If the Mets can win the World Series …

Die New York Mets könnten zum dritten Mal die World Series im Baseball gewinnen.
Christian Helms hat nachgeschaut, wie das liebenswerte Loser-Team von gestern heutzutage funktioniert.

Die stille Mehrheit, auf die er sich so gern berief, hatte Präsident Richard Nixon längst nicht mehr hinter sich. Am 15. Oktober 1969 zog es Hunderttausende von US-Amerikanern auf die Straße, um friedlich gegen den Krieg in Südostasien zu protestieren. Einen Tag darauf gewannen die New York Mets das fünfte Spiel um die Baseball-Meisterschaft gegen die Baltimore Orioles und sicherten sich damit völlig überraschend erstmals den Titel. Der umjubelte Pitcher Tom Seaver erkannte sofort die Dimension dieses Ereignisses und sprach von einer Zeitenwende. »If the Mets can win the World Series, the United States can get out of Vietnam«, sagte er.

Der Triumph der Mets zählt noch heute zu den größten Überraschungen in der Geschichte der Major League. Er ist eine jener Sportlegenden, die man sich in den USA nur allzu gern erzählt. Von Tellerwäschern zu Baseball-Champions – und das in gerade einmal sieben Jahren.

Als die New York Mets 1962 ihre erste Saison in der Profiliga bestritten, wurden sie allseits belächelt. Nicht, weil das Team keinerlei Tradition vorzuweisen hatte, sondern weil die Mets schlicht und ergreifend unglaublich mies spielten. Nur ein einziges Team hat es in der Geschich­te des amerikanischen Baseballs geschafft, mehr Spiele zu verlieren als die Mets in ihrer ersten Saison. Selbst der eigene Trainer ertrug die völlig untauglichen Darbietungen seiner Schützlinge nur noch mit Galgenhumor. »The only thing worse than a Mets game is a Mets double-header«, das Einzige, was noch schlimmer sei als ein Spiel der Mets, seien zwei Spiele der Mets, urteilte Casey Stengel damals öffentlich. Und trotzdem fand der Verein Anhänger.

Nachdem die Brooklyn Dodgers und die New York Giants die Stadt in Richtung Kalifornien verlassen hatten, waren die Mets plötzlich die einzige Alternative zu den Yankees, die sich ein paar Kilometer weiter nördlich gerade aufmachten, ihren 20. Titel zu gewinnen. Der Club diente damals vor allem alternden Profis als Auffangbecken. Pitcher Billie Loes verglich seinen Club gar mit dem Arbeitsamt: »The Mets is a good thing. They give everybody jobs.« Doch gerade dieser selbstironische Umgang mit den eigenen Leistungen, dieser jämmerliche Gegenentwurf zur Startruppe aus der Bronx, den ­Giants, schien die New Yorker zu faszinieren. Die Mets pflegten konsequent ihr Image als »Loveable Losers« – und ihre Anhängerschaft lebte in der wohligen Gewissheit, niemals einen Titel feiern zu dürfen. Bis 1969, dem Geburtsjahr der »Miracle Mets«.

Ein schwüler Junitag im Jahr 2007: Der Zug der Linie 7 quält sich westwärts durch Queens, Richtung Flushing. In nicht einmal zwei Stunden beginnt das Spiel zwischen den Mets und den Phillies, dennoch befinden sich kaum Baseball-Fans im Wagen. Ein älterer Mann mit orange-blauer Kappe schwitzt auf der Bank gegenüber, ansonsten bestimmen Pendler in neutraler Kleidung das Bild. Zwei von ihnen diskutieren angeregt darüber, ob es nicht langsam angebracht sei, »die Soldaten heim zu holen«. Manche Dinge ändern sich nie.

Endlich taucht das Arthur Ashe Stadium am Horizont auf, jährlich im September Austra­gungs­ort der US-Open und dann Mittelpunkt der Tenniswelt. Auf der anderen Seite der Bahnlinie liegt das Shea Stadium, inmitten einer asphaltgrauen Parkplatzwüste ruht die Heimstätte der Mets in der Abendsonne. In den Sechzigern empfing die einst hochmoderne Multifunktionsarena auch Footballteams oder die Beatles, mittlerweile wird sie einzig zusammengehalten von viel Nostalgie und noch mehr Buntlack.

Die Eintrittspreise sind überraschend moderat, der Drittelliter Bier hingegen ist für happige 7,25 Dollar erhältlich. Auf den riesigen Leuchtreklamen im Rund erfährt der interessierte Besucher sofort, welcher Hersteller sein Produkt gerade »Official Potato Chips of the NY Mets« nennen darf. Noch immer ist das Stadion irritierend leer, auch mitgereiste Schlachtenbummler aus dem nur etwa 80 Meilen entfernten Philadelphia sind nirgends zu sehen. Der große Ansturm erfolgt erst eine gute Viertelstunde vor Spielbeginn, plötzlich füllen sich nicht nur die Ränge, auch an den Hot-Dog-Ständen bilden sich erste Schlangen. Wer an den Wurstbuden deutscher Fußballstadien sozialisiert wurde, bestaunt dabei die fast schon britische Disziplin, mit der die New Yorker nacheinander ganz unaufgeregt ihre Bestellungen aufgeben.

Auf dem Spielfeld greift derweil ein blonder Jüngling zum Mikrofon. In jeder Castingshow wäre er mit dem Hinweis »zu schmierig« aussortiert worden. Als seine Stimme ertönt, erhebt sich das Publikum. »Oh, say can you see by the dawn’s early light?« fragt er voller Pathos, und der Verkauf von Pan Pizza und Peanuts wird augenblicklich ausgesetzt. Zu beschäftigt sind die Menschen in diesen Sekunden, ihre Handflächen auf ihre Herzen zu legen und nachdenklich zu schauen. »And the home of the brave«. Es ist der mit Abstand emotionalste Moment des Abends.

Neben mir tupft ein übergewichtiger Jugendlicher gewissenhaft mit einer Serviette das Fett von seiner Pizza, der Wellness-Gedanke hat die Welt erobert. Mit einer bemerkenswerten Beiläufigkeit beginnt schließlich das Spiel.

Von den neun Spielern, die die Mets im ersten Inning aufs Feld schicken, stammen gerade einmal drei aus den Vereinigten Staaten; die Dominikanische Republik, Kuba, Venezuela und Puerto Rico ergänzen das Line-up, Normalität im Spitzensport. Ein Nebeneffekt ist der folgende: In den Spielpausen taucht der Mets-Spieler José Reyes wiederholt auf der Videowand auf und vermittelt in der »Spanish Academy« Grundkenntnisse seiner Muttersprache.

Die Dramaturgie eines Baseball-Spiels ist gewöhnungsbedürftig. Die deutliche Zuspitzung auf den kurzen Moment, in dem Ball und Schläger sich nähern, die wiederholten »Make it or break it«-Situationen liefern zwar jede Menge Spannungsmomente, der Großteil der dreistündigen Veranstaltung ist aber ermüdender Leerlauf. Im Gegensatz beispielsweise zum Fußball, bei dem der unaufmerksame Zuschauer zumindest theoretisch jederzeit Gefahr läuft, den Schlüsselmoment zu verpassen, über den am nächsten Tag alle reden, bietet dieses seltsame Spiel zuhauf Konstellationen, die zu gedanklichen Auszeiten einladen. Oder eben zum Bummel durch die Imbiss-Peripherie. Am Ende des dritten Inning frage ich mich, ob ich die 7,25 Dollar wohl passend habe.

Die Hausherren unterliegen schließlich mit 2:4. Der letzte Flugball wird lässig von einem Phillies-Spieler gefangen und die Menge strömt stumm in Richtung Parkplatz. Kein Applaus, weder hämisch noch aufrichtig – die Mets sind an diesem Abend nicht »loveable«, sie sind »losers«. Dennoch führen die New York Mets im Spätsommer 2007 ihre Division an – und jeder weiß, dass ein dritter Titelgewinn nach 1969 und 1986 gut möglich ist. Den Charme des chancenlosen Verliererteams von der Ostküste hat man längst abgelegt. Schade eigentlich.