Sündhaft gut

Statt die Haltung aufzugeben, dass Abtreibung eine Sünde ist, wurden die sieben Todsünden kürzlich vom Chef der apostolischen Gerichts, Gianfranco Girotti, modernisiert. Drogenhandel, Umweltverschmutzung, Genmanipulation, Kindesmissbrauch, Profitgier und Luxus sollen jetzt in den traditionellen Sündenkatalog aufgenommen werden. Doch deswegen ist dieser noch lange nicht obsolet. Eine Ehrenrettung der sieben Todsünden. von rudi thiessen

Dass ausgerechnet ein päpstlicher Bischof den Kindesmissbrauch auf die schwarze Liste setzt, ist zwar löblich, doch so veraltet die sieben Todsünden auch klingen mögen, täte der Vatikan etwas Besseres, wenn er darüber aufklären würde, welchen Sinn die alten Sünden eigentlich noch haben. Denn seit es einer Supermarktkette gelang, in einem Satz mit drei Wörtern – »Geiz ist geil« – gleich zwei Todsünden zu feiern, drängt sich die Frage auf, ob dem Katalog der Todsünden nicht doch eine eigentümliche Aktualität und ein gewisser Charme zukommt.

1. Stolz / Eitelkeit / Hochmut

Die Verknüpfungen, mit denen Stolz zumeist auftritt, weisen auf eine Besonderheit aller Eigenschaften und Haltungen hin, die als Todsünden benannt sind: sie oszillieren zwischen Widerwärtigkeit und Lächerlichkeit. Wie man es dreht und wendet, der Nationalstolz bleibt eine lächerliche Haltung, es sei denn, er erfährt eine aggressive Wendung und wird widerwärtig. Auch der Stolz, Absolvent einer bestimmten Universität zu sein, verrät einen schwer wiegenden Mangel an Reflexion. Eine solche würde nicht Stolz, sondern Dank­barkeit erzeugen. Ebenso verhält es sich mit dem Stolz, Spross einer berühmten Familie zu sein, und mit dem Gegenteil, dem umgekehrten Snobismus. Nun mag die christliche Tugend, die dem Stolz, dem Hochmut, entgegengesetzt wird, nicht jedermanns Sache sein, doch ist eine Portion Demut allemal erträglicher als stolzierende Eitelkeit.

2. Habsucht / Habgier / Geiz

Der Geizhals ist eine lächerliche Figur, in seiner tätigen Gestalt als Habgieriger eine widerwärtige. Diese Haltungen unter die Todsünden zu rechnen, weist auf einen quasi antikapitalistischen Geist hin. Nicht umsonst bedurfte es der protestantischen Reformation, damit Reichtum als Zeichen gottgefälligen Lebens gedeutet werden und so der Geist des Kapitalismus mit dem des Christentums versöhnt werden konnte. War das Almosen in vorkapitalistischer Zeit noch selbstverständliche Pflicht eines jeden Christenmenschen, gerät es nun unter Legitimationszwang. Es steht ab sofort im Verdacht, den Empfänger von einem gottgefälligen Leben abzuhalten, das darin besteht, arbeiten zu gehen. Doch ist selbst protestantisches Streben nach Reichtum noch eine Sache, die pure Gier nach Geld und immer mehr Geld, wie sie den Kapitalismus kennzeichnet, eine andere, und ist selbst für den schnödesten Rationalisten nicht mehr mit irgendeiner Ethik zu vermitteln.

3. Wollust

Hier scheint uns ein antiquierter Geist anzuwehen. Doch Vorsicht: »Seid fruchtbar und mehret euch.« Dass damit Lust verbunden ist oder zumindest sein kann, war den Autoren der Bibel nicht fremd. Dass Lust selbst sündig sei, ist eher ein protestantischer, ein puritanischer Gedanke. Im Katalog der Todsünden ist von Wollust die Rede und nur ein protestantisch angehauchter Papst kann damit umstandslos Lust um ihrer selbst willen meinen. Wer unter Schlafstörungen leidet und diese mit nachmitternächtlichem Fernsehkonsum bekämpfen will, erfährt schnell, was unter Wollust zu verstehen sei. Und wer sich über den schwunghaften Handel mit Kinderpornographie informiert hat, weiß, warum das eine Todsünde ist, und wünscht sich, dass diese selbst durch die Bußsakramente nicht vergeben würde.

4. Neid

In verschiedenen deutschen Dialekten tritt dieser in der Verknüpfung mit einem Hammel auf. Damit bewahrt die Sprache ein Wissen, dass Neid weniger lächerlich als vielmehr dämlich ist. Neid und Missgunst sind giftig, sie vergiften das soziale Klima. Zuerst jedoch vergiftet der Neidhammel sich selbst, er verzehrt sich in seinem Neid. Außerstande sich am Glück des anderen zu freuen, bringt er sich selbst um die Teilhabe. Jeder Genuss großer Kunst setzt die neidlose Bewunderung von Talenten voraus, die man selber eben nicht hat. Doch vor allem verstößt der Neid gegen das christliche Liebesgebot. Es hat schon schwer damit zu kämpfen, dass die christliche Kultur – ihre Theologie und Philosophie – zwar das Mitleid als bedeutende Kategorie kennt, nicht jedoch, im Unterschied etwa zu fernöstlichen Erlösungslehren, das Mitgefühl. So ist uns mitleiden viel geläufiger als mitfreuen – ein Gefühl, wofür es im Deutschen schlechterdings kein Substantiv gibt. Umso wichtiger, dass das Gift des Neides sanktioniert wird.

5. Völlerei 

Wer im bedeutendsten Kochbuch der Gegenwart – im Bocuse – nach Rezepten zur Zubereitung von Wild sucht, wird erstaunt feststellen, dass es nur solche für Hasen gibt. Kein Reh, kein Hirsch, überhaupt kein Rot-, Damm- oder Schwarzwild. Die Fressorgien der französischen Aristokratie haben es schon im 17. Jahrhundert auf ihrem Boden zum Verschwinden gebracht. Dies mag ein Bild davon geben, was Völlerei bis in spätmittelalterliche Zeiten und Zustände bedeutet hat. Aber Völlerei als Todsünde so zu begreifen, wäre vermutlich so falsch rationalistisch wie die Reinheitsgebote des Judentums aus Gründen der Hygiene abzuleiten. Grundsätzlich gilt: religiöse Gebote und Verbote erheischen religiöse Begründungen – und nicht ökologische, medizinische oder kulinarische. Hier bleibt also nichts anderes übrig, als einen Begriff, der heute protestantisch konnotiert ist, schon für die spät­antike und mittelalterliche Kirche ins Spiel zu bringen: Askese. Die Hingabe an die reinen Sinnesfreuden steht unter Verdacht und so ist die Sanktion der Völlerei doch in gewisser Hinsicht mit der Wollust verwandt. Aber auch hier gilt die dort aufgerufene Vorsicht. So ist Askese im Interesse protestantischer Sparsamkeit doch etwas anderes als im Dienst spiritueller Kontemplation. Und es ist kein medizinisches, sondern ein geistiges Argument zu sagen, dass Volltrunkenheit ihr nicht zuträglich sei.

6. Zorn / Jähzorn

Selbstverständlich meint die Todsünde nicht den gerechten Zorn Gottes, noch jedwede Form von heiligem Zorn. Der Zorn Gottes ist begründet, der heilige widerspricht nicht der Reflexion, sondern folgt ihr. Jähzorn, das ist blinde Wut und setzt das Ausschalten des Verstandes voraus. Einer Unsitte folgend, wurde über Jahre das planmäßige Ausschalten des Verstandes durch Besaufen als mildernder Umstand in der Strafverfolgung angesehen. Nicht nur in Ostdeutschland profitierten rechtsradikale Schläger davon. Jähzorn, also das Ausschalten des Verstandes, eine Todsünde zu nennen, bekennt sich zum exakten Gegenteil. Dass Gott den Menschen mit Vernunft begabt hat, verpflichtet diesen. Man kann nicht diesen oder jenen erschlagen und hinterher beklagen, man sei halt vom Wahn geschlagen gewesen. Das war schon bei Herakles nicht wahr. Insofern überwindet der Katalog der Todsünden den Mythos, der vom Denken entlastet, und verpflichtet vielmehr – und zwar unbedingt – zur Vernunft.

7. Trägheit

In einer protestantischen Kultur denkt man bei Trägheit als einer Todsünde vor allem an Faulheit. Literarisch gebildet, denkt man an Oblomow. Sozialistisch realistisch bei Lukacs geschult, denkt man an Oblomow als Verkörperung der Unfähigkeit der russischen Aristokratie ein sinnvolles, weil tätiges Leben zu führen. Nun lässt sich schwer­lich behaupten, dass die Trägheit als Todsünde damit gar nichts zu tun habe. Es gibt ein christlich begründetes »Nutze den Tag« – immerhin ist ein jeder ein Geschenk Gottes und sollte schon deshalb nicht vergeudet werden. Und es gibt die Regel des heiligen Benedikt: ora et labora. Und doch verfehlen diese Begründungen den Sinn der Todsünde. Trägheit als Todsünde meint Trägheit des Herzens. In dieser gründet die Unfähigkeit zur Liebe, nicht nur, aber auch zur Nächstenliebe, und damit verlässt man die Gemeinde derer, die als Brüder und Schwestern verbunden sind in der Liebe Christi. Man sollte sich von der antiquiert anmutenden Formulierung nicht täuschen lassen über ihre Substanz. Trägheit des Herzens setzt die Zivilisation aufs Spiel.