Theodor Lessing zum 75. Todestag

Vieles richtig, vieles unsinnig

Theodor Lessing zum 75. Todestag.

Immer wieder einmal wird behauptet, Theodor Lessing sei nahezu vergessen – zu Unrecht, wie meist hinzugefügt wird. Und doch werden ein paar seiner Texte immer wieder gelesen und zitiert. Der Eindruck der Vergessenheit mag daher rühren, dass der Name Theodor Lessing auch bei denjenigen, die sein Werk kennen, ganz verschiedenartige Bilder aufsteigen lässt. War Lessing Philosoph, Gerichtsreporter, Kulturkritiker, Dichter, Psychologe? Das Sowohl-als-auch schätzt man nicht, man lässt nicht alles gelten, sondern nichts davon. Lessing hat auch nicht ein als solches anerkanntes »Hauptwerk« hinterlassen, sondern mehrere, und die handeln von ganz verschiedenen Dingen.
Der eine preist dementsprechend das Buch »Haarmann, die Geschichte eines Werwolfs«, der andere den »Jüdischen Selbsthass«, ein dritter die autobiografischen Schriften, der vierte glaubt, Lessings großen Geist vor allem in seinen kleinen Stücken zu finden, der fünfte sieht ihn vor allem als Autor des geschichtsphilosophischen Werks »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen«. Kaum jemand wird alles gut finden, was Lessing im Lauf seines Lebens, das vom 8. Februar 1872 bis zum 30. August 1933 dauerte, geschrieben hat. Aber manches ist nicht nur richtig, sondern scharfsinnig, und dies stellt Lessing in einen großen Kontrast zu den meisten seiner Zeitgenossen.
Im Fall des Serienmörders Fritz Haarmann, der in Hannover zwischen 1918 und 1924 mindestens 24 Jungen ermordet hatte, war Lessing Prozessbeobachter für das Prager Tagblatt, bis der Richter, der im Gerichtssaal »keine Psycho­logie« haben wollte und meinte, keine Belehrungen zu brauchen, ihn von den Verhandlungen ausschloss, da ihm Lessings Zeitungsberichte unangenehm waren. Das Gericht wollte möglichst schnell ein Todesurteil und keinesfalls etwas über den Täter wissen oder darüber, wie die Polizei ihn lange Zeit gedeckt hatte.
Nicht nur die »Schlange«, sondern auch der »Sumpf« müssten vor Gericht gestellt werden, forderte dagegen Lessing. Der Sumpf, das war die Gesellschaft. Lessing sah in diesem Fall »die ganze Barbarei unserer Seelenkunde wie unserer Sittenlehre« an den Tag treten. »Die Schlechtgeborenheit und Schlechtgeborgenheit, die falsche Zeugung und falsche Erziehung, die verkehrte Auslese, der Mangel an Gesundheitspflege und an Gemeinschaftsseele, die unsinnige Geistesverwirrung großer Menschenmassen durch Zeitungen, Halbbildung, Partei- und Staatspolitik (die selbst nichts anderes ist, als das organisierte Verbrechen und von Staats wegen das züchtet, was sie von Privat wegen – wenn es herauskommt – bestraft), die Armut, der Schmutz, der Klassenkampf, alles das erzeugt hüben: Wolfsmenschen, und drüben: die intelligenten Schmarotzer. Das Zuchthaus verunzüchtet sie zur Homosexualität.«
Eines der vom Strafsystem hervorgebrachten Übel ist also, dass man dort schwul wird. Hier zeigt sich, wie sich bei Lessing treffende Aussagen mit haarsträubenden mischen können. Seine Ansicht über Zuchthäuser aber wird heute von vielen geteilt: »Nicht aber die Natur schuf die bösartigen Ungeheuer. Der Käfig schuf sie. Der Mensch ist so anfällig und trieb­unsicher geworden, dass man auch den stärksten, kühnsten und klügsten mit leichter Mühe durch ein paar Tage Käfig zu allem Bösen wie allem Irrsinnigen bringen kann. Wir haben es also erreicht. Unsere Irrenhäuser liefern Irrsinn. Unsere Zuchthäuser züchten Verbrecher … «
Solche Erläuterungen wollte man damals nicht hören. Schon die bloße Verbindung von Psychologie und Verbrechensaufklärung brach­­te einen großen Teil der Gesellschaft gegen Lessing auf, und seine Ansichten über Hindenburg, den er für eine Niete – aber eine gefähr­liche – hielt, ließen den völkischen Mob vor Wut schäumen. Lessing wusste, dass die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten noch größeres Unheil vorzubereiten half, und warnte deshalb vor seiner Wahl, 1925, als es noch nicht zu spät gewesen wäre, den Nationalsozialismus zu verhindern, wenn es mehr Leute wie Lessing gegeben hätte. Doch statt einer antifaschistischen Front gab es eine völkische gegen ihn selbst. Hannoveraner Studenten, von denen wahrscheinlich einige später bei der SS gelandet sind, forderten die Vertreibung Lessings und erhielten von der Presse Beifall.
Eines der heute bekanntesten Bücher Lessings ist das über den »jüdischen Selbsthass«. Wer die heutige antisemitische Bewegung studieren will, in der auch jüdische Antisemiten eine Rolle spielen (vor allem im »linken« und akademischen Antisemitismus), sollte es lesen. Die Tatsache, dass es zu allen Zeiten radikale Antisemiten gibt, die selbst Juden sind oder waren, deutet Lessing (von dem, das muss leider erwähnt werden, antisemitische Beschimpfungen gegen einen ihm verhassten Literaturkritiker überliefert sind, was Lessings Buch umso verblüffender macht) so: »Es ist nun eine der tiefsten und sichersten Erkenntnisse der Völkerpsychologie, dass das jüdische Volk unter allen Völkern das erste, ja vielleicht das ein­zige Volk war, welches die Schuld am Weltgeschehen einzig in sich selber gesucht hat. Auf die Frage: ›Warum liebt man uns nicht?‹ antwortet seit alters die jüdische Lehre: ›Weil wir schuldig sind‹. Es hat große jüdische Denker gegeben, die in dieser Formel … und in diesem Erlebnis der Kollektiv-Verschuldung und Kollektiv-Verantwortung des Volkes Israel den ­innersten Kern der jüdischen Lehre erblickten.« Das »3 000jährige hoffnungslose Leiden des jüdischen Volkes« habe nur dadurch ertragen werden können, dass es als eine Absicht des Schicksals gedeutet worden sei: »Wen Gott liebt, den züchtigt er.« Der Glaube, dass Diaspora, Verfolgung und Pogrome eine Strafe seien, enthalte bereits den Ansatz zum Phänomen des »Selbsthasses«.
Hier sieht Lessing den Unterschied zu anderen Völkern, namentlich zu den »glücklichen und siegreichen«: Sie suchen, wenn sie das Unglück trifft, die Quelle nicht bei sich, sondern bei den anderen. »Die Lage des jüdischen Menschen war somit doppelt gefährdet. Einmal, weil er selber auf die Frage: ›Warum liebt man uns nicht?‹ antwortet: ›Weil wir schuldig sind.‹ Sodann aber, weil die anderen Völker auf die Frage: ›Warum ist der Jude unbeliebt?‹ nun gleichfalls antworten konnten: Er sagt es selber. – Er ist schuldig.« Dafür gibt es in unserer Gegenwart zahlreiche Beispiele. Warum sind Leute wie Uri Avnery, Felicia Langer, Ilan Pap­pe oder Norman Finkelstein so populär? Nicht bloß, weil sie Israel hassen, das würde sie über die Masse der Antisemiten nicht hinausheben. Sie sind deshalb international berühmt, weil sie den Antisemiten als Kronzeugen dienen und ihnen die Möglichkeit bieten, sich gegen jede Kritik zu immunisieren: Eine Position, die auch von einigen Juden geteilt wird, könne ja nicht antisemitisch sein, heißt es bzw.: »Einige Juden sagen es ja selbst.«
Das Phänomen des jüdischen Antisemitis­mus erkannt, benannt, gedeutet und anhand von Beispielen belegt zu haben, ist eines der Verdienste Theodor Lessings. Vor 75 Jahren, am 30. August 1933, wurde er in einer Villa im tschechischen Marienbad, wohin er nach Hitlers Machtantritt geflohen war, von sudetendeutschen Nazis mit Revolverschüssen ermordet.