Exotisches Material

Über den Kolonialismus in der Ethnologie und ethnologischen Ausstellungen. Von Thomas Brückmann

»Aneignung«. So betitelte eine Kuratorin des Ethnologischen Museums in Berlin-Dahlem, Paola Ivanov, im Jahr 2000 einen Artikel über die »Afrika-Ausstellung«, den sie nach einem zweijährigen Volontariat in dieser Institution verfasste. Ernüchternd ist die koloniale Kontinuität, die sie in ihrem Artikel eingehend beschreibt. Durch die Sammelwut im Zuge der europäischen Expansion und des Kolonialismus entstand der große Bestand des Museums. Allein während der deutschen Kolonialzeit (1884 bis 1919) wurden in der Berliner Institution um die 50 000 Gegenstände angehäuft. Nicht das wissenschaftliche Interesse war der Grund dafür, denn mit ihnen wurde gehandelt, und das europäische Begehren nach »exotischem« Material wurde gestillt. Das Museum erwarb den Großteil seiner Sammlung durch Käufe bei Afrika-Reisenden, Angestellten der deutschen Kolonialbehörden und Händlern. Heute lässt sich die Herkunft ein­zelner Artefakte oft deswegen nicht rekonstruieren, teils fehlt schlicht die Angabe des Herkunftsortes.

Ivanov zufolge manifestiert sich im Sammeln und Ausstellen der Artefakte der Widerspruch, dass sie einerseits die einzigen Primärquellen darstellen, die das Fach Ethnologie zur Vergangenheit Afrikas habe, andererseits aber symbolisch für die »Aneignung des Kontinents« stehen. Viele Stereotype stünden mit diesen Gegenständen in Verbindung. Allen voran das Bild der Primitivität afrikanischer Gesellschaften, welches sich in der Praxis des Museums insbesondere im Begriff »Fetisch« verdeutliche. Mit diesem Begriff wurden bis 2005 im Museum nahezu alle Gegenstände bezeichnet, die Menschen oder Tieren ähnelten. Die Bedeutung des Begriffes »Fetisch« speist sich aus der Vorstellung, Magie sei in afrikanischen Gesellschaften von zentraler Bedeutung. Davon grenzt sich der europäische Monotheismus ab und begreift sich als »zivilisiert«. Beispielsweise ist es nicht üblich, Kultgegenstände aus der christlichen Religion, etwa Marienfiguren, als »Fetische« zu bezeichnen.

Zum zweiten kritisiert Ivanov, dass außer­europäische Gesellschaften als geschichtslos dargestellt worden seien. »Kultur wandelt sich beständig, in Afrika wie sonstwo in der Welt.« Entwicklungen, von denen auch die Gegenstände zeugen, seien lange Zeit in der Ausstellung nicht einmal erwähnt. In der Zeit vor und während des Kolonialismus wurden außereuropäische Gesellschaften oft betrachtet, als werde ein »Blick in die Vergangenheit« geworfen. Die erste von Rudolf Virchow gegründete Institution der Völkerkunde hieß »Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte«. Bis in die Gegenwart ist die Vorstellung von einer quasi »natürlich« vorgegebenen Gesellschaftsentwicklung – wobei die europäischen Gesellschaften als die fortgeschrittensten betrachtet werden – weit verbreitet: das evolutionistische Gesellschaftsbild.

Überdies zeugt die konkrete Praxis ethnologischer Ausstellungen Ivanov zufolge von Bildern vermeintlicher Ursprünglichkeit. Gegenstände, die auf den Einfluss des Kolonialismus hindeuten – beispielsweise Figuren mit christlichen Symbolen oder europäischen Waffen –, wurden nicht in die Ausstellungen aufgenommen, denn mit ihnen glaubte man, die »ursprüngliche« Kultur zu »verunreinigen«.

Zum dritten kritisiert Ivanov die Stereotype, die aus der Tatsache entstehen, dass sich die Ausstellung allein auf das Zeigen von Artefakten beschränke. Dies fördere die Vorstellung, eine bestimmte Art von Gegenständen repräsentiere eine homogene Gruppe. Ivanov hingegen geht davon aus, dass die Motive der Gegenstände über sehr weite Regionen Verbreitung finden.

Vergangenheit: Kolonialismus

Die Idee, außereuropäische Gesellschaften allein mittels Gegenständen repräsentieren zu wollen, ist ein Relikt aus der Entstehungsgeschichte der Völkerkunde, deren Institute heute zumeist zur »Ethnologie« gehören. Eine der wichtigsten Personen während der Etablierung des Fachs im deut­schen Sprachraum war der erste Vorsitzende des Berliner Museums für Völkerkunde, Adolf Bastian. Der studierte Mediziner, Rechts- und Naturwissenschaftler handelte sich mit seinem Werk »Der Mensch in der Geschichte« den Ruf als »erster deutscher Ethnologe« ein.

Ein evolutionistisches Gesellschaftsbild, das den Anthropologen zum Historiker werden lässt, findet sich in seinem Werk überaus deutlich. So bezeichnete er die Sammlungen ethnografischer Artefakte als »Thesauren, gefüllt mit kostbaren Dokumenten für die Geschichte der Menschheit«.

Anfangs war das »Museum für Völkerkunde« noch den Kunstsammlungen der Königlich-Preußischen Museen eingegliedert. Vorstand der ethnografischen Abteilung der Museen war ab 1868 Adolf Bastian. 1873, gut ein Jahrzehnt vor dem Eintritt Deutschlands in den Kolonialismus, wurde das Völkerkundemuseum ausgegliedert und als eigenständiges Haus etabliert.

Bastians Auffassung zufolge war die Haupt­aufgabe der Völkerkunde das Sammeln von Gegenständen, die er als »Abdrücke von Kultur« verstand. Hier entwickelte sich die von Ivanov beschriebene »Sammelwut«, zu der es während des Kolonialismus kam.

Bastian sah »höchste Eile« geboten, was das Sammeln anging. Er zeigte sich besorgt über die Zerstörung der »primitiven Kultur« durch den »Kulturkontakt« mit den »zivilisierten Völkern«. Wurde durch diesen »Kulturkontakt« das ethnologische Arbeiten über­haupt erst möglich, so kritisierte ihn das Fach zum Teil gleichzeitig. Meist aus ähnlichen Gründen wie Bastian, aber vordergründig aus wissenschaftlichem Interesse, denn die Kolonialeroberungen hatten auch weit reichende Auswirkungen auf das völker­kundliche »Forschungsfeld«.

Der Blick auf die Ereignisse während der Entstehung des Museums lässt den engen Zusammenhang von Ethnologie, ethnologischen Ausstellungen und dem Kolonialismus deutlich werden. Hier zeigt sich, wie verschränkt miteinander Politik und Wissenschaft waren und sind.

1885, im Jahr nach der Berliner Kolonialkonferenz, in der die europäischen Mächte Afrika untereinander aufteilten, unternahm Bastian mehrere Versuche, die Kolonialverwaltungen dazu zu bewegen, den Interessen des Museums zuzuarbeiten. Das Auswärtige Amt bat er darum, »dass von der Museumsverwaltung eigens dazu beauftragten, wissenschaftlich dazu vorgebildeten Reisen­den gestattet werde, die Expeditionen der Kaiserlichen Marine nach besonders dazu geeigneten Gegenden zu begleiten«. Überall dort, »wo im Fortgang colonialer Bestre­bungen bisher unbetretene Regionen sich dem Vordringen eröffnen, wird es von höchs­ter Bedeutung zu gelten haben, daß gleich bei der ersten Kenntnisnahme ethnologischer Originalitäten diese rein und ungetrübt gesichert werden, um in den Museen für künftige Studien aufbewahrt zu werden«.

Waren seine Bemühungen anfangs von we­nig Erfolg gekrönt, so gelang es ihm 1889, einen Erlass zu erwirken, der die Prüfung jeglicher Ethnografika und deren mög­liche Überstellung in das Museum vorsah. Am Ende dieses Dekrets wird auch die Idee der Errichtung eines Kolonial-Museums angesprochen: »Um ein vollständiges Bild von der Kultur, den wirtschaftlichen und kommerziellen Verhältnissen der Schutzgebiete« zu bekommen, könne aber auch das »›Museum für Völkerkunde‹ (…) gewissermaßen als Ersatz« dienen.

Daneben war das Museum auch in den mit dem Kolonialismus aufkommenden Han­del mit Ethnografika involviert, der sich innerhalb des Bürgertums entwickelte. Galten die Artefakte aus den Kolonien vor dem Auf­kommen des evolutionistischen Gesellschafts­verständnisses, das sich erst im Laufe der imperialistischen Bestrebungen etablierte, noch als »Teufelszeug«, so weckten sie zunehmend das Interesse der Bevölkerung in den Metropolen.

Bastian musste einen Umgang damit finden, denn die »permanent steigenden Preise seit zwanzig Jahren reichen bis zum Auslaufen in reine Liebhaberpreise«. So geriet das Museum in Konkurrenz zu den mit Ethnografika handelnden Kolonialhäusern, an welche die aus den Kolonien zurückkehrenden Reisenden ihre Gegenstände lieber verkauften als an die weniger bezahlenden wis­senschaftlichen Institutionen.

Die Gewalt, die der Kolonialismus mit sich brachte und damit auch den »Erwerb« der Ethnografika ermöglichte, wurde zwar verschwiegen, war den Beteiligten aber nicht unbekannt. So schrieb Richard Kandt, Afrika-Reisender und Resident des Deutschen Reichs in Ruanda, 1897 an den stellvertretenden Direktor des Berliner Völkerkunde-Museums: »Überhaupt ist es sehr schwer, einen Gegenstand zu erhalten, ohne zum mindesten etwas Gewalt anzuwenden. Ich glaube, dass die Hälfte Ihres Museums gestohlen ist.«

Wichtig für die Kontextualisierung des Ethnologischen Museums im Kolonialismus ist auch die Betrachtung des Fachs Anthropologie bzw. »Völkerkunde«, wie es im deutschsprachigen Gebiet hieß. Die europäische Expansion und die kolonialen Erobe­rungen ließen dieses Fach überhaupt erst entstehen. Zum einen gab es eine exotisierende Neugier auf »andere« Gesellschaften. Zum zweiten entstand ein politisches Interesse an Wissen über die eroberten Gesellschaften. Oft versprachen sich die Kolonialbehörden davon eine Verbesserung ihrer Regierungstätigkeiten. So wurden viele Ethnologen von den Kolonialregierungen finanziert und wohnten nicht selten in den örtlichen Gebäuden der Kolonialverwaltung.

Diese generelle Beschreibung der Entstehung der Ethnologie trifft auf das deutsche Fach in geringerem Maße zu, denn wirklich etabliert hat es sich erst nach dem Verlust der deutschen Kolonien. Der erste Lehrstuhl wurde ein Jahr nach dem Ende des Ersten Weltkriegs – und der damit verbundenen Aufteilung der Kolonien des Deut­schen Reiches unter den Alliierten – 1920 in Leipzig gegründet. Davor kamen die Forscher aus verwandten Disziplinen wie der Soziologie, der Sprach- oder »Rasseforschung«, wie beispielsweise Eugen Fischer, oder waren in völkerkundlichen Museen tätig.

Deswegen bezeichnet das Fach seinen Zusammenhang mit dem deutschen Kolo­nialismus gern als »marginal«. Tatsächlich äußerten sich die späteren Völkerkundler während der deutschen Kolonialherrschaft wenig zu kolonialpolitischen Themen. Sie begannen erst in der Zeit damit, die von einigen postkolonialen Theoretikern auch als Zeit des »deutschen Kolonialismus ohne Kolonien« bezeichnet wird.

Verschiedene Vertreter des Fachs begannen ab 1920, sich für die »Rückgabe« der Gebiete stark zu machen. Richard Thurnwald, Berliner Professor für Völkerkunde, war einer der etabliertesten Verfechter dieser Forderungen. Er bezeichnete die europäischen »Einflüsse« auf die kolonisierten Gebiete als »gegebene und unabänderliche Menschheitsvorgänge«.

Das Fach hatte lebhaften Anteil an der De­batte nach 1919, der in der Zeit des Nationalsozialismus sehr konkrete Pläne zur Rück­gewinnung der deutschen Kolonien in Afrika folgten. Auf einem ethnologischen Kongress im Jahre 1940 sprachen sich die Anwesenden dafür aus, das Fach in eine »Kolonialwissenschaft« umzuwandeln, um im Falle der Rückgewinnung »Regierungs­ethno­lo­gen« zur Unterstützung der politischen Vor­haben einsetzen zu können.

Nach 1945 setzten sich die kolonialpolitischen Forderungen zum Teil noch fort. Auf einem Kongress 1961 verteidigte Wilhelm Mühlmann, Ethnologe und Schüler des nationalsozialistischen Rassentheoretikers Eugen Fischer, den Kolonialismus gegen laut werdende kritische Stimmen. In seinen Worten war dieser ein »interethnisches Kontaktverhalten«, welches »im Großen und Ganzen stark humanisiert, mindes­tens domestiziert« habe.

»Anthropology, a child of Western imperialism«

Neben der offensichtlichen Zusammenarbeit mit Kolonialbehörden war die Ethnologie vor allem an der Produktion gesellschaftlich wirksamen Wissens beteiligt. Teil­ten die Kolonialmächte die eroberten Gebiete ungeachtet der vorher existierenden gesellschaftlichen Strukturen in Staaten nach europäischen Vorbild, so vollzog sich ein ähnlicher Prozess innerhalb der Ethnologie anhand von Begriffen wie »Ethnie«, »Stamm« oder »Volk«.

Ethnologische Wissensproduktion war nicht nur ein Problem des »falschen« stereo­typen Wissens über das »Andere«, sondern die Konstruktion des »Anderen« überhaupt. Dies in den später folgenden kritischen Debatten festzustellen, bedeutete für die Ethnologie eine Infragestellung des gesamten Fachs, worauf auf unterschiedliche Art reagiert wurde.

Eine wichtige Diskussion war die nach einem 1986 erschienenen Sammelband der US-amerikanischen Anthropologen James Clifford und George E. Marcus benannte »Writing-Culture«-Debatte, die das Othering, die Konstruktion der Vorstellung eines »Anderen« in der ethnologischen Wissenschaft, kritisierte.

Clifford stellt in seinem Artikel den Begriff der Wahrheit infrage, mit dem viele Wissenschaftler des Fachs operieren: »Even the best ethnographic texts – serious, true fictions – are systems, or economies, of truth. Power and history work through them, in ways their authors cannot fully control.« Für Clifford ist das Problem der Ethnologie vor allem eines der Repräsentation. Ihr läge der Glaube zugrunde, eine »Kultur« könne in ihrer Ganzheit wahrgenommen werden. Damit verleugne man die gesellschaftlichen Prozesse, denen die Repräsentation unterworfen ist.

Das Konzept, für das sich »Writing Culture« ausspricht, heißt »Vielstimmigkeit in der ethnografischen Arbeit«. So trete der Anthropologe als alleiniger Autor in den Hintergrund und die Stimmen der »Anderen« gewinnen an Gewicht.

1989 veröffentlichte der postkoloniale Theoretiker Edward Said den für die Ethnologie wichtigen Text »Representing the Colonized: Anthropology’s Interlocutors«. Er sieht die »Writing-Culture«-Debatte auf die Problematisierung von Repräsentation reduziert. Sie vernachlässige, dass sich Kolonialismus in der postkolonialen Ära in Macht­verhältnissen fortsetzt. So hätten die fach­internen Debatten vor allem über eines nicht gesprochen: sich selbst.

Said beschreibt das westliche Wissen als stets mit der kolonialen Vergangenheit in Verbindung stehend. Keine Disziplin, keine Institution, keine Epistemologie stehe außerhalb. Said schlägt – analog zu dem methodischen Ansatz in seinem Buch »Orien­talism« – eine diskurstheoretische Herangehensweise vor. Wer spricht? Über wen? Zu wem? Warum? Diese Fragen böten die Möglichkeit, eine Analyse über methodologische Probleme hinaus zu ermöglichen.

Said zufolge ist die ethnografische Arbeit hauptsächlich mit drei Problemen konfrontiert. Zum einen sei die Situation, die eine solche Forschung kreiert, eine koloniale. Der oft weiße Ethnograf reist, beobachtet und schreibt. Die in der klassischen ethnolo­gischen Forschung fast ausschließlich nicht-weißen »Forschungsobjekte« werden aufgesucht und beobachtet, und es wird geschrieben über sie. Der Kolonialismus habe in der westlichen Welt ein bestimmtes Wissen über das »Andere« produziert und dabei dieses verstummen lassen. Daran habe auch die Ethnologie ihren Anteil. Zum zweiten verweist Said auf die »geografische Position«. Durchaus gebe es nicht-westliche ethnografische Arbeiten, deren Rezeption jedoch im Vergleich zu den westlichen Werken marginal bliebe. Das habe zum dritten die gesellschaftliche Wirkung zur Folge, die westliches ethnografisches Wissen hat.

Interessant und inspirierend ist auch die Kritik, die die US-amerikanische schwarze Feministin bell hooks an »Writing Culture« hat. Sie bewertet das Werk als durchaus kritisch (gemeintes) innerhalb der Ethnologie. Dennoch fällt ihr Urteil nicht gerade wohlwollend aus. Schon die Gestaltung des Buchumschlags reproduziere die kolonialen Strukturen des Fachs. Er zeigt ein Foto von Stephen Tyler während einer Forschungs­reise in Indien. Der weiße Mann ist sitzend, seine Feldnotizen schreibend, im Vordergrund des Bildes zu sehen. Er nimmt den größten Teil des Bildes ein.

Im Hintergrund befinden sich zwei people of color, wahrscheinlich Bewohner des Ortes, den Tyler zu seinem »Forschungsfeld« bestimmt hat. Der Mann beobachtet den weißen Forscher und tut dabei nichts. bell hooks interpretiert seine Mimik als homo­erotischen Blick, der auf den weißen Mann gerichtet sei.

Der Blick der im Bildhintergrund zu sehen­den Frau ist nicht zu erkennen. Sie steht im Schatten. Ein schwarzer Balken des Buchlayouts macht ihr Gesicht unkenntlich. bell hooks schreibt von dem »doppelt negierten Blick« der woman of color.

Das Cover sei repräsentativ für das Buch, denn auch hier fehlen nicht-westliche und nicht-weiße Positionen. Damit werde der Ausschluss von in einer rassistischen und postkolonialen Gesellschaft unsichtbaren Positionen fortgeschrieben.

Gleichzeitig mit dem Ausschluss nicht-weißer Positionen erfolge eine Aneignung kritischen Wissens durch weiße Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. bell hooks schreibt, dass viele neue Entwicklungen in den Cultural Studies und der Ethnografie erst infolge der Kritik der schwarzen Befreiungsbewegungen entstehen konnten. In kritischen Bänden wie »Writing Culture« wird dieses Wissen dann zu »innovativen« Reflexionen von Weißen.

Auch die Berliner Ethnologin Katharina Schramm kritisiert die Auseinandersetzung der »Writing-Culture«-Debatte, die Macht- und Ausschlussmechanismen ausblende. Sie versucht, Überlegungen der Kritischen Weißseinsforschung, die seit einigen Jahren aus der US-amerikanischen Forschung kommen, aufzugreifen und für die bundesdeutsche Ethnologie zu nutzen.

Indem Weißsein infragegestellt wird, wird der Fokus auf das dominante Subjekt des Rassismus gerichtet. Dieses ist unsichtbar und aufgrund des gesellschaftlichen Rassismus privilegiert – was sich in Aus­sagen zeigt, in denen von »Menschen« gesprochen wird, aber nur Weiße gemeint sind.

Zwar könne, schreibt Schramm, nicht von einem unsichtbaren weißen Subjekt in der Ethnologie gesprochen werden, da der/die »weiße Forscher/in innerhalb dieses Kontextes (der Feldforschung) fast immer deutlich als Außenstehende/r markiert« sei. Doch einen Universalitätsanspruch, »der die Partikularität weißer Identität negiert«, formuliere die Ethnologie in vielen Arbeiten.

Das ethnologische Setting, die Reinszenierung einer kolonialen Situation, ist ein Problem, welches eine sich als kritisch verstehende Ethnologie nicht einfach ignorieren kann, will man von einem Forschen über das »Andere« mit klassisch dichotomer Aufteilung – eine westliche, weiße Person (Subjekt) forscht über eine nicht-westliche person of color (Objekt) – Abstand nehmen. Selbst kritische Bestrebungen im Fach wie die »Action Anthropology«, die versucht, parteiisch für die Verbesserung der Lebensumstände der Menschen zu arbeiten, über die geforscht wird (und auch dies erst nach deren Anfrage bzw. Einladung), verbleiben in diesem Setting.

Anders ist das nur bei Richtungen in der Anthropologie, die mit den ethnologischen Methoden explizit nur noch zu Themen der »eigenen« Kultur arbeiten. Dennoch bleiben auch hier Fragen nach von Weißen dominier­ten Institutionen wenig beachtet.

Diese Kritik aus den Debatten um die Ethnologie lässt sich ebenso auf ethnologische Ausstellungen übertragen. Museen zeigen sich gegenüber kritischen Debatten weitaus resistenter. Außerdem scheint dort die Praxis, das »schweigende Andere« in Form von Gegenständen auszustellen, selbstverständlich zu sein.

Doch die Kritik an der Ethnologie und ihren Repräsentationskonzepten ist an den Aus­stellungen nicht völlig vorbeigegangen. Ein Konzept im Ethnologischen Museum in Berlin beispielsweise begreift sich als neu und progressiv.

»Nur 15 Minuten bis Afrika«

»Nur 15 Minuten bis Afrika«, dieser Schriftzug befindet sich auf einem Plakat an einer Berliner Bushaltestelle, auf dem eine Plastik aus dem Königreich Benin zu sehen ist. Dabei handelt es sich um Reklame für die 2005 eröffnete Ausstellung »Kunst aus Afrika« im Ethnologischen Museum in Berlin-Dahlem, die vergleichsweise neu ist, denkt man etwa an andere Ausstellungen, die sich dort befinden, wie beispielsweise die zur »Südsee«, die seit 35 Jahren unverändert vor sich hin mufft.

Eigentlich müsste der zitierte Schriftzug jedoch lauten: »15 Minuten in die post­kolonialen Vorstellungswelten weißer deut­scher Kuratoren«, obwohl … eine Fahrt nach Dahlem dauert von den wenigsten Orten in Berlin nur 15 Minuten.

Die neue Ausstellung will sich als mo­dern und »innovativ« verstanden wissen. Der Kurator Peter Junge ist der Meinung, sie könne sogar dazu beitragen, mit den stereotypen Vorstellungen der Besucher über Afrika aufzuräumen.

Die Ausstellung und ihr Konzept genauer zu betrachten, ist empfehlenswert, will man die gegenwärtigen Entwicklungen und die Fortführung von postkolonialen Realitäten in ethnologischen Ausstellungen untersuchen. Wessen Kritik wird hier gehört? Wer spricht? Wird Kolonialismus themati­siert, und in welcher Form?

Nach einer 45minütigen Fahrt, beginnend an der genannten Bushaltestelle, steht man vor dem Eingang des ethnologischen Museums. Der breite helle Gang führt direkt zum Hinweis auf die Ausstellung: »Afrika«, Pfeil nach links.

Folgt man der angegebenen Richtung, findet man sich schließlich in »Afrika« wieder: völlig in Schwarz gestalteten Räumlichkeiten. Die Farbe sei nicht aufgrund einer stereotypen und negativen Assoziation gewählt worden. Sie solle lediglich die Auf­merksamkeit direkt auf die ausgestellten Gegenstände lenken, so die Er­klärung des Kurators.

Nachdem sich das auf diese Erläuterung folgende Gefühl der Skepsis langsam ge­legt hat, erklärt die erste Tafel die »drei stereotypen Vorstellungen über Afrika« und wie die Ausstellung mit ihnen auf­räume. Und tatsächlich: Die meisten Gegenstände werden als »Kunst« oder »Design« bezeichnet, ein Zeichen der Wertschätzung und ein Versuch, die gezeigten Objekte euro­päischen Kunstgegenständen gleichzustellen. Europäische Einflüsse auf die Kultur Afrikas werden nicht unerwähnt gelassen, um sich vom Bestreben früherer Ausstellungen abzugrenzen, das vermeintlich »Ursprüngliche« darzustellen. Und: Geschicht­liche Entwicklungen, die sich in den Gegenständen widerspiegeln, werden ausführlich erläutert.

Als rassistische Ausstellung kann man »Kunst aus Afrika« nicht bezeichnen. Doch wessen Kritik wird hier verarbeitet? Peter Junge ist der Meinung, es seien seine eigenen kritischen Ideen gewesen, die dieser Ausstellung zugrunde lägen.

Damit wird die meist von außen an die Museen herangetragene Kritik verschwiegen, die sich oft mit den zahlreichen ins­titutionellen Abwehr- und Relativierungs­strategien konfrontiert sieht, bevor sie spä­ter doch in die Konzeptionen mit aufgenommen wird. Erst im vorigen Jahr wur­de von einer Berliner Gruppe eine Gegen­ausstellung zu »Kunst aus Afrika« entworfen und gezeigt, die später vom Museum als übertrieben und unzutreffend bezeichnet wurde.

Überdies scheinen die Debatten, die be­züglich der Ethnologie und der ethnologi­schen Ausstellungskonzepte geführt wurden, wie die Arbeiten von bell hooks, Edward Said und Katharina Schramm, den für das Museum Verantwortlichen gänz­lich entgangen zu sein. Das könnte auch der ­Grund dafür sein, warum es den Orga­nisatoren der Ausstellung so »innovativ« er­scheint, die drei »Stereotype über Afrika« kritisch infragezustellen.

Die kolonialen Strukturen schreiben sich abseits der expliziten Äußerung ras­sisti­scher Vorstellungen fort. So zeichnet sich die Ausstellung vor allem durch Schweigen aus: Unsichtbarkeit von Weißsein und der kolonialen Gewalt, die die Ausstellung der Objekte überhaupt erst ­ermöglicht hat. Auch finden sich neben den Gegenständen nicht die Namen der Künstlerinnen und Künstler, wie man es erwarten könn­te, denn diese sind nicht bekannt, da der Großteil der Din­ge in Raub- und Eroberungs­­zügen euro­päischer Kolonialtruppen erbeutet wurde.

Auf den Informationstafeln neben den Ausstellungsstücken finden sich stattdessen kurze Bezeichnungen, wie etwa »Slg. v. Puttkammer« oder »Slg. H. v. Wissmann«. Ohne weiteren Kommentar werden hier die Namen von Personen, die hohe Positionen in den deutschen Kolonialbehörden innehatten, als einzige Hinweise zur Her­kunft der Stücke angeführt.

Der preußische Offizier Hermann von Wissmann war beispielsweise »Schutztruppenkommandant«, Reichskommissar und Kolonialgouverneur von »Deutsch-Ostaf­ri­ka«, dem heutigen Tansania. Aus folgendem Zitat aus dem Jahr 1895 lässt sich ei­niges über die Art und Weise seines Diens­tes er­ahnen: »Keine Tätigkeit ist geeigneter, den Europäer für die richtige Behandlung der Neger zu erziehen, als die militärische. … Er wird bald erkennen, dass er in den Ne­gern eine noch in den Kinderschuhen steckende Rasse vor sich hat. … Ich bin durchaus kein Freund davon, jedem ›Black Brother‹ die Hand zu schütteln … Hört der gute Einfluss des Europäers auf, so fällt der Neger schnell wieder in seine alte Trägheit und Sorglosigkeit zurück.«

Die koloniale Vergangenheit findet zwar hier und da Erwähnung in der Ausstellung, doch die Begriffe relativieren die histori­sche Realität mehr, als dass sie sie benennen. Von »Handelsbeziehungen während der europäischen Expansion« ist da etwa in euphemistisch verschleiernder Weise die Rede oder vom »Kulturkontakt«. Dass diese »Begegnungen« und »Beziehungen« von Macht und Gewalt gekennzeichnet waren, wird hier verschwiegen.

Dem Kurator scheint seine Erklärung für diesen Zustand recht plausibel zu sein. Man könne »nicht mit jeder Ausstellung und mit jedem Thema eine Nabelschau des Kolonia­lismus« machen. Sonst stilisiere man die »Afrikaner zu bloßen Opfern«.

Gegenwärtige ethnologische Ausstellungs­konzepte verdeutlichen, wie sich Weißsein und Kolonialismus fortschreiben. Die Ausstellung »Kunst aus Afrika«, die sich selbst als fortschrittlich wahrnimmt, zeigt, wie koloniale Strukturen mit großer Resistenz gegenüber Kritik weiterexistieren. Zwar gibt es zahlreiche Verbesserungen hinsichtlich kolonialer Bilder, welche die neue Ausstellung nicht mehr verwendet – und natürlich kann es als Verbesserung gewertet werden, wenn ausgestellte Gegenstände aus Afrika nicht mehr als »Fetische« bezeichnet werden. Doch vor dem Hintergrund der zahlreichen kritischen Überlegungen, die es in den postkolonialen Debatten um Ethnologie und ethno­logische Ausstellungen gab, erscheint auch diese Ausstellung ignorant.

Die von der Öffentlichkeit akzeptierte Existenz eines ganzen Museums, in dem die Raubgüter des europäischen Kolonialismus unkommentiert ausgestellt werden, zeigt vor allem eines: die Gegenwart der kolonialen Vergangenheit.

Oft folgt auf kritische Anmerkungen der Hinweis, dass es keine anderen Möglichkeiten gebe, und die ratlose Frage, »was man denn noch tun« solle. Neben der Rückgabe der gestohlenen Gegenstände könnte man das tun, wofür sich die Berliner Gruppe aussprach, die die kritische Gegenausstellung konzipierte: das Ethnologische Museum in eines über den Kolonialismus umwandeln.

Literatur:

Cornelia Essner: Berlins Völkerkunde-Museum in der Kolonialära. Anmerkungen zum Verhältnis von Ethnologie und Kolonialismus in Deutschland. In: Berlin in Geschichte und Gegenwart. Jahrbuch des Landesarchivs Berlin 1986.

Edward Said: Representing the Colonized: Anthro­pology’s Interlocutors. In: Critical Inquiry. Vol 15. No. 2, 1989.

Stuart Hall (Hg.): Representation. Cultural representations and signifying practices. London 2003.

bell hooks: Yearning. Race, gender, and cultural politics. Boston 1990.

James Clifford (Hg.): Writing Culture. The poetics and politics of ethnography. Berkeley 1986.