Es geht um Leben oder Tod

Die polnischen Parteien streiten über ein Totalverbot von Abtreibung, Sterbehilfe und Pornographie. Eine gesellschaftliche Debatte findet aber nicht statt. von oliver hinz

Am Ende ist der polnische Ministerpräsident Jaroslaw Kaczynski aus dem ganzen Desaster doch noch einigermaßen gut herausgekommen. Seine Regierung hat im Parlament weiterhin eine Mehrheit. Doch in Ruhe regieren kann der Chef der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) nicht mehr. Der zu Wutausbrüchen neigende Kaczynski hat sich zu viele Feinde im eigenen Lager gemacht. Seine Partei stand wegen des Streits über das Abtreibungsrecht kurz vor der Spaltung. Zudem setzt dem Ministerpräsidenten der Tod einer ehemaligen sozialdemokratischen Ministerin zu.

Die Regierung habe »Blut an ihren Händen«, tönt die rechtsliberale Oppositionspartei Bürgerplattform (PO). Barbara Blida, von 1993 bis 1996 Bauministerin der damaligen linken Regierung, geriet ins Visier der Agentur für Innere Sicherheit (ABW), des Kampfinstruments Kaczynskis gegen die Korruption im Land. Blida, zuletzt Geschäftsführerin einer Immobilienfirma, wurde verdächtigt, in eine große Korruptionsaffäre der schlesischen Kohle­industrie verwickelt zu sein. Am Mittwoch vergangener Woche wurde ihre Wohnung von der ABW durchsucht, dann sollte sie zum Verhör abgeführt werden. Sie bat eine Offizierin, ins Bad gehen zu dürfen. Dort holte sie dem Polizeiprotokoll zufolge aus einem Fach eine Pistole und schoss sich in die Brust. Die Sozialdemokraten zweifeln an, dass es Selbstmord war. Sie vermuten, dass die Ursache des Todesschusses ein Gerangel zwischen Blida und der einzigen Augenzeugin gewesen sein könnte.

Die Regierung hat den obersten Chef der ABW inzwischen suspendiert, solange die interne Untersuchung des Einsatzes läuft. Den Regierungsgegnern reicht das freilich nicht. Blidas Partei, die postkommunistische SLD, fordert den Rücktritt des Geheimdienstministers Zbigniew Wassermann von der PiS. Auch Zbigniew Holda von der Warschauer Helsinki-Stiftung für Menschenrechte meint, die Regierung habe eine falsch verstandene Kriminalpolitik zu ihrem Aushängeschild gemacht: »Die Polen verwechseln oft brutales Vorgehen der Machthaber mit Wirksamkeit.«

Während die rechtspopulistische Koalitionsregierung in diesem Skandal einträchtig auftritt, tobt in der PiS und unter dem Dreiparteienbündnis ein Streit über Abtreibung, Sterbehilfe und Pornographie. In Sachen Abtreibung löste in Polen 1993 eins der strengsten Gesetze Europas das zuvor liberale Recht ab.

Heutzutage dürfen Schwangerschaften nur beendet werden bei Inzest, Vergewaltigung, bei einer irreversiblen schweren Missbildung des Fötus oder Gefahr für das Leben der Mutter. Doch selbst in diesen Fällen verweigern Ärzte manchmal eine legale Abtreibung. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilte deshalb im März den polnischen Staat zu einem Schmerzensgeld von 25 000 Euro an Alicja Tysiac. Im Jahr 2000 hatten polnische Frauenärzte sie zur Geburt ihres dritten Kindes gezwungen, obwohl andere Ärzte ihr vorausgesagt hatten, sie drohe dadurch zu erblinden. Tatsächlich sind ihre Augen seither immer schlechter geworden, und bald wird sie nach der Prognose von Ärzten gar nichts mehr sehen können.

Die rechtsradikale Liga der Polnischen Familien (LPR) propagiert dennoch ein vollständiges Abtreibungsverbot. Der »Lebensschutz« soll bereits bei der Zeugung beginnen und die Verfassung entsprechend ergänzt werden. Auch Parlamentspräsident Marek Jurek von der PiS schloss sich dieser Initiative an. Ministerpräsident Kaczynski und seinem Zwillingsbruder, Staatspräsident Lech Kaczynski, ging das zu weit. Über vier verschiedene Anträge zur Änderung der Verfassung stimmte das Parlament schließlich ab. Alle verfehlten deutlich die erforderliche Zwei-Drittel-Mehrheit. Die Kaczynskis ließen sich von den katholischen Fundamentalisten in die Enge treiben, es entstand der Eindruck, dass die LPR mehr »für das Leben« sei als sie.

Die PiS ist deshalb fast auseinandergebrochen. Jurek trat unter Protest aus der Partei aus. Fünf Abgeordnete der PiS folgten ihm. Gemeinsam gründeten sie die neue, betont christliche Partei »Die Rechte der Republik«. Als seinen bisher größten Misserfolg als Ministerpräsident wertete Jaroslaw Kaczynski den Verlust Jureks, der sein Stellvertreter als Parteivorsitzender war, in einem Interview.

Kaczynski kann die Parteiaustritte verschmerzen. Die neue Partei hat keine Fraktionsstärke im Parlament und die Regierung weiter eine eigene Mehrheit. Und noch besser: Jurek bezeichnete die PiS als »den natürlichen Partner« für seine Partei.

Nach einer Umfrage der Gazeta Wyborcza würde Jureks Partei an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, ebenso wie die LPR. Gerade deshalb versuchen die Ultrarechten, sich von der PiS mit radikalen Gesetzesinitiativen abzusetzen. Die nächste Herausforderung stellt der Antrag der LPR dar, Sterbehilfe zu verbieten. In Polen läuft die Debatte unter dem Stichwort Euthanasie. Die LPR will festschreiben, dass das Leben bis zum »natürlichen Tod« geschützt wird. Mit einem neuen Antrag will sie Sterbehilfe wie Mord bestrafen.

Jurek kämpft stattdessen an einer anderen Front, er will ein Pornographieverbot durchsetzen. Das liberale Nachrichtenmagazin Polityka sieht durch eine entsprechende Gesetzes­initiative selbst erotische Angebote in Polen gefährdet, weil in ihr nicht definiert sei, was Pornographie ist. »Wenn die vorgeschlagene Novelle angenommen wird, kann die heimische Pornobranche einpacken«, schrieb das Blatt. »Aus den Kiosken verschwinden Blätter, die als pornographisch definiert werden, und ihre Einfuhr aus dem Ausland nach Polen wird wie Schmuggel behandelt. Aus der Straßenlandschaft verschwinden die Sexshops und aus dem Fernsehen die erotischen Programme.«

Wenn es um kirchliche Themen geht, wird in Polen so verbittert und ideologisch diskutiert wie in Deutschland sonst nur noch über Kinderkrippen. Die Warschauer Soziologin Jadwiga Staniszkis sieht sich durch den Konflikt über das polnische Abtreibungsrecht darin bestätigt, »dass wir es in Polen mit einer surrealen politischen Situation zu tun haben. Denn Debatten, die in westeuropäischen Ländern vor Jahrzehnten stattgefunden haben, werden bei uns erst jetzt geführt.« Die politische Kultur des Westens sei geprägt worden von grundlegenden Diskussionen über das Verhältnis zwischen dem Naturrecht und den Menschenrechten, die über der Politik stünden. Das große Drama der polnischen Politik sei es, dass dieser grundsätzlich ideologische Streit von politischen Parteien ausgetragen werde. »Im restlichen Europa gab es gesellschaftliche Debatten über diese Themen, während sie in Polen nur von Parteien vorangetrieben werden«, sagt Staniszkis.

Der Versuch von Polens ultrarechten Politikern, aus ihrer Initiative zur Verschärfung des Abtreibungsrechts politisches Kapital zu schlagen, schlug jedenfalls fehl. In den Meinungsumfragen führt weiterhin die rechtsliberale PO vor der PiS. Im Fall von Neuwahlen würden es ansonsten nur noch das neue Bündnis aus Sozialdemokraten und Linksliberalen sowie die populistische Partei Samoobrona (Selbstverteidigung) ins Parlament schaffen.