Die präkolumbianischen Zivilisationen als Nationalmythos Mexikos

Unter dem Pflaster liegt der Mythos

Der Bezug auf die präkolumbianischen Zivilisationen gehört zum Nationalmythos Mexikos. Lebenden Indigenas wird häufig Verwaltung nach dem Gewohnheitsrecht zugestanden, sie gelten jedoch als Hindernis bei der Modernisierung.

Masken, Muscheln, Messerchen – wenn auf mexikanischem Boden Kult- und Gebrauchsgegenstän­de der Azteken, Olmeken oder Mayas ausgegraben werden, ist das immer eine Nachricht wert. Werden viele Opfergaben oder neue Ruinenstädte entdeckt, dann wird aus dem Fund schnell ein Staatsakt. Während die jüngst im karibischen Yu­catán endeckte 2 300 Jahre alte Mayastadt »San Diego Buenavista« noch auf offizielle Weihen wartet, wurden im April die Grabbeigaben eines Aztekenherrschers, der einst das Land befehligte, das nun unter dem Asphalt von Mexiko-Stadt liegt, der Öffentlichkeit präsentiert. Und während der mexikanische Präsident Felipe Calderón sich vor den Kameras der Presse stolz so inszenierte, als stünde er in einer Ahnenreihe mit Moctezuma und Co., wachte vor der touristischen Ausgrabungs­stätte des Templo Mayor die hauptstädtische Polizei darüber, dass ja kein indigener Straßenhändler mit seinem Schnitzwerk oder bunten Decken diesen stolzen Moment verdirbt.
Mögen die Regierenden in Bolivien und Venezuela die indigene Bevölkerung gerade als nationales Subjekt entdecken oder erfinden, so ist von einer solchen Politik in Mexiko wenig zu spüren. Doch die rechtskonservative Regierung der Partei der Nationalen Aktion (Pan) ist mit ihren Vorbehalten gegenüber den mindestens 60 verschiedenen in Mexiko lebenden Bevölkerungsgruppen nicht allein. Eine in der Tageszeitung El Universal veröffentlichte Umfrage aus dem vergangenen Jahr ergab, dass über 60 Prozent die »Le­bensweise der Indigenas« als Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes sehen.
Während die präkolumbianischen Hochkulturen als genealogische Vorgänger des mexikanischen Nationalstaats eingemeindet werden, werden lebendige Indigenas eher als lästig wahrgenommen. Der Philosoph Bolívar Echeverría von der Nationalen Autonomen Universität Mexikos (Unam) bezeichnet das als anhaltende »Apartheid«, als eine »noch nicht abgeschlossene Conquista«. Dabei sieht er alle bürgerlichen Regierungen Lateinamerikas historisch in einer Linie mit der Politik der spanischen Krone. Und auch wenn die meisten Staaten öffentlich die Idee einer mestizaje hochhalten, der mal kulturell, mal ethnisch ausgedeuteten Vermischung von spa­nischen Eroberern und Indigenas: »Der Staat akzeptiert den anderen nur in den Grenzen seiner Beherrschung, insofern, dass er aufhört, anders zu sein, sich selbst verleugnet und damit zum Mitbürger wird«, meint Echeverría im Interview mit der Zeitschrift Contrahistorias.

Auch der spezifisch mexikanische nationale Mythos der mestizaje von der »raza de bronze« bleibt bis heute eine wirkmächtige identitäre Ideologie. In den aktuellen Werbespots der Befürworter und Gegner einer Teilprivatisierung des staat­lichen Ölkonzerns Pemex führen beide Seiten männliche Mestizos auf, einen Maurer und ei­nen Taxifahrer, die beide im Namen der Nation sprechen und Fortschritt verheißen, ohne die Zuschauer mit Argumenten zu belästigen. Der Verweis auf den nationalen Mythos soll genügen.
Gerade der Streit um die Zukunft des Öls hat die Bedürfnisse der indigenen Bevölkerung, nach Autonomie, verfassungsrechtlicher Anerkennung oder Mitspracherecht über die Ressourcennutzung, noch weiter in den Hintergrund gedrängt. Auch die oppositionelle Partei der Demokratischen Revolution (PRD), deren Spitzenkandidat Andres Manuel López Obrador sich als »Ver­teidiger des mexikanischen Öls« präsentiert, der gegen die Verkaufspläne der Regierung ist, berück­sichtigt in ihren alternativen Entwicklungsplänen indigene Ansprüche nicht. Gerade das Programm des PRD sieht eine sofortige Ausbeutung der Reserven auf dem Festland vor. Bisher hat man es vermieden, genauer auf die Lage dieser vermuteten Vorkommen einzugehen, doch dass ein guter Teil davon in Chiapas liegt, ist ein offenes Geheimnis.
Während der Streit ums Öl anhält, entstehen im südlichen Mexiko Schnellstraßen, Ferienressorts und Flughäfen für die Bedürfnisse von Touristen und Investoren. Die lokale Bevölkerung wird selten nach ihrer Meinung gefragt. Auch wenn nicht alle betroffenen Gemeinden ausschließlich indigenen Charakters sein mögen, tritt der Staat hier erneut in seiner patriarchalischen Versorger­rolle auf, die er mit einer Verfassungsreform im Jahre 2001, im Zuge des Kon­flikts mit den Zapatisten, vorsorglich noch einmal verbriefte. Aufgabe aller Ebenen der Verwaltung sei es, »die Gleich­heit und Möglichkeiten der Indigenas zu fördern und jedwede diskriminierenden Praxen zu tilgen, Institutionen zu entwickeln und die notwendige Politik festzulegen, um die Einhaltung der Rechte der Indigenen und den integralen Fortschritt ihrer Dörfer und Gemeinden zu garantieren, die gemeinsam mit ihnen entwickelt und umgesetzt werden«. Von einem »gemeinsam« ist abseits der üblichen Praxis, lokale Autoritäten zu kaufen und Oppositionelle einzuschüchtern, jedoch wenig zu spüren. Und das letzte Wort hat ohnehin der Staat.
Vorausgegangen war dieser Reform die Ablehnung des Abkommens von San Andrés, in welchem die EZLN viel deutlicher Selbstbestimmung, die verfassungsrechtliche Anerkennung ihrer normativen Systeme, eine Neuziehung der Landkreisgrenzen und eine Anerkennung des kulturellen Pluralismus gefordert hatte. Doch im 14. Jahr nach ihrem Aufstand sind die Zapatisten in der Defensive. Das Menschenrechtszentrum Fray Bartolomé de las Casas (Frayba) verzeichnete allein im Mai und Juni dieses Jahres neun bewaffnete Einsätze, bei denen Militäreinheiten, Polizeikräfte, Paramilitärs oder Personen in Zivil versuchten, in indigene Gemeinden in Chiapas einzudringen, oder deren Bewohner einschüchterten.
Der jüngste Vorfall ereignete sich am 20. Juni, als 70 Polizisten und 30 Unterstützer in Zivil in die Gemeinde Cruzton eindrangen und den Bewohnern mitteilten, sie seien »eingekreist« und würden »alle zur Hölle fahren«. Organisationen wie Frayba sehen in solchen Aktionen eine Strategie, zapatistische Gemeinden unter dem Vorwand des Drogenhandels direkt anzugreifen oder indirekt Landkonflikte zwischen den Gemeinden anzuheizen. Noch dazu hindere der anhaltende »Krieg auf Sparflamme« gegen die EZLN diese daran, lokale autonome Projekte im Rahmen ihrer »Anderen Kampagne« zu verbreiten, analysiert das Freie Medienzentrum aus Mexiko-Stadt.
Im vergangenen Jahr erreichte die von der Uno verabschiedete Deklaration der Rechte indigener Völker auch Mexiko und sorgte für lebhafte Diskussionen. Da an eine Realisierung der in der Deklaration anerkannten Kontrolle über die natürlichen Ressourcen auf dem Gebiet indigener Gemeinden sowie die Zahlung von Entschädigungen ohnehin niemand so recht glauben wollte, wurde zumindest die Idee in Betracht gezogen, prä­kolumbianische Stätten von den lokalen »Nachfahren« verwalten zu lassen.
Doch Arturo Sanchez von der Nationalen Hoch­schule für Anthropologie und Geschichte (ENAH) wehrt ab. »Nur die wirklichen Top-Ruinen wie Chicheén Itzá, Teotihuacan oder Palenque bringen durch den Verkauf der Eintrittskarten tatsächlich Geld ein, und selbst dort behaupten die staatlichen Betreiber, dass man wegen der Res­tau­rie­rungs­arbeiten meist keine Gewinne erwirtschaften würde«, sagt er und fügt hinzu: »Andererseits ist der Betrieb dieser Stätten auch nicht gerade sonderlich transparent. Es gibt keine offiziellen Zahlen darüber, was tatsächlich verdient wird.«

Die lokale Bevölkerung wird nahe den historischen Monumenten wohl weiterhin Souvenirs ver­kaufen. Sie kann sich jedoch in manchen Regionen an der Pflege ihrer »Traditionen und Gebräuche«, wie es in der Uno-Deklaration heißt, erfreu­en. In 418 der 570 Landkreise des Bundesstaats Oaxaca beispielsweise wird nach den »Usos y Costumbres« (Sitten und Gebräuche), dem Gewohnheitsrecht, regiert. Doch der Provinzverwal­tung geht es weniger um ein Ende der Diskriminierung, die pragmatische Toleranz gegenüber indigenen, aber nicht zwangsläufig sonderlich demokratischen Praktiken soll vielmehr die politische Stabilität sichern.
Ein Beispiel, das die Überaffirmation der Usos y Costumbres seitens der mexikanischen Linken jüngst ad absurdum führte, war die Wahl der Indigena Eufrosina Cruz Mendoza zur Bürgermeis­terin in der Gemeinde Santa María Quiegolani im November vergangenen Jahres. Dumm nur, dass Santa María Quiegolani eine jener 82 Gemeinden ist, in denen nach dort geltendem Ge­wohn­heitsrecht Frauen weder wählen noch gewählt werden dürfen. Nun regiert seit Januar der unterlegene Kandidat, der Dorfschullehrer Eloy Mendoza Martínez, der zwar grundsätzlich der Meinung ist, »dass Frauen mehr Rechte bekommen sollen«, aber dennoch nicht daran denkt, seine Amtszeit vorzeitig zu beenden. Damit bleibt die 66jährige Gloria Rojas Solano aus dem Städtchen Guelatao weiterhin Oaxacas erste und einzige Bürgermeisterin.
Dass der Bezug auf tatsächliche oder vermeint­liche indigene Traditionen auch bereits erkämpfte Fortschritte gefährden kann, wird nur selten reflektiert. Ein dunkler Punkt der präkolumbianischen Geschichte allerdings sorgt immer wieder für Debatten, die sich, wie so oft, weniger an der prekären Situation der indigenen Landbevölkerung oder in die Städte migrierter Indigenas orien­tieren, als sich an einer »historischen Erniedrigung« der Mexikaner entzünden.

Wie »blutrünstig« waren sie wirklich, die »Vor­fah­­ren« der modernen Mexikaner, die Azteken und Maya, die mit Blut die Treppen der Pyramiden einst rot färbten? Ein wahrhaft brisantes Thema für die »nationale Identität, weshalb viele Mexika­ner auch leugnen, dass diese Praktiken existiert haben sollen«, sagt die Anthropologin Yolotl Gon­záles Torres. Doch anstatt als Fachfrau die Jahr­tausende umspannende patriotische Eiferei zu kri­tisieren, relativiert Gonzáles Torres in ihrem zuletzt erschienenen Buch lieber: »Die Syrer töten unzählige Menschen, die nie rituell den Göttern geopfert wurden (…) und die Bewohner der Fidschiinseln waren bemerkenswerte Kannibalen.«