Knüppel frei für die Arbeiterpartei

Ende der sechziger Jahre überzog die polnische Regierung das Land mit einer antisemitischen Welle und mit Repressionen. Auch die Protestbewegung im März 1968 bekam sie zu spüren. von karolina wigura, warschau

»Die Studenten haben Recht« und »Wir wollen die Wahrheit«, große Transparente hängen am Eingangstor der Warschauer Universität. Genau wie vor 40 Jahren. Riesige Photos von Demons­tranten bedecken die Wände der Campusgebäude. »Die Zeit der Schande«, unter diesem Titel finden in Polen momentan zahlreiche Veranstaltungen und Aktionen statt, mit denen an den polnischen März 1968 erinnert werden soll. Nur wenige Polen wollen oder können sich an die Zeit der polnischen Jugendbewegung und die antisemitische »Säuberungswelle« des Staats erinnern.

Wie eine aktuelle Umfrage der Tageszeitung Gazeta Wyborcza ergab, wissen 87 Prozent der polnischen Oberschüler und Studenten nicht, was am 8. März 1968 geschah. Manche glaubten sogar, das Datum markiere den Ausbruch des zweiten Weltkriegs oder die Wahl Karol Wojtylas zum Papst. Nur sechs Prozent konnten angeben, dass am 8. März 1968 eine Demonstration von Studenten, Schülern und Arbeitern von Milizangehörigen brutal niedergeknüppelt worden war.

An dem Tag hatten sich um 12 Uhr etwa 1 000 Menschen im Innenhof der Warschauer Universität versammelt. Sie wollten gegen die Propaganda­lügen der Regierung und die Absetzung des Theaterstücks »Die Toten­feier« des Nationaldichters Adam Mickiewicz vom Spielplan des Nationaltheaters protestieren. Zudem kritisierten sie, dass Adam Michnik und Henryk Szlajfer von der Universität verwiesen worden waren, beide waren Teil der Demokratiebewegung und hatten informelle Studentenzirkel organisiert.

Die Demonstranten hatten geplant, ihren Wider­spruch gegen die Zensur- und Relegationsmaßnahmen zu zeigen und danach wieder auseinander zu gehen. Das war aber nicht möglich: 13 Minuten nach Versammlungsbeginn rollten acht Reisebusse mit der Aufschrift »Stadtrundfahrt« in den Innenhof der Universität. Heraus sprangen Mitglieder des Kollektivs »Arbeiteraktiv«, das heißt der Miliz, und der paramilitärischen Organisation Ormo. Sie holten ihre Gummiknüppel heraus und begannen, die Demons­tranten zusammenzuschlagen. Das war der Anfang des polnischen März 1968. An den kommenden Tagen fanden auch in anderen polnischen Städten Demonstrationen statt. An ihnen beteiligten sich jeweils mehrere tausend Menschen. Immer wieder kam es zu Auseinandersetzungen mit der Miliz, die die Menschen erbarmungslos verfolgte. Über 2 700 Menschen wurden verhaftet, ein Viertel davon waren Studenten, die anderen Schüler und junge Arbeiter.

Michnik und Szlajfer wurden zu drei Jahren Haft verurteilt. Ihnen wurde nicht nur ihr studentisches Engagement zum Verhängnis, sondern auch ihre jüdische Herkunft. Bereits nach dem Sechs-Tage-Krieg im Juni 1967 hatte die polnische Regierung auf Empfehlung der Sowjet­union die diplomatischen Beziehungen zu Israel abgebrochen und eine antisemitische Kampagne gestartet. In seiner am 19. Juni 1967 über Fernsehen und Rundfunk übertragenen Rede vor den Delegierten des VI. Gewerkschaftskongresses in Warschau behauptete der Vorsitzende der Arbeiterpartei Wladyslaw Gomulka, die jüdische Bevölkerung Polens bilde eine »fünfte Kolonne« in Polen. Daraufhin begann eine gnadenlose antijüdische »Säuberungsaktion« innerhalb der kommunistischen Partei.

Im März 1968 wurde die judenfeindliche Kam­pagne auf die gesamte Gesellschaft ausgeweitet. Die Regierung beschuldigte die Juden, das nationale Interesse zu verraten, unter anderem wurde ihnen vorgeworfen, Beziehungen zur BRD zu unterhalten. Zynischerweise benutzten die kom­mu­nistischen Propagandisten nicht das Wort »Jude«, um gegen die Menschen zu hetzen, sondern »Zionist«. Ein damals sehr populärer Witz lautete: Ein Sohn fragt seinen Vater: »Vati, wie schreibt man ›Zionismus‹?« Der Vater antwortet: »Ich bin mir nicht sicher, aber vor dem Krieg schieb man das mit einem ›J‹.«

Die Folge der antisemitischen Propaganda war, dass 13 000 Menschen gezwungen wurden oder sich selbst dafür entschieden zu emigrieren. Darunter waren Tausende berühmte Künstler und Wissenschaftler wie beispielsweise der Philo­soph Zygmunt Bauman.

Die meisten Historiker haben keinen Zweifel daran, dass es sich bei den Märzunruhen um einen Konflikt einer ganzen Generation mit der kommunistischen Regierung handelte. Heutzutage erscheint Umfragen und den öffentlichen Debatten zufolge vielen Jugendlichen die Erinnerung an den März 1968 allerdings als unnötig und gar nicht willkommen. Unnötig, da viele der jungen Generation nicht mehr über den Widerstand gegen ein System, das inzwischen untergegangen ist, nachdenken wollen. Sie wurden in einem neuen System erzogen, daher ist es für die meisten viel wichtiger, sich dort zu etablieren. Nicht willkommen ist die Erinnerung an den März 1968, weil diese Zeit inzwischen als Schand­fleck für die polnische Nation angesehen wird. Polen war damals im Westen heftig kritisiert worden – nicht nur wegen der antisemitischen Propaganda, auch weil die polnische Armee der Sowjet­union dabei half, den Prager Frühling niederzuschlagen.

Die Proteste im März 1968 hatten dennoch Auswirkungen auf den Prozess der Demokratisierung. Angehörige dieser Generation gründeten in den siebzigen Jahren verschiedene Oppositionsgruppen und in den achtziger Jahren die Gewerk­schafts­bewegung Solidarnosc. Die Erinnerung an den März 1968 ist auch deshalb verblasst, weil in der Öffentlichkeit die damalige Regierung, im Gegensatz zu der während der Proteste in den Jahren 1956 und 1970, als nicht so aggressiv gilt: Niemand wurde während der Jugendunruhen getötet, dass Tausende Juden unter dieser Regierung emigrieren mussten, gilt offensichtlich als vernachlässigbar.

Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Proteste versprach Staatspräsident Lech Kaczynski nun, allen Menschen jüdischer Abstammung, die in dieser Zeit emigrieren mussten, die Staatsangehörigkeit zurückzugeben. Michal Sobelman, der 1969 das Land verlassen musste, sagte dazu gegenüber der rechtskonservativen Zeitung Rzeczpospolita: »Wir sind aus Polen emigriert, weil das der einzige Ort war, wo wir nicht polnisch sein konnten. Deshalb finde ich diesen Schritt symbolisch wichtig und edelmütig.« Zudem wurde etwa 40 ehemaligen Angehörigen der studentischen Bewegung ein Orden verliehen, einigen wurde diese Ehre allerdings erst nach ihrem Tod zuteil. Weniger versöhnlich war jedoch, dass weder Michnik, der inzwischen als Chefredakteur der linksliberalen Gazeta Wyborcza tätig ist, noch Szlajfer zur Feier eingeladen wurden. Ein Orden wurde ihnen auch nicht angetragen.