Chemical Ali und seine Helfer

Vor 20 Jahren wurde die irakische Kleinstadt Halabja mit Giftgas angegriffen. Bei der Produktion der chemischen Waffen halfen deutsche Firmen. von jörn schulz

Die Bombenangriffe begannen am frühen Morgen des 16. März 1988. Eine Flotte von Kampfflugzeugen folgte der anderen, wer es konnte, zog sich in Bunker oder selbst gebaute Luftschutzräume zurück. Am Nachmittag bemerkten viele einen ungewöhnlichen Geruch, die meisten verglichen ihn später mit dem von Äpfeln oder Parfüm. Doch sie wussten, dass es sich nur um Giftgas handeln konnte, und versuchten, die Schutzräume abzudichten, und pressten sich feuchte Tücher auf das Gesicht. Als die Überlebenden am Abend die Schutzräume verließen, waren die Straßen von Leichen übersät.

3 200 Tote konnten in der irakischen Kleinstadt Halabja bei späteren Untersuchungen namentlich identifiziert werden, die Gesamtzahl der Opfer des Giftgasangriffs wird auf 5 000 bis 7 000 geschätzt. Fast alle waren Zivilisten. Wahrscheinlich noch mehr Menschen, etwa 10 000, starben an den Spätfolgen der Vergiftung.

Der Angriff war Teil der Anfal-Kampagne des ba’athistischen Regimes gegen die kurdische Bevölkerung und die bewaffneten Widerstandsgruppen der Peshmerga. Sie begann im Frühjahr 1987, in der letzten Phase des iranisch-irakischen Kriegs, und wurde im September 1988 abgeschlossen. Dass nach dem US-Einmarsch keine Massenvernichtungswaffen gefunden wurden, wird häufig als rückwirkender Freispruch für das Regime ausgelegt. Doch bereits 1982 hatte das irakische Militär erstmals Giftgas gegen iranische Truppen eingesetzt. »Das Fehlen einer internationalen Verurteilung ermutigte die irakische Führung, die Benutzung chemischer Waffen auszuweiten«, stellte das schwedische Friedensforschungsinstitut Sipri fest. Während der Anfal-Kampagne wurden mehr als 60 Ortschaften mit chemischen Waffen angegriffen.

Die Patriotische Union Kurdistans (Puk) hatte sich mit dem Iran verbündet, und das Regime Saddam Husseins rechtfertigte die Anfal-Kampagne als Kriegs- und Aufstandsbekämpfungsmaßnahme. Sie diente jedoch der »Arabisierung«, der systematischen Vertreibung und Ermordung im Nordirak lebender Kurden. Die Direktive SF/4008 vom 20. Juni 1987 wies das Militär an, »die größt­mögliche Zahl in den verbotenen Gebieten anwesender Personen zu töten«. Der 1993 von Human Rights Watch veröffentlichten Untersuchung »Genocide in Iraq, The Anfal Campaign Against the Kurds« zufolge wurden »nach der konservativsten Schätzung 50 000, möglicherweise auch doppelt so viele« Zivilisten getötet.

In Camp Cropper, einem US-Gefängnis nahe Bagdad, sind derzeit drei der Hauptverantwort­lichen inhaftiert: Ali Hassan al-Majid (»Chemical Ali«), ein Cousin Saddam Husseins und der Oberkommandierende der Anfal-Kampagne, der damalige Verteidigungsminister Sultan Hashim al-Taie und Hussein Rashid Mohammed, damals Vizekommandant der Armeeoperationen. Alle drei wurden im Juni vergangenen Jahres zum Tode verurteilt.

Jalal Talabani, Vorsitzender der Puk und Präsident des Irak, hatte sich zunächst geweigert, das vom Iraqi High Tribunal verhängte Urteil zu unterzeichnen. Ende Februar bestätigte jedoch der Präsidialrat, dem neben Talabani zwei Vizepräsidenten angehören, die gegen Majid verhängte Todesstrafe, nicht jedoch die Urteile gegen Taie und Rashid Mohammed. Diese Entscheidung will Premierminister Nouri al-Maliki, Generalsekretär der schiitischen Da’wa-Partei, nicht akzeptieren. Alle drei Todesurteile sollten »zusammen vollstreckt« werden, sagte sein Sprecher Ali al-Dabbagh in der vergangenen Woche.

Die Todesurteile sind zum Streitpunkt im politischen Machtkampf geworden. Talabani, eigentlich ein Gegner der Todesstrafe, hat gegen eine Hinrichtung Majids offenbar keine Einwände mehr. Er bezeichnete Taie jedoch als »kompetenten Soldaten«, der mit einer Exekution habe rechnen müssen, wenn er seine Befehle nicht ausgeführt hätte. Der ehemalige General Taie ist Sunnit, seine Hinrichtung würde wohl weniger »die Sunniten« aufbringen als die ehemaligen Ba’athisten, deren Reintegration durch die Verabschiedung des Accountability and Justice Act im Januar vorangetrieben werden sollte.

Ungeachtet der Politisierung der Justiz muss den Irakis zugute gehalten werden, dass sie sich unter schwierigen Bedingungen um eine juristische Aufarbeitung der Anfal-Kampagne und anderer Kriegsverbrechen wenigstens bemühen. In den 20 Jahren seit dem Massenmord in Halabja gab es hingegen keine ernsthaften Bemühungen, die ausländischen Zulieferer des irakischen Chemiewaffenprogramms zu belangen. Ohne Importe hätte das Regime Saddam Husseins keine einzige Giftgasgranate herstellen können.

Die offizielle Position der deutschen Politik zu Halabja wurde 2001 formuliert: »Eine wie auch immer geartete Mitverantwortung der Bundesregierung besteht nicht.« Doch den Angaben zufolge, die gegenüber den UN-Inspektoren gemacht wurden, kamen 52,6 Prozent der Ausrüstung für die Chemiewaffenproduktion aus Deutschland. Deutsche Firmen lieferten auch Chemikalien, Ingenieure halfen beim Bau der Produktionsanlagen. Erste Hinweise darauf gab es bereits 1982. Doch das Außenwirtschaftsgesetz sollte »im Zweifelsfall zugunsten des Freiheitsprinzips« ausgelegt werden. Dies ermöglichte den Export von Dual-use-Gütern, die auch für militärische Zwecke verwendet werden konnten.

Ende Februar beantragten die Grünen immerhin, der Bundestag möge sein »Bedauern« darüber äußern, »dass das C-Waffen-Arsenal Saddam Husseins auch mithilfe der teils widerrechtlichen, teils nach damaliger Gesetzeslage möglichen Lieferungen deutscher Firmen aufgebaut werden konnte«, die Bundesregierung solle die humanitäre Hilfe verstärken. Der Antrag wurde in der vergangenen Woche ohne Debatte in die Ausschüsse verwiesen.