Yin Yang gesucht

Die chinesische Führung hat große Schwierigkeiten, die Interessen der Unternehmer und der von ihnen ausgebeuteten Arbeiter gleichzeitig zu wahren. von kristin kupfer

So gut, wie es der chinesischen Wirtschaft seit ein paar Jahren geht, ging es ihr nicht immer, und auch Chinas Ansehen in der Welt war ein anderes. Nach dem 4. Juni 1989 hatte das Land heftige Probleme. Die kommunistische Führung hatte die Protestbewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens gewaltsam niedergeschlagen. Deng Xiaoping, der revolutionserprobte Staatsveteran, musste das Scheitern seiner im Jahr 1978 initiierten Reform- und Öffnungspolitik zur Kenntnis nehmen. »China darf kein Chaos dulden«, sagte er nun und beschwor seine Parteigenossen: »Aber wir müssen mehr für Reform und Öffnung tun.« Doch die Maoisten in der Partei verteufelten die zuletzt durch Inflation und Korruption erschütterte Entwicklung als »bourgeoise Liberalisierung« und plädierten für eine rigide Planwirtschaft und Abschottung.

Deng setzte sich schließlich durch und folgte dem Wachstumspragmatismus. Im Zuge des »Aufbaus einer sozialistischen Marktwirtschaft« erlaubte die Partei nun mehr als zuvor, solange sie ihr Machtmonopol und das Primat der Stabilität nicht gefährdet sah.

Die Leistungsanreize und der Wettbewerb entfesselten neue Kräfte: Die Wirtschaft wuchs jährlich um rund zehn Prozent, allein zwischen 1992 und 1995 verdoppelten sich ausländische Direktinvestitionen und Exporte. Viele Chinesen ließen sich von den neuen Freiheiten berauschen und träumten vom privaten Glück mit Farbfernseher und Waschmaschine. Die Schnellen und Schlauen nutzten die Lücken des »dualen Systems«, die bis heute existierenden organisatorischen und personellen Verflechtungen zwischen Staat und Markt. Ihnen halfen Parteikader, die nicht mehr an den Kommunismus glaubten und gegen entsprechende Bezahlung günstige Kredite, Handelslizenzen und Zollbescheinigungen vergaben. Eine Goldgräberstimmung erfasste das Land. Sie brachte aber auch die Kehrseiten des Wachstumsmodells ans Tageslicht.

Die schwierige Restrukturierung der maroden Staatsbetriebe kostete viele Arbeitsplätze. Alleingelassen mit ineffizienten, von Korruption bestimmten sozialen Sicherungssystemen gingen die Arbeiter immer wieder gegen die Willkür und Selbstbereicherung der Manager auf die Straßen. Arbeitsgesetze existieren bis heute oftmals nur auf dem Papier. Ihre Durchsetzung verhindern Interessensallianzen von Managern, Betriebsräten, örtlichen Regierungsorganen und manipulierbare Gerichte.

In den ländlichen Regionen, wo rund 60 Prozent der Bevölkerung leben, sieht es noch schlechter aus. Eine staatliche Sicherung existiert dort nur rudimentär. Insbesondere das Gesundheitswesen ist marode und für viele unerschwinglich. Zudem sind die Folgen der rücksichtslosen Industrialisierung der Landwirtschaft bedrohlich. Das nutzbare Land macht weniger als ein Fünftel der gesamten Fläche Chinas aus, und etwa 40 Prozent davon sind durch Erosion und Verschmutzung belastet. Ihre oft wenig ertragreichen und zu kleinen Schollen dürfen die Bauern nur pachten, sie gehören dem Dorfkollektiv. Hinzu kommt, dass lokale Staats- und Parteiorgane den Ackerboden oft willkürlich an Industrieunternehmen verkaufen.

In der Hoffnung auf eine bessere Zukunft drängen die Bauern vermehrt in die Städte. Als Wanderarbeiter ohne städtischen Wohnsitz sind sie vom Großteil der sozialen Sicherungssysteme ausgeschlossen. Ihre Kinder dürfen keine öffentlichen Schulen besuchen. Oft arbeiten sie illegal, werden um ihren Lohn geprellt und zudem von den städtischen Bewohnern als ungeliebte Konkurrenz um knappe Ressourcen diskriminiert. Die ländlichen Bewohner verdienen mit knapp unter 300 Euro im Jahr durchschnittlich nur rund ein Drittel des Einkommens der Städter. Der Durchschnittslohn in den reichen Küstenprovinzen beträgt oft das Siebenfache des Binnenlandes. Die ärmsten zehn Prozent der Bevölkerung verdienen nur 1,4 Prozent des nationalen Einkommens, die reichsten zehn Prozent rund 45 Prozent davon. Diese sind nun die wichtigsten Verbündeten der kommunistischen Arbeiter- und Bauernpartei. Denn die Privatunternehmer unter ihnen lassen in ihren Firmen fast 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaften. Sie sind die Gewinner der Wirtschaftsreformen und stützen die Regierung, solange diese ihre privaten Eigentumsrechte und Geschäftsmöglichkeiten schützt.

Außerdem baut die chinesische Führung auf die materielle Zufriedenheit einer wachsenden Mittelschicht. Nach staatlichen Statistiken können sich rund elf Prozent der Bevölkerung in Chinas Städten den Traum von der eigenen Wohnung, Konsum, gutes Essen und Urlaub leisten.

Eine Begleiterscheinung des Wandels ist aber auch die wachsende Bedeutung der Religionen. Ihre Anhänger, vor allem die Christen, werden immer mehr; ihre Zahl übertrifft längst die der Parteimitglieder. Andere begeben sich in virtuelle Welten, entfalten dort subversive Kreativität und entwickeln ihre Kritik an gesellschaftlichen Tabus und Ungerechtigkeiten. Viele Journalisten und Rechtsanwälte nutzen das Internet, um Unterstützung für ihre Bemühungen um Rechtsschutz für betrogene Bauern oder geprellte Arbeiter zu gewinnen.

Die chinesische Führung nennt die sozio-ökonomischen Probleme inzwischen offen beim Namen. Im Bemühen um eine »harmonische Gesellschaft« stoßen Chinas Politiker jedoch an die Grenzen ihres Systems. Die Korruption und die Ineffizienz will die Führung mit »innerparteilicher Demokratie« und mehr Transparenz bekämpfen, aber lieber ohne Pressefreiheit und unabhängige Gerichte. Das Internet soll als modernes Kommunikationsmittel gefördert, aber gleichzeitig gegen kritische Inhalte und unbequeme Blogger abgeriegelt werden. Die Partei will die Interessen in- und ausländischer Unternehmer wahren, ebenso wie die der von ihnen ausgebeuteten Arbeiter und Bauern. Doch unabhängige Gewerkschaften und Bauernverbände duldet die Partei nicht.

Die Austarierung der unterschiedlichen Interessen bringt die Regierung in arge Schwierigkeiten. Intern diskutiert man inzwischen kontrovers über die Zukunft der wirtschaftlichen Reformen; die Stimmen, die politische Veränderungen fordern, mehren sich. Die Stabilität ist aber trotz sich häufender Unruhen bisher nicht gefährdet, denn es fehlen organisierte Bündnisse der Unzufriedenen. Nach wie vor kann die Parteiführung mit ihrem funktionierenden Repressionsapparat jeden Versuch praktischer Gesellschaftskritik erfolgreich unterdrücken.

Doch örtliche Proteste, die sich an kleinen Ungerechtigkeiten entzünden, eskalieren immer schneller und enden oft mit Gewalt. Sie offenbaren die erschreckende Unfähigkeit lokaler Staats- und Parteiorgane, mit der Unzufriedenheit der Menschen umzugehen. Den offenen Krisenerscheinungen steht die Angst vor dem Chaos gegenüber. Die Erinnerungen an die Protestbewegung von 1989 sind noch lebendig – sowohl in der Bevölkerung als auch bei der chinesischen Führung.