Interview mit Sascha Lobo über eine neue Form der 140-Zeichen-Kommunikation

»Man sollte die Einblickstiefe festlegen«

Von Ivo Bozic

Der SPD-Generalsekretär Hubertus Heil hatte über seine Reise zur Convention der Demokraten in Denver, USA, getwittert. Auch Barack Obama twittert. Beim Twittern (englisch für Zwitschern) geht es darum, vom Computer oder Handy aus in ­jeweils maximal 140 Zeichen der Internetgemeinde etwas mitzuteilen. Sascha Lobo ist Mitarbeiter der Zentralen Intelligenz-Agentur und Betreiber des erfolgreichen Blogs Riesenmaschine. Mit Holm Friebe zusammen gab er das Buch »Wir nennen es Arbeit« über die »digitale Boheme« heraus.

Obama twittert, Hubertus Heil twittert. Was zum Henker ist Twittern? Kannst du das bitte mal in 140 Zeichen erklären?
Twittern ist eine Art SMS an alle im Internet. Gleichzeitig funktioniert Twitter als Privatnachrichten-Ticker und privater Nachrichtenticker.
Seit wann twitterst du?
Ich habe im Mai 2007 angefangen, und zwar drei Wochen lang ungefähr, dann bis November 2007 aber vollständig aufgehört, und dann mit totalem Karacho wieder angefangen.
Klingt nach Sucht.
Definitiv. Obwohl ich es nicht als Sucht bezeichnen würde, sich mit anderen Menschen unterhalten zu wollen. Ich halte es für eine ganz normale Kom­munikationsform, die es bisher nicht gab und die manche Leute jetzt intensiv benutzen, weil sie sie brauchen, so wie SMS.
Über welche Themen twittern Leute denn so üblicherweise?
Über so ziemlich alles. Es ist aber immer nahe dran an der zentralen Frage bei Twitter, nämlich »What are you doing?«, also an dem, was man gerade tut. Die meisten Tweets beziehen sich ganz konkret auf momentane Handlungen, es gibt aber auch philosophische, anekdotische, wortspielende und natürlich nachfragende und dialogische Tweets.
Und warum twittert man? Warum twitterst du? Was ist die Motivation, allen eine SMS zu schicken?
Im Internet fehlt ein ganz wesentlicher Teil der Kommunikation zwischen Menschen. Du kannst die Gestik und Mimik der Leute nicht sehen, du siehst nicht, wie sie drauf sind. Man muss also ganz viele Dinge, die man im direkten Austausch sofort wahrnimmt, ob jemand müde oder traurig ist etwa, irgendwie im Netz abbilden, wenn man eine vollständige Kommunikation haben will. Das geht mit Twitter ganz hervorragend.
Ein Aphorismus sagt häufig mehr als eine lange Geschichte. Ist das die dem Twittern zugrunde liegende Idee?
Ich glaube nicht, dass der Spruch stimmt, es kann aber trotzdem sein, dass er auf Twitter zutrifft. Man kann mit dem Twittern die Kommunikation keinesfalls erschlagen. Ich habe mal gesagt: Bloggen macht die Welt besser, Twitter macht sie nur schneller. Aber ich würde das inzwischen modifizieren: Auch Twittern kann die Welt verbessern, weil die Kommunikation geschmeidiger gemacht wird. Letztlich ist Twitter aber ein Ergänzungsmedium zu anderen Medien.
Meist sind es aber Banalitäten, die getwittert werden.
Genau. Wie im richtigen Leben auch. Wenn du dir Spiegel online anguckst, als Vorzeigemedium im Internet, dann sind 90 Prozent der Inhalte totaler Quark, total uninteressant, und zehn Prozent rele­vant und gut. Genauso ist es bei Twitter auch.
Du hast eben vom Privatnachrichten-Ticker gesprochen. Handelt es sich um Nachrichten, in denen die Welt erfährt, wann ich ein Bier trinken gehe?
Ja, und zwar genau die Welt, die es interessiert. Ich veröffentliche ja nicht für alle, sondern für meine followers, also bestimmte Menschen, die entschieden haben, dass sie mir kommunikatorisch so nah sein wollen. Es ist wie auf der Straße, wo du auch mit deinem Aussehen, deiner Kleidung, deiner Frisur präsent bist, da bist du auch öffentlich. Und so trägt man in der digitalen Welt all das nach außen, was man als zu seiner Person zugehörig definiert. Es ist völlig klar, dass man nicht alles veröffentlichen sollte.
Aber es geht schon um Exhibitionismus?
Es geht um Selbstdarstellung, aber darum geht es in fast allen Lebensbereichen. Bei der Auswahl der Kleidung, die man trägt, geht es auch um Selbstdarstellung, da würde auch niemand sagen, Kleidung zu tragen, ist exhibitionistisch – eher im Gegenteil.
Jetzt twittert auch Hubertus Heil. Ist Twittern als Instrument des Wahlkampfs eine Perversion der Idee?
Überhaupt nicht. Ich selbst habe es Hubertus Heil vorgestellt. Ich bin im Online-Beirat der SPD, und da habe ich im Frühjahr einen Vortrag unter anderem über Twitter gehalten. Hubertus Heil fand das interessant und hat sich dann entschieden, das auch zu machen.
Wozu ist es gut, dass er twittert?
Weil es keinen direkteren und gleichzeitig öffentlichen Kontakt gibt zwischen einer Person und vielen anderen – von der Geschwindigkeit und von der Subjektivität her. Wenn man sich anschaut, wie die Menschen, die Twitter benutzen, mit Hubertus Heil kommunizieren, dann merkt man, dass es ganz offensichtlich einen Bedarf gibt, mit Politikern zu kommunizieren, der über einen organisierten Chat einmal im Jahr hinausgeht.
Und worin besteht der Fortschritt, dass sich die Menschen mit Hubertus Heil über alles Mögliche unterhalten können?
Sie tun das ja nur unter anderem. Twittern ist nicht immer relevant, es ist eine subjektive Geschichte. Man sieht, wie jemand anderes die Welt sieht. Man bekommt einen Eindruck in den Alltag von jemandem, der bisher nur geschliffene politische Kommunikation betrieben hat. Diese um eine persönliche Komponente zu erweitern, halte ich für einen großen Fortschritt. Ich glaube, dass für Politiker, die dieses Medium beherrschen – und das tut Hubertus Heil übrigens besser als Obama –, Twittern ein wichtiges Instrument sein kann.
Müssen die Leute, die mit dir persönlich zu tun haben, jederzeit damit rechnen, dass alle ihre Peinlichkeiten des Alltags per Twitter geoutet werden?
Nein, überhaupt nicht. Ich überlege mir sehr ­genau, was ich in Twitter reinschreibe und was nicht. Aber das, was du ansprichst, ging auch schon vorher. Man kann schon lange Fotos mit dem Handy machen, und mit einem Knopfdruck sind sie veröffentlicht. Und das kann ja viel schlimmer sein als 140 Zeichen über irgend­eine Peinlichkeit. Mit dem Bloggen ist es genauso, die Veröffentlichungsmöglichkeiten gibt es längst.
Hubertus Heil hat z.B. getwittert, dass sich ein Abgeordneten-Kollege bei der Dienstreise nach Denver ein Skateboard gekauft habe. Wird da nicht das Persönlichkeitsrecht des Kollegen verletzt?
Es ist natürlich interessant, wenn das ausgerechnet ein Journalist fragt. Ich denke, zum einen sind beide Persönlichkeiten des öffentlichen Interesses, zum zweiten handelt es sich in diesem speziellen Fall sicher nicht um eine Aktion, die dramatischen Schaden hinterlässt. Außerdem nehme ich an, dass Hubertus Heil seinen Kollegen über seine Twitter-Aktion informiert haben wird. Insgesamt geht es doch darum, welchen Einblick man in sein Privatleben gewähren möchte. Da ist es sehr wichtig, dass jeder für sich die Einblicks­tiefe in sein Leben, die er digital veröffentlicht sehen will, festlegt, und dass sich auch andere, wenn möglich, danach richten.
Insgesamt könnte man sagen, die Einblickstiefe wird allgemein größer. Manche meinen, was der Überwachungsstaat nicht schafft, schaffen die Bürger selbst: die totale Offenlegung der Privatsphäre, der gläserne Mensch.
Das ist natürlich grauenhaft kulturpessimistischer Quark. Es ist doch ein gigantischer Unterschied, ob ich selbst entscheide, was ich von mir veröffentliche, oder ob andere darüber entscheiden. Es ist richtig, dass es mehr Sensibilität in der Öffentlichkeit bedarf bei der Frage, was ich veröffentlichen kann und was nicht, es muss mehr Knowhow geschaffen werden. Es geht genau um die Entscheidung des Einzelnen.
Und dass sich die Privatsphäre auflöst, siehst du nicht so?
Nein, du entscheidest ja nicht, wie groß meine Privatsphäre ist, das entscheide ich ganz allein. Und wenn ich will, dass für mich keine Privat­sphäre existiert, kann ich das so entscheiden. Das konnte ich schon immer tun. Ich konnte mich schon immer komplett offenlegen. Ich konnte nackt auf der Straße tanzen und Fotos von mir an den Baum heften. Das Wichtigste ist, dass ich weiß, was ich tue, und dass ich es selbst bestimme, denn Privatsphäre ist für jeden Menschen etwas anderes. Man muss eben heute seine Privatsphäre mit viel Knowhow gestalten. Statt darüber zu lamentieren, sollte man eher ein Schulfach Online-Erziehung fordern. Kulturpessimismus bringt uns nicht weiter. Die Fähigkeit, dass jeder Mensch publizieren kann, hat eine sehr positive Wirkung auf die Gesellschaft, das ist auch eine alte linke Forderung.
Hat Twitter denn Zukunft, oder wird es schon bald von der nächsten Kommunikationsform abgelöst?
Also die Firma Twitter ist im Moment ganz obenauf, es gibt aber auch schon Hunderte Konkurrenten. Es baut sich bereits so eine Art open­source-basiertes Paralleltwitter auf namens »identi.ca«, das dem Nutzer mehr Kontrolle einräumt. Auf jeden Fall ist das eine Kommunika­tionsform mit beachtlichem Potenzial, denn da trifft der Instant Messenger die Social Community, und das ist ein Modell mit Zukunft.