Rückkehr der Mörder

Für die traumatisierten Überlebenden des Genozids in Ruanda ist es schwer, mit der Vergangenheit abzuschließen. Immer mehr Mörder und Vergewaltiger von damals werden entlassen und kehren in die Dörfer zurück, wo ihre Opfer leben. Unter den rescapés, den Überlebenden, kommt es regelmäßig zu Zusammenbrüchen und Retraumatisierungen. von david schwarz, kigali

»Ich kann bis heute nicht verstehen, wie es da­zu kam. Als der Mann nach neun Jahren aus dem Ge­fängnis entlassen wurde, hatte ich das Gefühl, er ist einer der wenigen, der es mit seiner Ent­schul­digung ernst meinte.« Jean-Pierre Karemera* blickt ins Leere, gerät immer wieder ins Stocken, als er erzählt, wie im November vergangenen Jah­res ein ehemaliger Sträfling den 23jährigen Tutsi Frederic Murasira mit einer Machete tö­tete, vor den Augen zahlreicher Nachbarn. Das Opfer war der Sohn des örtlichen Gacaca-Richters, der eine erneute Klage gegen den Täter wegen der Teilnahme an den Massakern von 1994 vorbereitete.

Das Wort »Gacaca« bezeichnet auf Kinyarwanda traditionelle Schlichtungsinstitutionen, um Streitigkeiten im Dorf durch die Vermittlung eines Ältestenrates beizukommen. Im Jahre 2002 wurden die Gacaca-Gerichte in abgeänderter Form wieder eingeführt, um die Masse der Prozesse gegen die wegen Völkermordes Angeklagten bewältigen zu können. Etwa 12 000 Gerichte dieser Art beschäftigen sich landesweit mit der juristischen Aufarbeitung des Genozids.

Karemera, ein großer, kräftiger Mann mit durchdringendem Blick, der einen kleinen Laden in dem Ort betreibt, wirkt verzweifelt, zerbrechlich. »Eigentlich war unsere Gemeinde ein Vorzeigebeispiel für friedliche Koexistenz, für Versöhnung.« Er arbeitet als Traumaberater im Osten Ruandas, in einer Gemeinde, die nur auf schlaglochübersäten Feldwegen zu erreichen ist.

Morde an Überlebenden und an Zeugen, die vor den örtlichen Gacaca-Prozessen aussagen, sind in Ruanda inzwischen keine Seltenheit mehr. Diesmal allerdings kam es zu einer Rache-aktion der im Dorf lebenden Tutsi – zum ersten Mal überhaupt im Land seit dem Ende des Genozids und des vorausgegangenen Bürgerkriegs.

»Der Junge floh vor dem Mann mit der Machete, versuchte, Schutz in Hütten zu finden, aber die Leute versperrten die Tür«, erzählt er. »Direkt nachdem der Täter den Jungen zerhackt hatte, ist er in die Wälder geflohen.« Die darauffolgenden Ereignisse vermag Karemera nicht vollständig nachzuvollziehen, immer wieder verliert er den Faden und beteuert, dass er in seiner Rolle als Traumaberater, als neutrale Instanz, alles versucht habe, die Menschen zu besänftigen.

Offiziellen Verlautbarungen der ruandischen Regierung zufolge – die sich in diesem Fall mit Veröffentlichungen von Amnesty International decken – kamen kurze Zeit nach dem Mord et­liche Tutsi aus der gleichen Gemeinde zusammen und suchten zuerst nach dem Täter. Zurück blieben nicht nur mehrere ausgebrannte Hütten, sondern auch acht Tote, allesamt unschuldige Hutu. Das älteste Opfer war 70 Jahre, das jüngste sechs Jahre alt. Alle waren mit Macheten und Äxten erschlagen worden.

»An der Realität vorbei«, so charakterisiert Gerd Hankel vom Hamburger Institut für Sozialforschung die Wahrnehmung der meisten Geberländer, welche die Regierung von Paul Kagame sowie die weltweit höchste Frauenquote im Parlament loben, dabei aber die Konflikte zwischen den Bevölkerungsgruppen nicht wahrnehmen. Tatsächlich sind Korruption, ausufernde Gewalt staatlicher Ordnungskräfte oder Straßen­krimi­na­lität im Vergleich zu den meisten anderen afrikanischen Staaten äußerst gering. Ruanda will nach dem Völkermord den Eindruck vermitteln, auf dem Weg in eine bessere Zukunft zu sein. So können ausländische Besucher auf der Strecke vom Flughafen in die Innenstadt Kigalis bepflanz­te Grünstreifen, Springbrunnen, gut ausgebaute Straßen inklusive Bürgersteige, Mülleimer und Straßenschilder bestaunen. Moderne Gebäude beherrschen das Bild der Innenstadt. Straßenkinder und fliegende Händler werden systematisch verjagt, Neubauten schießen dutzendfach empor, während in den Armensiedlungen immer wieder Hütten abgerissen und Menschen vertrieben werden.

Doch selbst in den ärmlichen Vierteln Kigalis ist der Lebensstandard bedeutend höher als in den ländlichen Gebieten. Über 90 Prozent der Ruander leben außerhalb urbaner Siedlungen, und nahezu alle Landbewohner sind von Subsistenzwirtschaft abhängig. Von den üppig in den ruandischen Staatshaushalt fließenden Geldern der mit schlechtem Gewissen behafteten »internatio­nalen Gemeinschaft« sehen die einfachen Bauern praktisch nichts, trotz umfangreicher Dezentra­lisierungskampagnen der Regierung. Interpretiert werden die immer größer werdenden sozialen Unterschiede vom Großteil der Bevölkerung weiterhin nach der Herkunft der jeweiligen Bevölkerungsgruppe. Die gesellschaftliche Bruch­linie verläuft nicht länger kategorisch zwischen der Mehrheit der Hutu und der Minderheit der Tutsi. Während die meisten Hutu die Regierung als Tutsi-Oligarchie wahrnehmen und auch ihre verarmten Tutsi-Nachbarn unter die vermeintliche Elite subsumieren, wird innerhalb der Tutsi-Minderheit der Konflikt immer größer.

Viele Überlebende fühlen sich von den Rückkehrern aus dem Exil alleine gelassen. In der regierungstreuen Zeitung New Times wird ebenso wie im staatlichen Fernsehprogramm tagtäglich an den Genozid erinnert und dem FPR (Front Patriotique Rwandais) als Befreier des Landes gehuldigt, personifiziert in der Person Kagames. Das Pathos des offiziellen Gedenkens entfernt sich jedoch immer mehr von dem Befinden der meisten Überlebenden. Ihnen kommt in der Geschichtsschreibung die Rolle der Kronzeugen für die Grausamkeit der Massaker zu. Die ungeheure Brutalität, mit der einfache Menschen ihre Nachbarn regelrecht abschlachteten, lässt den Nimbus des Befreiers noch heller erstrahlen. Dass die Regierung seit einigen Jahren die Belegschaften der Ministerien und hohen Ämter durch aus dem Exil zurückgekehrte, anglophone Tutsi ersetzt und frankophone Mitarbeiter entlässt, trägt nicht zur Entschärfung der Missstimmung innerhalb der ruandischen Minderheit bei.

Exemplarisch für den Konflikt zwischen den verschiedenen Gruppen steht die Arbeit von Jean-­Pierre Karemera und den zahlreichen anderen Traumaberaterinnen und -beratern, die im ganzen Land unterwegs sind. Sie betreuen Überlebende psychologisch, bereiten die Menschen auf ihre Zeugenaussagen vor und sind während der Gacaca-Prozesse stets anwesend, um bei eventuellen Zusammenbrüchen unmittelbar zu helfen. In den meisten Fällen kommt es bei jungen Menschen, die als Kinder den Genozid miterleben mussten, zu Krisen. »Oft werde ich in Schulen gerufen, wenn jugendliche rescapés aufgrund des Verhaltens und der Drohungen ihrer Mitschüler zusammenbrechen«, erzählt Judith Ruagamba, die in Kigali als Traumaberaterin arbeitet. »Meist werden sie von Gleichaltrigen bedroht, deren Eltern wegen Teilnahme am Genozid im Gefängnis sitzen, auch ich habe das oft erlebt.« Die 26jährige studiert an einer privaten christlichen Universität in Kigali Psychologie und hat vor, ihre Abschlussarbeit über Traumatisierungen von Schülerinnen und Schülern zu schreiben. Sie selbst verlor während des Genozids ihre Eltern und vier Geschwister.

Kurze Zeit nach der Machtübernahme des FPR wurde das »Centre National du Traumatisme« gegründet, das den Überlebenden psychosoziale Unterstützung anbietet. Während bis 1997 ausschließlich ausländische Fachkräfte in diesem Bereich tätig waren, wurden später mehrere hun­dert Ruander in psychosozialer Hilfe ausgebildet. Die Mehrheit der Traumaberater sind Frauen, fast alle sind rescapés.

»Manchmal habe ich das Gefühl, das Verbrechen besteht nicht darin, Tutsi ermordet zu haben, sondern darin, es nicht zu gestehen.« Obwohl Marie-Josée Kagambirwa sichtlich aufgebracht ist, spricht sie mit gedämpfter Stimme, schaut immer wieder aus ihrem Büro in dem Distriktgebäude auf den Gang, denn die Wörter Tutsi und Hutu sind in Ruanda aus dem offiziellen Sprachgebrauch gestrichen, nur bei der Beschreibung des Genozids dürfen die Begriffe noch verwendet werden. Kagambirwa ist Traumabe­raterin, und nebenbei studiert sie, wie viele ihrer Kolleginnen, Psychologie und Soziologie. Seit Ende 2005 leitet sie ein Team von sieben Assistentinnen, die ein Jahr lang von ihr und ihrer britischen Kollegin geschult wurden. Sie wirkt resigniert und wütend zugleich. Vor fünf Jahren entschied sie sich, anderen Überlebenden zu helfen. Sie nimmt dreimal die Woche an Gacaca-Prozessen teil, besucht vorher die Zeugen, führt endlose Gespräche und muss in letzter Zeit immer mehr Überzeugungsarbeit leisten, um die Überlebenden zu Aussagen zu bewegen. »Die rescapés sind von der Gacaca-Justiz enttäuscht. Uns wurde Gerechtigkeit versprochen, stattdessen entlässt der Staat immer mehr Mörder. Wie soll ich meine Klienten dazu bewegen, vor Gericht auszusagen, wenn direkt danach die meisten Gefangenen freikommen?«

Tatsächlich steht die ruandische Regierung vor der großen Herausforderung, die beiden nationalen Ziele, einerseits »Versöhnung«, andererseits »Aufarbeitung des Genozids«, in Einklang zu bringen und sowohl die etwa 300 000 über­lebenden Tutsi als auch die Mehrheit der Hutu, immerhin 85 Prozent der Bevölkerung, halbwegs zufriedenzustellen.

Im Herbst 1994 befanden sich acht Prozent der erwachsenen Ruander im Gefängnis, angeklagt, an den Massakern teilgenommen zu haben. In den folgenden Jahren stieg die Anzahl der Inhaftierten wegen neuer Zeugenaussagen weiter an und ebenso der Druck auf den Staat, die desolate Situation in den Gefängnissen zu entschärfen. In den vergangenen Jahren erließ Kagame immer wieder Amnestien für bestimmte Kategorien von Genozid-Häftlingen. Im Februar wurden 10 000 Gefangene entlassen, seit 2003 sind es insgesamt 60 000 Menschen, die begnadigt wurden. Immer mehr Mörder werden aufgrund der Geständnis- und Vergebungsklausel nach den Prozessen direkt auf freien Fuß gesetzt. Sofern ein Gefangener gesteht und sich bei den Überlebenden der Opfer entschuldigt, wird die Regelstrafe für Mord – 25 bis 30 Jahre Gefängnis – auf sieben bis zwölf Jahre reduziert. Verrechnet mit der bereits im Gefängnis verbrachten Zeit und der darauffolgenden gemeinnützigen Arbeit, bedeutet dies für zahlreiche der ehemaligen génocidaires den direkten Weg in die Freiheit, zurück zu ihren Familien, die in vielen Fällen durch den Verlust des Ernährers in noch größere Armut geraten sind.

Die meisten Überlebenden empfinden die »aus­gestreckte Hand der Regierung« gegenüber den Tätern als neuerliche Verletzung. So erklärte Benoit Kaboyi, Generalsekretär der größten Über­lebenden-Organisation Ibuka, »die meisten rescapés leben heute unter schlechteren sozialen Bedingungen als vor 1994«. Ohne die Möglichkeit, das eigene Dorf zu verlassen, müssen die damaligen Opfer mit den Tätern und den passiven Zuschauern Tür an Tür leben. Im Alltag, vor allem aber bei den Gacaca-Gerichten, sind viele der rescapés dem Spott und unterschwelligen Drohungen der Familien der Täter ausgesetzt. Allein im vorigen Jahr kam es nach Angaben von Human Rights Watch zu etwa 20 Morden an Überlebenden. Drohungen und Diskriminierungen innerhalb der Gemeinden sind alltäglich für die Opfer.

Angesichts der unglaublichen Brutalität des Genozids 1994 und der nach wie vor virulenten Völkermord-Ideologie ist es schwer, als Außenstehender neutral zu bleiben. Mit Sicherheit können auch zahlreiche Hutu von Massakern des FPR, von Folterungen und Vergewaltigungen berichten. Eine genaue Angabe über die vom FPR ermor­deten Zivilisten existiert jedoch nicht, genauso wenig wie die Möglichkeit für die Betroffenen, über derartige Ereignisse zu sprechen. Gegenstand juristischer Aufarbeitung sind die geschätzten 200 000 Toten nie geworden, nach Angaben des FPR sind alle Soldaten, die sich bei dem Vormarsch derartiger Verbrechen schuldig gemacht haben, sofort hingerichtet worden. Obwohl es zu etlichen standrechtlichen Hinrichtungen von FPR-Soldaten gekommen ist, dürfte diese Darstellung stark von den tatsächlichen Geschehnissen abweichen.

Nach der letzten Massenentlassung von Genozid-Häftlingen erlebte Josianne Nsengiyumva in ihrer Gemeinde mehrere Zusammenbrüche von Frauen. Während des Genozids waren die Männer der Gemeinde in der Kirche ermordet worden, nur wenige Kinder überlebten. Die Frauen und Mädchen wurden auf dem Gelände des Rathauses zusammengetrieben und Monate lang vergewaltigt. Die sexualisierte Hetze gegen Tutsi-Frauen und das gezielte Vergewaltigen durch HIV-positive Männer gehört zu den Spezifika des ruandischen Völkermords. Durch den Erlass des Präsidenten kam der Rädelsführer dieser Vergewaltigungen in Freiheit und kehrte in das Dorf zurück. »Ich wurde Tag und Nacht angerufen, viele der Frauen hatten Angstzustände, für viele war die Vergangenheit plötzlich wieder da. Einigen konnte ich nicht helfen, wir mussten sie nach Kigali ins Krankenhaus bringen«, berichtet Nsengiyumva. »Erst aufgrund der Zusammenbrüche haben einige Männer erfahren, dass ihre Ehefrauen damals vergewaltigt wurden. Mindestens vier Männer haben ihre Frauen dann verjagt, obwohl sie selbst rescapés sind.« Im März dieses Jahres begingen alle vier Frauen Selbstmord.

Drei Wochen lang, Tag und Nacht, kümmerte sich Nsengiyumva um die Frauen in ihrer Gemein­de, dann brach sie selbst zusammen. Sie war in den drei Monaten 1994 ebenfalls an diesem Ort eingepfercht gewesen. »Hätte ich nicht die Möglichkeit gehabt, anderen zu helfen, dann wüsste ich nicht, wie ich selbst leben sollte«, sagt sie mit gepresster Stimme.

Immerhin haben die Überlebenden-Organisationen als praktisch einzige im Land die Möglichkeit, leise Kritik an der Regierung zu üben. Zu präsent sind aber noch die Erinnerungen an die Vertreter der Überlebenden-Organisation Ibuka, die 1999 wegen kritischer Äußerungen verhaftet und gefoltert wurden.

In dem autoritär regierten Staat sorgt die umfassende Überwachung für Ruhe in den Dör­fern, vorlaute Journalisten werden inhaftiert oder von Auftragsschlägern zur Raison gebracht. Unbequeme Parteien und Politiker aus den eigenen Reihen wurden in den vergangenen Jahren unter dem Vorwurd, Unruhe zu stiften, zur Flucht gezwungen oder zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.

Angesichts der weit verbreiteten Unzufriedenheit und dem nach wie vor existierenden Ziel, alle Tutsi auszurotten, stellt sich aber die Frage, ob ein Eintreten für Meinungs- und Versammlungsfreiheit in Ruanda derzeit sinnvoll ist. »Solange Kagame an der Regierung ist, wird es ruhig bleiben«, sagt Jean-Pierre Karemera. »Aber sobald ihm etwas passiert, mache ich mich direkt auf den Weg nach Burundi«, schiebt er sofort hinterher. »Ich befürchte leider, die meisten Hutu wollen uns immer noch töten.«

*Alle Namen der Traumaberater von der Redaktion ­geändert