Brutalst heavy

Von Uli Krug

Deep Purple werden 40 und sind damit immer noch jünger als die Stones.
Wir gratulieren zum Jubiläum und legen noch mal »Smoke on the Water« auf. Von uli krug

Ein Phänomen hat im April Geburtstag. Deep Purple werden 40. Über hundert Millionen verkaufte Alben und vor allem natürlich »Smoke on the Water«, der Song mit der berühmtesten Akkordfolge der Rockgeschichte, dessen probeweises Abspielen in Gitarrenläden meist ausdrücklich verboten ist – das sind die unüberhörbaren Hinterlassen­schaften einer musikalischen Erfolgsgeschichte ohnegleichen. Natürlich haben die mittlerweile bei lebendigem Leib mumifizierten Rolling Sto­nes noch höhere LP-Stückzahlen abgesetzt, natürlich wurde nach ihnen ein Golf-Modell benannt – eine höchst zweifelhafte Würdigung, die Deep Purple niemals zuteil werden könnte, weil sich der für damalige Ohren infernalische Lärm, mit dem die Band im Juni 1970 die sechziger Jahre radikal und definitiv beerdigte, immer noch nicht für den Dudelfunk eignet. Besonders das lustvoll chaotische Intro zu »Speed King«, dem ersten Track der LP »Deep Purple In Rock«, besitzt nach wie vor den nötigen Abschreckungsfaktor.

Auch die zeitgenössischen Konkurrenten und Mit-Gründerväter des später so genannten Heavy Metal, Black Sabbath und Led Zeppelin, können mit dem Jubilar nicht ganz mithalten: Deep Purple waren erfolgreicher als Black Sabbath und langlebiger als Led Zeppelin, mussten sich nie mit albernen Gothic-Posen ins Rampenlicht setzen und langweilten ein junges Publikum nie mit Blues-Purismen. Der mittlerweile nun alles andere als junge Anhang der Band dankt Deep Purple für die ohrenbetäubende Beschallung seiner Pubertät mit einer Treue und Hingabe, die ihresgleichen sucht. Beeindruckend lässt sich das beispielsweise auf der labyrinthischen Website der »Deep Purple Appre­ciation Society« betrachten (www.deep-purple.net).

Gut, es gab auch acht Deep-Purple-lose Jahre zwischen dem Split 1976 und der Wiedervereinigung 1984. In dieser Zeit klonte Gitarrist Ritchie Blackmore mit seiner Band Rainbow einfach den Sound und das Erfolgsrezept seiner Ex-Band und verhinderte so mögliche Entzugserscheinungen bei den Anhängern. Nach 1993 zog es der Gitarrist zwar offenbar endgültig vor, sich mit einem rasselnden und flötenden Spielmannszug namens Blackmore’s Night und pseudo-mittelalterlicher Folklore lächerlich zu machen, was aber den Rest seiner einstigen Mitstreiter nicht daran hindert, in der nunmehr achten Besetzungsvariante seit 1968 munter weiter zu touren. Und während Blackmore mit dem Stück »Loreley« die unterirdische Titel­musik zur ebenso unterirdischen Pro7-TV-Serie »Die Burg – Prominente im Kettenhemd« lieferte, gaben die anderen rund um Urgestein und Dauer-Drummer Ian Paice am 12. Februar dieses Jahres sogar im Kreml ein Ständchen: zum Gaudium der Chefetage und bezahlt von Putins Erbprinzen und Gazprom-Aufsichtsrat Dimitri Medwedjew. Das macht zwar aus Russlands Mag­naten keine besseren Menschen, stimmt aber wenigstens in einer Hinsicht hoffnungsfroh: Sämt­liche Russland-zuerst-Kampagnen werden kulturell nicht gegen das ebenso britische wie magische Riff: G Bb C – G Bb Db C – G Bb C – Bb G, besser bekannt als das »Smoke on the Water«-Riff, ankommen.

Der britischen Retro-Rock-Zeitschrift Q zufolge soll diese notorische Akkordfolge, die in den Neunzigern den MTV-Comic-Figuren Beavis And Butthead in geschnaubter bzw. geröchelter Form als Erkennungsmelodie diente und 2007 zwecks Erlangung eines Guinness-Rekordes von 1 800 schwäbischen Gitarristen gleichzeitig intoniert wurde, bereits lang vor dem Lied selbst entstanden sein. Unter dem lautmalerischen Arbeitstitel »drrr-drrr-drrr« lag der eigentlich einzige Hard-Rock-Single-Welthit zunächst Monate auf Halde, weil Blackmore fürchtete, dass der Song vielleicht doch zu primitiv ausfallen könnte, und Sänger Ian Gillan noch keine Zeit zum Schreiben eines Textes gefunden hatte – u.a. weil der stimmgewaltige Vokalist 1971 den Part des Jesus für die Aufnahmen des Pop-­Musicals »Jesus Christ Superstar« übernommen hatte.

Stets lieferten die persönlichen Differenzen zwischen dem exaltierten Heavy-Hippie Gillan und dem leicht reizbaren Rocker Blackmore den Stoff fürs Familiendrama im Purple-Musiker­clan. Die persönlichen Animositäten trübten das Verhältnis nachhaltiger als die konkreten musikalischen Differenzen zwischen dem klassisch gebildeten Organisten Jon Lord, der in den Anfangsjahren die Programmatik der Band in Richtung einer Klassik-Rock-Fusion lenken wollte, und Blackmore, der sein für damalige Verhältnisse hemmungslos aggressives Gitarrenspiel in den Mitt-Sechzigern als Begleitmusiker des britischen Schockrockers Screaming Lord Sutch entwickelt hatte. Viele Seiten des großen Rockbuchs wurden seit 1970 mit Klischees über den Sieg des »Proleten« Blackmore über den »Intellektuellen« Lord vollgeschrieben – dabei war es der durchaus humorbegabte Lord selber, der rasch begriff, dass in der stilistischen Dominanz Blackmores das Erfolgsrezept für die Band und damit auch für sein eigenes Bank­konto bestand.

Die wichtigste Deep-Purple-Platte ist »Machine Head«. Das Grundkonzept sah vor, eine Platte zwar ohne Publikum, aber unter akustischen Live-Bedingungen einzuspielen. Zu diesem Zweck mieteten Deep Purple im Dezember 1971 ein altes Casino am Genfer See, in dem zwischen­durch auch ein Konzert von Frank Zappa & The Mothers Of Invention stattfinden sollte. Während des Auftritts Zappas, dem auch das britische Hard-Rock-Quintett lauschte, brach allerdings ein Großfeuer aus. Viele Besucher wurden verletzt, Frank Zappa selbst zog sich eine Beinfraktur zu, und das Casino brannte bis auf die Grundmauern nieder. Für Deep Purple sollte sich diese Beinahe-Katastrophe jedoch als Glücks­fall erweisen. Erstens, weil Gillan nun endlich eine Textidee für das »drrr-drrr-drrr«-Riff hatte, nämlich die berühmte Zeile »Smoke on the Water«, und zweitens, weil man bei der Suche nach einem passenden neuen Aufnahmeort auf das im Winter verlassene Grand-Hotel von Montreux verfiel. Die zum Großstudio umfunk­tionierten kalten, leeren Flure der verwaisten Edelherberge, in der außer der Band nur noch eine stocktaube ältere Dame logierte, gaben den Tracks von »Machine Head« ihren einzigartigen Klang.

Deep Purple hatten damit endgültig bewiesen, dass Rockmusik sich nicht mehr – wie bis 1970 – in Sachen Krach und Aggressivität zurücknehmen musste, um kommerziell erfolgreich zu werden, sondern dass durch das Hör- und Kaufverhalten einer jungen Käuferschicht Krach und Aggressivität selber Erfolgsgaranten geworden waren. Eine neue Käuferschicht, die weder die auf Blues und Folk getunten Hörgewohnheiten der politischen 68er teilte noch den musikalischen wie modischen Harmlosigkeiten der Beat-Ära etwas abgewinnen konnte. Mindestens ebenso wie das Hochtöner-Geheul aus Lords Hammond-Orgel oder der ultraharte Anschlag auf Blackmores Stratocaster ließen die gern im Falsett herausgeschrienen Vokal-Darbietungen Ian Gillans alles Bisherige an kom­merziell orientierter Rock-Musik – Ausnahme: das Gekeife des seelenverwandten Led-Zeppelin-Shouters Robert Plant – mit einem Schlag antiquiert aussehen. Deshalb auch ist wohl »Child In Time« noch ein wenig typischer für Deep Purple als »Speed King« oder »Smoke on the Water«, und das nicht nur wegen der Inbrunst, mit der Gillan ein mehr­minütiges Heul- und Kreischsolo vortrug. Auch nicht wegen der Inbrunst (wobei die Betonung jetzt auf der zweiten Silbe liegt), mit der das Stück auf Partys oder (zu vorgerückter Stunde dann) auf Matratzenlagern funktionierte – und das noch bis tief in die Neunziger. So pflegte mein ehemaliger Neuköllner Nachbar seine geschlechtlichen Aktivitäten stets deutlich vernehmbar mit »Child In Time« einzuleiten.

Nein, ganz abgesehen von seiner offensichtlich aphrodisischen Wirkung markiert der Song auch deutlich die Wasserscheide zwischen dem Rock der Sechziger und dem der Siebziger. Denn der absolut charakteristische, ebenso schlichte wie geniale Dreifach-Akkord, aus dem »Child In Time« besteht, war zunächst ein Kind der Sechziger. Genauer gesagt: eine Single der kalifornischen Hippie-Band It’s A Beautiful Day namens »Bombay Calling«. Deep Purple, die von der Plattenfirma EMI zunächst hauptsächlich in den USA als eine Art Exportversion britischer Psychedelik vermarktet werden sollten (wovon das hübsch anzuhörende, aber relativ belanglose Band-Erstlingswerk »Shades Of Deep Purple« aus dem Frühjahr 1968 deutlich kündet), gaben in den Staaten mehrmals die Vorband von It’s A Beautiful Day und klauten prompt und dreist deren beste Nummer – das aber in einer Art und Weise, dass von Klauen schon wieder kaum mehr die Rede sein kann. Denn es handelt sich zwar eindeutig um dasselbe musikalische Motiv, und dennoch sind »Bombay Calling« und »Child In Time« so verschieden wie nur eben möglich. Während die kalifornischen Acid-Heads ein beschwingtes Instrumental mit Indien-Appeal spielten, schufen die britischen Hard-Rocker daraus ein Mons­trum, das ständig zwischen Sentimentalität und cholerischer Attacke hin und her pendelt und damit schon einmal die emotionale Bandbreite des künftigen Heavy Metal auslotete (eine Genre-typische LP entstand lange Zeit stets mit einer Handvoll Rockern, die eine obligatorische Ballade sangen).

Deep Purple wurden so zum perfekten Ausdruck der Siebziger, eines Musikjahrzehnts, das schon 1968 mit der plötzlichen Massenwirksamkeit zuvor randständiger und avantgardistisch anmutender Klänge begann – höllischen Krach hatten schon ab 1967 heute längst vergessene Pioniere wie Blue Cheer geboten – und in einer großen Ermüdung und der Sehnsucht nach dem ganz Schlichten 1977 mit Disco, Punk und New Wave endete. Als dieses Ende kam, hatten Deep Purple als aktuelle Rockband nach dem Ausstieg Blackmores und dem Herointod seines Nachfolgers 1976 bereits zu existieren aufgehört. Genau zu einem Zeitpunkt, wo überall in der westlichen Welt von Tübingen über Tucson bis Tokio Jugendliche ihre Parkas und Federmäppchen eigenhändig mit Deep-Purple-Logos als Symbol rebellischer Gleichgesinntheit bemalten, war nicht nur das Ende der größ­ten Band der Epoche gekommen, es zeichnete sich auch das Ende dieser Epoche selbst ab. Gerade deshalb aber begann 1984 ein zweites Leben für Deep Purple, das bis heute währt: als lärmendes Denkmal für die unerfüllten Hoffnungen der den 68ern folgenden »Generation Zaungast« (Reinhard Mohr) und Rock-Wanderzirkus der seither nicht mehr abebbenden Retro-Rock-Welle.

Dieses Fortwesen nach dem künstlerischen Exitus passt eigentlich ganz hübsch zu dem rück­wärts gewandten Bandnamen: Als Lord und Blackmore die von ihnen gegründete Band Round­about im April 1968 kurz vor einem Konzert im dänischen Tastrup in Deep Purple umbenannten, hatten sie nicht, wie einige Musikjournalisten sensationslüstern mutmaßten, eine Anspielung auf LSD im Sinn – sondern den Lieblingssong von Blackmores Omi: nämlich den Dreißiger-Jahre Schlager »When the Deep Purple Falls«, der in mehreren Versionen u.a. von Duke Ellington zum Hit avanciert war.

Davon ahnte allerdings ein pubertierender Gymnasiast im Jahre 1975 nichts, als er sich der von einem Freund wärmstens empfohlenen Prozedur unterzog. Dieser Freund drückte dem Gymnasiasten eine goldschimmernde Doppel-LP in die Hand und sagte, der Gymnasiast solle sich mal nachts im dunklen Zimmer leise die vierte Seite anhören und sich dabei Phantasie­wesen vorzustellen versuchen, die solche Töne hervorbrächten. Diese Doppel-LP war Deep Purples ’72er Live-Album »Made In Japan«, das seine knapp 80minütige Gesamtspieldauer mit ganzen sieben Stücken bestreitet, wobei das längste, »Space Truckin’«, die komplette vierte Seite füllt. Der Gymnasiast war ich, und das musikalische Erlebnis war überwältigend. Ich bin heute fest davon überzeugt, dass sich in jener Nacht entschied, dass ich weder einen ver­nünftigen Beruf ergreifen noch ein Mädchen aus meiner Schule heiraten würde. Danke, Deep Purple, danke dafür!