Das Knutchen-Schema

Noch kriegt er das Fläschchen, aber bald wird der kleine Eisbär die Welt in »essbar« und »nicht essbar« einteilen. Menüvorschlag: die Familie Baring. von elke wittich

Aus Mediensicht hat das Eisbärbaby Knut den ehemaligen RAF-Terroristen nicht nur den klar höheren Kuschelfaktor voraus – es kann außerdem nicht Rechtsanwalt Eisenberg anrufen und darauf drängen, dass seine Persönlichkeitsrechte von der Springer-Presse respektiert werden.

Außerdem sind weder sein Killerinstinkt noch seine Zähne bereits groß genug, so dass das kleine Polartier von dem, was unter normalen Umständen prima Eisbärenfutter abgeben würde, ungehemmt adoptiert, umschwärmt und geherzt werden kann.

Wie bedauerlich gesetzmäßig biologische Gesetzmäßigkeiten verlaufen, zeigte sich am letzten Freitag. Anstatt über Nacht einen unplanmäßigen Wachs­tumsschub zu erfahren und die Fernseh-Liveübertragung des ersten Freigangs mit ein paar abgebissenen Händen oder mit von scharfen Reißzähnen durchtrennten Achillessehnen zu bereichern, blieb Knut ein milchbezahnter Eisbären-Säugling. Was sehr schade war, denn nicht nur die 500 anwesenden Journalisten und Bundesumweltminister Sigmar Gabriel hätten prima Knut-Fresschen abgegeben, auch der dichtenden Bild-Leserin Viola Kaffke (»Ich bin ein kleiner Eisbär, die Welt dreht sich um mich, und wenn ich könnte, wie ich wollte, dann drück und küss ich dich«) wäre ein Grundkurs in »Was Eisbären wirklich wollen« zu gönnen gewesen.

Ebenfalls auf Knuts »Bitte bei erster Gelegenheit auffressen«-Liste gehören der Historiker Arnulf Baring und Ehefrau Gabriele, die in der Berliner BZ analysieren, warum die Öffentlichkeit das Eisbären-Baby so sehr liebt. Nicht etwa, weil seinen zunehmend ihres Lebensbereichs beraubten wild lebenden Artgenossen der Zoo als letztes Refugium droht, nein, nein, von wegen Klimaschutz und schlechtes Gewissen: »Der von der Mutter verstoßene Knut ist so alleine, wie auch wir uns oft fühlen. Einen wie Thomas Dörflein brauchen wir alle! Einen, der uns liebevoll den richtigen Namen gibt. Einen, der uns nährt, wenn wir hungrig sind. Einen, der immer für uns da ist, solange wir klein sind oder uns doch jedenfalls klein fühlen.« Und dem wir dann, wenn wir ihn nicht mehr brauchen können, die Gedärme aus dem Bauch reißen können? Nachdem wir ihn, wie es die Eisbären mit ihren Beutetieren, den Pinguinen, tun, solange gegen einen Felsen geschleudert haben, bis jeder einzelne Knochen gebrochen ist und der Körper nur noch aus wunderbar leicht zu schlabberndem Matsch besteht?

I wo: »Unsere Sehnsucht nach Liebe ist groß, ist unersättlich. Der kleine Knut gibt uns Kraft. Der kleine Knut hat den dicken Eisenpanzer um unsere Herzen gesprengt, unsere tiefe Unsicherheit aufgelöst.«

Nicht ganz, der kleine Knut hat einen großen Kopf, riesige Augen und erfüllt damit ebenso perfekt das Kindchenschema wie die meisten anderen Tierbabys. Was auch die Barings ahnen dürften, aber deren »19jährige Tochter Anna« hat nun »schon seit Tagen Bilder von Knut auf ihrer Web­site« und nicht das Bild eines x-beliebigen anderen kleinen Viehs. »Mami, der ist ja so süß wie mein Teddy!« zitieren die Eltern ihre Tochter, deren angeblich eisbärenbestückte Homepage seltsamerweise unauffindbar bleibt.

Und anstatt sich zu fragen, ob man in puncto Erziehung wirklich alles richtig gemacht hat, wenn der immerhin volljährige Nachwuchs auf die ziemlich blöde elterliche Frage »Wieso, Anna, fällt dir bei Knut dein Teddy ein?« antwortet: »Mein Teddy ist immer da. Er tröstet mich immer. Hat mich immer lieb. Hört mir immer zu. Er wärmt mich«, setzt das Ehepaar Baring in seinem Artikel zur finalen Erklärung an: »Der kleine Knut nimmt uns die Angst vor öffentlichen Gefühlen. Wir schauen nicht mehr neidisch auf andere, die wir für glücklich halten. Wir dürfen es selbst sein.«

Ob die beiden BZ-Autoren zu den begeisterten Berlinern gehörten, die Knuts erste Schritte im Freigehege bejubelten, ist leider nicht bekannt.

Sehr wohl bekannt ist dagegen, dass der Pfleger Dörflein, so meldete es jedenfalls der Spiegel, die Nacht vor dem großen Tag bei seinem Schützling verbrachte, weil eine Entführung des Tieres nicht ausgeschlossen werden könne.

Nun erscheint angesichts der globalen Eisbär-Hysterie nicht völlig ausgeschlossen, dass normalerweise barsch zurückgewiesenen Kidnapper-Forderungen sofort nachgegeben werden würde, wenn Knuts Leben auf dem Spiel stünde, andererseits dürften selbst ansonsten wenig aufs internationale Image gebende Terrororganisationen ahnen, dass das Quälen eines Eisbärbabys in jedem Land der Welt ausgemacht schlechte Presse gibt.

Das haben schließlich schon Tierschützer erfahren müssen, die erklärten, dass Knut getötet werden solle, da er kein artgerechtes Leben mehr führen könne. Dass sich aus dem wuscheligen weißen Teddy eines Tages eine Art Problembär Bruno entwickeln könn­te, kam keinem der aufgeregten Kommentatoren in den Sinn. Dabei dauert es nicht mehr lange, und aus Knuddel-Knut wird ein sehr großer und äußerst schlecht gelaunter Eisbär geworden sein, dessen Welt in »essbar« und »nicht essbar« eingeteilt sein wird.

Und der, wenn ihm zufällig danach ist, seinen Ziehvater ebenso anfallen könnte wie ein Kind, das in sein Gehege gefallen ist, oder jemand psychisch Instabiles, der zu ihm geklettert ist. Dass Knut dann einfach nur tun würde, was wilde Tiere eben tun, würde in der öffentlichen Beurteilung dann keine Rolle spielen, Killer-Knut würde von seinen enttäuschten Fans zum Tode verurteilt.

Wobei Knut bisher wohl auch deswegen so großherzig am Leben gelassen wird, weil er und seine Artgenossen sich nicht sonderlich zum Verzehr durch den Menschen eignen. Zum einen, weil das Fleisch der Tiere von Trichinen befallen sein kann, deren Larven sich im Muskelgewebe festsetzen und beim Verzehr weiter übertragen werden können. Zum anderen, weil Eisbärenlebern derart viel natürliches Vitamin A enthalten, dass schwere Vergiftungserscheinungen die Folge sind. Scharfe Zähne, unschöne Essgewohnheiten, giftige Lebern und Kannibalismus – es liegt einiges vor gegen Knut und seine Kumpels.

Solange Knut allerdings ein niedliches Baby ist, muss mit vielen weiteren Schlagzeilen und Sondersendungen gerechnet werden. Das weiße Wuschelknäuel wird erst mit fünf Jahren geschlechtsreif sein, Eisbärenkinder werden normalerweise bis ins Alter von anderthalb bis zweieinhalb Jahren von ihren Müttern gesäugt. Viel Zeit für schauderhafte Leser-Gedichte und Ergüsse aus dem Hause Baring. Und für Schunkelhits, Poster, Klingeltöne, Sondersendungen und die Hoffnung, dass Knut schnell wächst und bald groß genug ist, um Famile Baring aufzufressen. Oder ein anderes Ärgernis.