmal eine Woche nach dem Mord stand fest, dass es ganz andere Fragen sind, die gestellt werden. Hatte die Hürriyet unmittelbar nach dem Mord noch »Der Mörder ist ein Vaterlandsverräter« getitelt, bereitete dem Chefredakteur Ertugrul Özkök nicht der Nationalismus Sorge, sondern die Befürchtung, dass dieser in Verruf geraten könne: »Man sollte den Nationalismus nicht mit Rassismus gleichsetzen. Ich sage es mit stolz geschwellter Brust: Auch ich bin ein Nationalist. Und ich bin stolz darauf, ein Türke zu sein«, schrieb er am Samstag.

Am selben Tag konnte man erfahren, was Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zur Beerdigung zu sagen hatte: nämlich, dass er die in Türkisch, Armenisch und Kurdisch verfassten Plakate »Wir alle sind Armenier« als »äußerst ärgerlich« empfand. Schließlich war zu lesen, dass Außenminister Abdullah Gül auf dem Nato-Treffen in Brüssel mit seinen Amtskollegen nicht über eine Änderung des Paragrafen 301 geredet hatte. Zuvor hatte Gül angedeutet, dass er eine Änderung des Paragrafen begrüßen würde. Nun schien er zu ahnen, dass ihn jedes weitere Wort in die Pflicht nehmen könnte, weshalb er abzuwiegeln begann: »Wir können nicht nur deshalb etwas unternehmen, weil es von außen an uns herangetragen wird.«

Die Verabschiedung von Hrant Dink war ein außergewöhnliches Ereignis. Aber es war kein Tag, den man einmal als historischen Wendepunkt bezeichnen können wird. Vielleicht waren es hunderttausend Menschen, die den Sarg begleiteten, vielleicht gab es im Land weitere hunderttausend, die im Geiste mitliefen. Aber bei den Demonstranten, die ihren Stolz und ihr Selbstbewusstsein nicht von der in ihren Pässen eingetragenen Staatsangehörigkeit beziehen, handelt es sich bei Lichte betrachtet um nicht mehr als eine Hand voll Menschen. Deshalb lautete die treffendste Parole der Beerdigung, selbst wenn sie anders, nämlich als Solidaritätsadresse an die Armenier gemeint war: »Wir alle sind eine Minderheit!« Denn die Mehrheit sind die anderen.

Pinar Ögünç ist Redakteurin der linken Monatszeitschrift Express.