Wir sind die Moslems von morgen

Eine neue Generation islamistischer Eliten entsteht, ihre Angehörigen sind keine sozial Unterprivilegierten, selbstbewusst kämpfen sie für eine ganzheitliche islamische Ordnung.

Der Auszug

»Diese Muslime hier sind der Beweis dafür, dass Islam und Demokratie miteinander in Einklang zu bringen sind«, erklärte die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Marieluise Beck, Ende Juni dieses Jahres der Presse. Sie hatte die Medien eingeladen, mit ihr gemeinsam den kleinen Moscheeverein Hicret in Berlin-Wedding zu besuchen. Fast eine Stunde lang besichtigte Beck, begleitet von Beratern und Journalisten, die Räume dieser Ende 1999 hauptsächlich von türkischen und arabischen Muslimen gegründeten Gemeinde.

Geduldig beantworten Hasan Ü. und Cemal K. vom Vereinsvorstand die zahlreichen Fragen der grünen Politikerin: »Was bedeutet Hicret?« »Auszug/Flucht des Propheten Mohammed von Mekka nach Medina und damit den Beginn der islamischen Zeitrechnung.« »Wo beten die Frauen?« »Im Untergeschoss, im zweiten Gebetsraum.« (Einem kleinen, dunklen Raum gleich neben der Küche). »Lernen die Mädchen und Jungen getrennt in den Hinterzimmern, die als Koranschule dienen?« »Ja, das ist besser, damit sie sich nicht gegenseitig ablenken.«

Fast jeder Antwort der beiden Muslime schiebt Beck einen Kommentar hinterher, damit die Journalisten die Antworten auch richtig verstehen. So erscheinen ihr die schmucklosen und dunklen Hinterzimmer der Koranschule als Zeichen für die mangelnde staatliche Unterstützung der Muslime. Die Verbannung der Mädchen in den Keller ist für Beck eine Erscheinung, die sich mit der Zeit »normalisieren« werde. Schließlich sei sie selbst auf einer christlichen Mädchenschule erzogen worden, während sich ihre Töchter eine nach Geschlechtern getrennte Erziehung nicht vorstellen könnten.

»Wir haben aber ein anderes Verständnis vom Verhältnis zwischen Mann und Frau«, hebt Hasan Ü. freundlich zur Widerrede an, lässt diesen Worten aber keine weitere Erklärung folgen. Denn inzwischen haben er und sein Vorstandskollege begriffen, dass sie nur als Staffage einer gut gemeinten PR-Aktion der Ausländerbeauftragten dienen. Zu sehr ist die grüne Politikerin damit beschäftigt, die »negative Darstellung des Islam« in deutschen Medien am lebenden Objekt zu korrigieren. Gerade wieder ärgert sie sich über die reißerischen Schlagzeilen einiger Zeitungen, in denen über ein geplantes Schulungszentrum der radikal-islamistischen Hisbollah in Berlin spekuliert wird.

Mit solchen Meldungen würden die Ängste, die seit dem 11. September 2001 in der Bevölkerung existierten, geschürt. Dagegen setzt sie auf »eine positive öffentliche Wahrnehmung von Zuwanderern und ihren Religionen«. Daher regt sie in der Hicret-Moschee die Einrichtung eines »Rates der Religionen« auf Bundesebene an, »um Offenheit und Transparenz zu schaffen«.

Was Hasan Ü. und Cemal K. davon halten, interessiert nicht. Die beiden haben es aufgegeben, sich gegen die Opferrolle zu wehren, in die sie Marieluise Beck permanent drängt. Eigentlich sind sie selbstbewusst und stolz darauf, was sie mit ihrer kleinen Gemeinde geschafft haben. Sie wollen nicht bedauert werden, sondern würden gern über ihre Ansichten zum Islam und zum Leben der Muslime in Deutschland sprechen, wenn man sie nur ausreden ließe. Beck hätte so bestätigt bekommen, dass sich Muslime in dieser Gesellschaft ausgegrenzt und diskriminiert fühlen. Sie hätte aber auch erfahren, welche Schlussfolgerungen manche Muslime daraus gezogen haben.

»Wir werden in Deutschland nie zu Menschen erster Klasse, wenn wir nicht bereit sind, uns total zu assimilieren«, erklärt Hasan Ü., als Beck und ihr Gefolge gegangen sind. »Wir brauchen für die Muslime in Deutschland ein System wie für die Christen und Juden im Osmanischen Reich. Es muss in Deutschland für die Muslime eine eigene Rechtsordnung geben«, meint Hasan Ü. Er spielt auf das Millet-System im Osmanischen Reich an, nach dem die Christen und Juden eine so genannte Kopfsteuer zahlen mussten und als Schutzbefohlene den Muslimen nicht gleichgestellt waren, aber innerhalb ihrer religiösen Gemeinschaften eine gewisse Autonomie besaßen, insbesondere in familienrechtlichen Angelegenheiten.

Am 5. Juni 2002 erschien in der türkisch-islamischen Zeitung Zaman ein Interview mit dem damaligen Vorsitzenden der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (1), Mehmet Sabri Erbakan. In diesem Interview, meint Hasan Ü., habe Erbakan endlich wieder etwas Vernünftiges gesagt: »Wir brauchen eine Parallelgesellschaft.« Hasan Ü. will ein Millet-System mit umgekehrten Vorzeichen: islamische Inseln, in denen das gesamte Leben auf der Grundlage der Religion von den Muslimen und für sie gestaltet wird. Der Name seiner Moscheegemeinde scheint also nicht zufällig gewählt - als Auszug oder Flucht aus der Mehrheitsgesellschaft und als Rückzug auf die eigene Insel.

Für die Demokratie ist auf diesen Inseln kein Platz. Als dekadent erscheint Hasan Ü. die Souveränität, die vom Volk abgegeben wurde in die Hände von Politikern und Kapitalisten. »Warum sollen wir ein schlechteres Modell übernehmen«, fragt er selbstbewusst, »wenn der Islam das bessere System ist? Die Souveränität liegt allein bei Allah und er hat sie auf alle Muslime verteilt.« Für jüngere Muslime wie Hasan Ü. ist es nun endlich an der Zeit, dass eine neue Generation von intellektuell befähigten Führungskadern die Leitung der islamistischen Vereine und Verbände übernimmt, um diese Vorstellungen in Deutschland zu verwirklichen.

Ganzheitliches System

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 veränderte sich auch in Deutschland die Diskussion über den Islam und die Muslime. Die mutmaßlichen Attentäter mit Hochschulbildung um Mohammed Atta sollen, so wurde berichtet, einer liberal-religiösen Mittelschicht entstammen. Die Diskussion über ihre »plötzliche Wandlung« zu religiös motivierten Terroristen lenkte auch hier den Blick weg vom sozial unterprivilegierten, orthodoxen Migrantenpatriarchen und seiner Familie hin zu den Muslimen an den Hochschulen. Die zu Recht umstrittene Rasterfahndung nach so genannten Schläfern war jedoch kein geeignetes Mittel für eine differenzierte Auseinandersetzung. Vertreter antirassistischer Initiativen, religiöser Organisationen und migrantischer Verbände wurden deshalb auch nicht müde, darauf hinzuweisen, dass der Islam eine friedliche Religion sei.

Die pauschale Identifikation von Islam und Terrorismus führt aber ebenso in eine Sackgasse wie die pauschale Zurückweisung dieser Gleichsetzung. So wird der Blick von der eigentlich zu führenden Diskussion abgelenkt. Der Islamismus bzw. der politische Islam ist eine Ideologie, die für eine Gesellschaftsordnung kämpft, deren politische, wirtschaftliche, soziale, religiöse und kulturelle Grundlage der Islam bildet. Diese Gesellschaftsideologie wird von ihren Anhängern als Gegenentwurf zu den beiden großen Weltideologien Kapitalismus/parlamentarische Demokratie und Sozialismus/Kommunismus verstanden. Für ihr Gesellschaftskonzept berufen sich die Apologeten auf den ganzheitlichen Anspruch des Islam, den Tauhid-Gedanken. (2)

Zwar reagierte die überwiegende Mehrheit der Muslime entsetzt auf die Attentate vom 11. September und lehnte deren religiöse Legitimation als »islamischer Jihad gegen Amerika und den Westen« ab. Nicht wenige aber gehen mit den dahinter stehenden Grundansichten des Islamismus konform, auch wenn sie die gewalttätigen Mittel zur Durchsetzung zurückweisen.

Vor allem in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre finden sich immer mehr Anhänger dieser Ideologie an den Universitäten in Europa. Eine neue, intellektuell geschulte Generation entsteht, die offen und keinesfalls als »Schläfer« getarnt, gemäß ihrer Überzeugung lebt und ihre radikalen Ziele in der Community propagiert. Sie verstehen sich selbst als Angehörige einer Elite, der die Zukunft gehört, denn nach dem Niedergang des Sozialismus ist nun das islamische Gesellschaftsmodell die einzige verbliebene Alternative zum als dekadent und im Untergang begriffenen Weltimperialismus unter der Führung der USA.

Ein eifriger Vertreter dieser neuen Elite ist der 24jährige Maschinenbaustudent an der Ruhr-Universität in Bochum, Ramis Örlü. Der deutsche Staatsbürger türkischer Herkunft gehört zu den Organisatoren des Freitagsgebets an der Bochumer Universität. Im Frühjahr 2001 begann er, unter den rund tausend muslimischen Studenten Gleichgesinnte um sich zu scharen. »Es gibt zwar etliche Moschee-Vereine«, beschreibt Örlü im Internet-Forum dieser muslimischen Studenten seine Entwicklung, »doch sind an solchen Orten immer bestimmte Ansichten und hierarchische Strukturen durchgesetzt worden, sodass einer mit anderen Ansichten, also ein Neuer, nicht immer Fuß fassen kann.«

Örlü, der nach eigenen Aussagen aus einem von Milli Görüs geprägten Elternhaus stammt und selbst im Raum Bochum für die seit 30 Jahren in Deutschland etablierte Organisation tätig ist, wurde an der Universität von »Brüdern, die den Islam zu ihrem Leben machten«, aufgenommen. »Ich stellte fest«, erzählt er, »dass meine Aqida (Glaubensüberzeugung; C.D) ein Luftschloss war und ich keinen Sturm überstehen könnte. Obwohl ich schon seit Anbeginn meiner Jugend gebetet habe und in einem religiösen Umfeld war, gab mir dies alles nichts im Gegensatz zu ein, zwei Treffen mit diesen Brüdern.« Aus ihm wurde ein in seinem Glauben gefestigter und kompromissloser Verfechter des islamischen Kalifats. »Ich will keine Monarchie, keine Diktatur, keine Demokratie, keinen Gottesstaat, sondern einen Staat, in dem der Kalif vom Volk gewählt wird und die Gesetze gemäß der Sharia erlässt. Ich will dies und nicht die pseudo-islamischen Staaten Iran, Saudi-Arabien, oder die Kufr-Staaten (Staaten des Unglaubens; C.D.) Türkei oder Syrien.«

»Gegen Vorurteile und Pauschalverdächtigungen«, schrieb das Wissenschaftsmagazin Transfer Anfang dieses Jahres über Ramis Örlü, »setzen der 24jährige und andere muslimische Studierende auf Aufklärung. Sie möchten ihren Teil zum guten Miteinander der Kulturen und Religionen in Deutschland beitragen. Konkret geplant sind Vorträge und Veranstaltungen zum trotz aller medialen Berichterstattung noch weithin unbekannten Thema Islam.« (3)

Zur Fundierung dieses »noch weithin unbekannten Islam« des Ramis Örlü trug auch das bereits in zweiter Auflage erschienene Buch »Al-Aqida« des syrischen Muslimbruders Amir Zaidan bei. (4) Es gilt als Renner in der islamischen Szene Deutschlands. Zaidan, der mit seinem in mehreren Städten vertretenen Islamologischen Institut e.V. um die theologische Interpretationshoheit in Deutschland ringt, wurde im Juli 2000 als Verfasser der so genannten Kamel-Fatwa bekannt.

Als damaliger Vorsitzender der Islamischen Religionsgemeinschaft Hessen hatte er in einem religiösen Rechtsgutachten (Fatwa) erklärt, dass »eine mehrtägige Reise mit Übernachtung außerhalb der elterlichen/ehelichen Wohnung für muslimische Frauen ohne Begleitung eines Mahram (enger männlicher Verwandter; C.D.) nicht erlaubt ist und gegen islamische Regeln verstößt«. Ohne Begleitung dürften sich Frauen höchstens 81 Kilometer von der elterlichen bzw. ehelichen Wohnung entfernen. Wie der Islamexperte Ahmet Senyurt herausfand, entspricht diese Entfernung der Strecke, die »eine Kamel-Karawane zu Zeiten des Propheten innerhalb von 24 Stunden zurücklegen konnte«.

Eindeutig formuliert Amir Zaidan in seinem Buch, was er unter Erzsünden versteht. Dazu gehörten für Männer das Tragen von Seide und Gold. Auch Kleidungs- und Essensvorschriften seien strikt zu befolgen. Schon kleine Abweichungen in diesen Punkten bedeuten den Beginn einer Aushöhlung des Islam und den Einfall des Säkularismus in diese ganzheitliche Religion. (5)

Gemäß einer Studie des Zentralinstituts Islam-Archiv in Soest hält knapp die Hälfte der hier lebenden Muslime das (säkulare) deutsche Grundgesetz, das ja auch die Menschenrechte inkorporiert hat, für unvereinbar mit dem Koran, berichtete die Islamkennerin Ursula Spuler-Stegemann im Februar 2002. (6) Aktivisten der jungen islamischen Elite wehren sich folglich vehement gegen die Übernahme von Begriffen wie Integration, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte oder Demokratie in den islamischen Wortschatz, da diese nach ihrem Weltbild nicht dem Islam, sondern den »materiellen Weltanschauungen« entstammten.

Im Namen einer »nicht minderen Gruppe muslimischer Jugendlicher« warf Örlü Ende November 2001 in einem offenen Brief der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs und deren Vorsitzendem, Mehmet Sabri Erbakan, vor, sich »besonders nach den Ereignissen der letzten Monate in ein Bestreben nach dem Wohlwollen der Kuffar (Ungläubigen; C.D.) begeben zu haben«. Mit diesem Schreiben, das in zahlreichen deutschsprachigen islamischen Internet-Foren veröffentlicht wurde, durchbrachen die Jugendlichen um Örlü ein bisher streng eingehaltenes Prinzip, das Gebot der Fitne: »Säe keine Zwietracht unter den Muslimen!« Natürlich wird innerhalb der muslimischen Community viel und heftig diskutiert, aber niemals darf ein Muslim einen anderen öffentlich an den Pranger stellen, schon gar nicht vor Nichtmuslimen.

Keine Kompromisse

Im Februar dieses Jahres stellte die Dachorganisation Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) eine Islamische Charta der Öffentlichkeit vor. Diese Charta sollte eine Grundsatzerklärung über die Beziehung der Muslime zum Staat und zur Gesellschaft bilden. »Als große Minderheit in diesem Land haben die Muslime die Pflicht, sich in diese Gesellschaft zu integrieren, sich zu öffnen und über ihre Glaubensbekenntnisse und -praxis mit der Gesellschaft in den Dialog zu treten«, erklärte der Zentralratsvorsitzende, Nadeem Elyas. Die Mehrheitsgesellschaft habe »ein Anrecht darauf zu erfahren, wie die Muslime zu den Fundamenten dieses Rechtsstaates, zu seinem Grundgesetz, zu Demokratie, Pluralismus und Menschenrechten stehen«. Das Echo, vor allem der deutschen Medien, fiel groß und überwiegend positiv aus, auch wenn einige Kritiker der Charta zu Recht vorwarfen, sie stelle allenfalls eine pragmatische Anerkennung der gegebenen Realität dar.

Wie diese Charta jedoch unter den Muslimen aufgenommen wurde, blieb der Mehrheitsgesellschaft zum großen Teil verborgen. Bis heute stößt der Zentralrat, der schätzungsweise 15 000 der über drei Millionen Muslime in Deutschland vertritt, in der islamischen Diskussion immer wieder auf Ablehnung wegen der vermeintlichen Zugeständnisse an die nicht islamische Umwelt. Neben dem Vorwurf, dass sie sich anmaße, als relativ mitgliederschwache Organisation im Namen der Muslime aufzutreten, werden vor allem die Äußerungen zur Demokratie, Integration und Religionsfreiheit als Verrat am Islam gebrandmarkt.

So warf eine »Gruppe von Muslimen« im Juni 2002 in einem »Appell an alle Muslime und wahrheitssuchenden Menschen« dem Zentralrat »populistische Propaganda, Opportunismus und Pragmatismus« vor. Die Charta sei eine »Konzession, die die Säkularisierung der Religion zur Folge« habe. »Die Machthaber werden mit solchen Konzessionen nicht zufrieden sein und so lange mehr verlangen, bis die Muslime am Ende sich selbst nicht mehr erkennen«, warnen sie. »Der Islam ist unvereinbar mit der Demokratie und auch mit allen anderen Ideologien und Religionen«, heißt es weiter in dem Papier. Die Aufklärung habe dazu geführt, dass »sich der Mensch in seinem intellektuell beschränkten und beeinflussbaren Wesen als befähigt und berechtigt betrachtet, der normative Maßstab zu sein, und somit selbst darüber zu entscheiden, was richtig oder falsch, gut oder schlecht, belohnens- oder bestrafenswert ist«. Diese Betrachtungsweise sei mit der Aussage des Koran unvereinbar, lautet ihr Fazit.

Auch die Integration von Muslimen weisen die Verfasser mit der Begründung zurück, dass »Muslime kein Teil der hiesigen oder irgendeiner anderen Gesellschaft« sind, sondern »eine eigene und einzige Umma (Gemeinde; C.D.) darstellen«. Die Charta des ZMD ist in ihren Augen der Verzicht auf die »Souveränitäts- und Herrschaftsrechte Allahs«, zu dem kein Muslim berechtigt sei. Deshalb sei es auch nicht erlaubt, »Kompromisse mit dem Kufr-System« einzugehen.

Solche Positionen werden in ihrer Kompromisslosigkeit nur von einer Minderheit der Muslime vertreten. Ihnen zugrunde liegt aber die von der Mehrheit gläubiger Muslime geteilte Auffassung, dass der Islam das Maß ihres gesamten Handelns sein muss. So meint der deutsche Konvertit Ahmad von Denffer, der Herausgeber der deutschsprachigen Vierteljahreszeitschrift Al-Islam, dass man die säkulare Demokratie als Tatsache akzeptiere, sie deshalb aber nicht als begrüßenswert anerkennen dürfe. »Im Gegenteil ist diese Einsicht für die Muslime ein Ansporn, sich nach besten Kräften dafür einzusetzen, diese Gesellschaft in eine islamgemäße umzuwandeln.« (7)

Interessant dabei ist, dass Denffer und seine Zeitschrift Al-Islam dem Islamischen Zentrum München nahe stehen, einem der bedeutendsten Mitgliedsvereine der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland (IGD). Die IGD wiederum - nach Angaben des Verfassungsschutzes der hiesige Dachverband des ägyptischen Zweiges der Muslimbrüder (8) - ist einer der beiden tragenden Mitgliedsverbände im Zentralrat der Muslime, dem Herausgeber der Islamischen Charta.

Denffers Aufruf, den Islam zu verbreiten, der auch als Missionierung zu verstehen ist, ist der Kern der Agitation zahlreicher weltweit agierenden islamistischen Organisationen. Dabei richten sie sich in erster Linie an die Muslime. Zunächst geht es darum, die Muslime in ihrem Glauben zu festigen. Dazu gehören nicht so sehr die spirituellen Aspekte der Religion, sondern hauptsächlich die mit dem Koran begründeten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Elemente der angestrebten islamischen Gesellschaftsordnung. Im Schlepptau des verkündeten religiösen Ideologiegebildes werden vor allem antisemitische Weltbilder transportiert, und es wird eine scharfe antiamerikanische Kapitalismus- und Globalisierungskritik geübt.

Diese von vielen, nicht allen, Organisationen betriebene antiamerikanische Globalisierungskritik anhand antisemitischer Stereotype findet sich auch bei der Bewegung Milli Görüs. So schrieb ihr ideologischer Anführer, Necmettin Erbakan, in seiner programmatischen Schrift »Die gerechte Wirtschaftsordnung« im Jahr 1991: »Der Zionismus ist ein Glaube und eine Ideologie, dessen Zentrum sich bei den Banken der New Yorker Wallstreet befindet. Die Zionisten glauben, dass sie tatsächlich die Diener Gottes sind. Ferner sind sie davon überzeugt, dass die anderen Menschen als ihre Sklaven geschaffen wurden. Sie gehen davon aus, dass es ihre Aufgabe ist, die Welt zu beherrschen. Sie verstehen die Ausbeutung der anderen Menschen als Teil ihrer Glaubenswelt.« (9)

Das verbindende Element der Gemeinschaft aller Muslime sei der Islam, weshalb Vorstellungen von Nation, Ethnie oder Kultur als Faktoren der Trennung von Gemeinschaften abgelehnt werden. »Der Islam bringt Kulturen hervor, ist aber keine und kann daher natürlich auch in Europa zu Hause sein«, erklärt der zum Islam übergetretene Verfechter einer islamischen Finanz- und Wirtschaftsordnung, Andreas Abu Bakr Rieger. Dabei geht es zum einen darum, den Islam auch für Europa als kompatible Alternative zu offerieren, zum anderen aber auch um die Überwindung der Trennung der Muslime nach ethnisch-nationalen Kriterien.

In Deutschland haben die Propagandisten dabei vor allem die Muslime mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund im Blick. Nicht allen Organisationen gelingt es aber, die aus den Ursprungsländern mitgebrachten und in der Migrationssituation konservierten nationalistischen Einstellungen ihrer Anhänger aufzulösen. Die in ihrem Grundansatz panislamistisch ausgerichtete Milli Görüs musste deshalb immer wieder die türkisch-nationalen Gefühle ihrer Mitglieder berücksichtigen. Mit der zweiten und dritten muslimischen Migrantengeneration wächst aber eine neue Elite heran, die für sich diesen Konflikt im islamischen Verständnis gelöst hat.

Islamisches Bewusstsein

Eine seit dem Beginn der neunziger Jahre sehr eifrig werbende Organisation ist die internationale Kalifatsbewegung Hizb ut-Tahrir (Partei der Befreiung). Die 1953 in Palästina vom Religionsgelehrten und Richter des Jerusalemer Sharia-Gerichts, Taqiyyu-d-Din an-Nabhani, gegründete und in nahezu allen arabischen Ländern verbotene Partei, agiert in voneinander unabhängigen Zellen und hat besonders unter Studenten Anhänger. Auch Ramis Örlü scheint von dieser Gruppe sehr angetan, verteidigt er die Hizb ut-Tahrir doch vehement im Forum der Muslimischen Jugend und wirbt für ihre Schriften. In Flugblättern und Büchern, im Internet, in ihrem englischen Politmagazin Khilafah, seinem deutschsprachigen Pendant Explizit und dem türkischsprachigen Organ Hilafet propagiert sie den »Islam als den einzig gangbaren Weg im Gegensatz zu den bestehenden Gesellschaftssystemen«.

Ein Parteimitglied und der Mitherausgeber von Explizit ist der ägyptische Österreicher Shaker Assem. Auf Einladung der Hochschulgruppe für Kultur und Wissenschaft (Aqida) der Technischen Universität Berlin verkündete Assem am 31. Mai 2002 vor etwa 100 Männern und 40 Frauen, fast ausschließlich Muslime, seine Vorstellungen vom Kalifat. »Wir haben die Pflicht«, erklärte er, »die gesamte Gesetzgebung in allen Bereichen dem Koran zu entnehmen.« Die bereits existierenden islamischen Staaten, einschließlich des Irans, qualifizierte er ab, da »kein Regime ausschließlich nach islamischen Gesetzen« regiere. Seine Partei arbeite daran, das Kalifat in der islamischen Welt zu errichten, von wo es dann »den Islam in die Welt hinausträgt«. Eine »göttliche Pflicht Allahs« sei die »vollständige Befreiung Palästinas, ohne einen Fußbreit übrig zu lassen«. Die Legitimation liefert ihm die Koran-Sure Al-Baqara, in der es heißt: »Und tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben.« Denn, so Assem, »Palästina wurde durch einen Akt der Aggression aus der Hand der Muslime gerissen«.

Das elitäre Auftreten der Mitglieder der Hizb ut-Tahrir hält zwar viele Muslime davon ab, der Partei beizutreten. Mit ihren Vorträgen, Büchern, Flugblättern und Zeitschriften aber gelingt es ihnen immer häufiger, ihre Ideen unter die Muslime zu streuen. Dafür haben sie sich inzwischen auch in die Wohngebiete türkischer und arabischer Muslime begeben. Seit dem Herbst 2001 trifft man die Verkäufer der Parteimagazine regelmäßig auf dem Wochenmarkt in Berlin-Kreuzberg. In der Auslage türkischer Kioske finden sich die Publikationen von Hizb ut-Tahrir zwischen den linken türkischen Blättern.

Allah und Odin

Auch wenn die rechte Basis und islamistisch beeinflusste nicht deutsche Muslime einander als Feinde betrachten und Überschneidungen in den Weltbildern islamistischer und rechter bzw. rechtsextremistischer Gruppierungen nicht zwangsläufig zu Bündnissen führen, kommt es immer wieder zu Allianzen. Als Grundlage dient insbesondere der offene oder hinter der »Kritik am Zionismus« versteckte Antisemitismus islamistischer Organisationen, den sie mit den Rechtsextremisten teilen. So hofiert die NPD beispielsweise den 1962 zum Islam konvertierten Schweizer Rechtsextremisten und Holocaustleugner Ahmed Huber.

Das ARD-Magazin »Report« berichtete im November 2001 von einem Auftritt Hubers bei einem Treffen von 1 500 NPD-Anhängern im ostdeutschen Grimma. Der oberste geistliche Führer des Iran, Ayatollah Khamenei, habe »sich gegen die Behauptungen der Zionisten über den so genannten Holocaust gewandt und die Muslime gewarnt, sie sollten nicht alles glauben«, verkündete Huber zur Freude der Anwesenden.

Auf einem Kongress der Jungen Nationaldemokraten (JN) im Oktober des Jahres 2000 soll Huber eine Rede zum Thema »Islam und neue Rechte« gehalten haben. Sascha Roßmüller, der Vorsitzende der JN, sagte daraufhin, man könne stolz sein, »Allah und Odin« hinter sich zu wissen. (10)

Huber ist eingebunden in das Netzwerk der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland, zu dem das Islamische Zentrum München und das Haus des Islam in Lützelbach, ein Verein deutscher Konvertiten, gehören. Nach Angaben des Verfassungsschutzes unterhält die IGD rege Beziehungen zu den Islamischen Zentren (IZ) in der Schweiz, wo sich mit dem IZ Genf die europäische Zentrale der Muslimbruderschaft befinden soll. In den so genannten islamischen Sommerlagern von Schweizer Muslimen treten Huber und Vertreter der IGD wie Denffer regelmäßig als Referenten auf. Auf dem diesjährigen Sommerlager, das im August in Mannenbach am Bodensee stattfand, sprach auch Shaker Assem von der Hizb ut-Tahrir.

Ende des Jahres 2001 übernahm Ibrahim el-Zayat den Vorsitz der IGD. El-Zayat, ein Schwager des inzwischen zurückgetretenen Milli-Görüs-Vorsitzenden Mehmet Sabri Erbakan, tritt seit Herbst 2001 als Sprecher des zu Milli Görüs gehörenden Immobilien- und Finanzierungsvereins Emug auf. Und so verwundert es kaum, wenn der ehemalige Vorsitzende der von Milli Görüs dominierten Dachorganisation Islamrat, Hasan Özdogan, bestätigt, dass Huber auch auf vielen Veranstaltungen seiner Organisation gesprochen habe.

Der gemeinsame Antisemitismus führte zu einer über Jahre hinweg konstanten internationalen Zusammenarbeit zwischen Rechten und Islamisten. Im Mittelpunkt steht dabei oft der Revisionismus, die Leugnung oder die Relativierung des Holocaust. Wie sehr dabei das rechtsextreme Gedankengut Eingang auch in die muslimischen Gemeinden in Deutschland findet, zeigt die Verbreitung der unzähligen Schriften des türkischen Revisionisten Harun Yahya (alias Adnan Oktar). Nachdem sein Buch »Die Holocaust-Lüge« für Aufsehen sorgte, wurde der offizielle Vertrieb gestoppt. Der Autor von fast 200 Büchern verlegt sich seither auf die Relativierung der systematischen Vernichtung der europäischen Juden.

Für die neue Rechte attraktiv sind islamistische Positionen auch in anderer Hinsicht: Im Kampf gegen die vermeintliche politische, wirtschaftliche, militärische und kulturelle Hegemonie der USA erscheint ihnen der politische Islam als standhafte Alternative. Ihnen imponiert das Selbstbewusstsein, mit dem Muslime »die Überlegenheit des Islam gegenüber allen anderen Religionen und Lebensordnungen« verkünden.

Die Überlegenheit des Islam über die westliche Welt scheint manchem Rechten so verlockend, dass er selbst zum Islam übertrat. Ein Beispiel dafür ist die weltweite Bewegung der Murabitun. Ihr Gründer ist der Schotte Ian Dallas, der sich einem mystischen islamischen Orden in Marokko anschloss und seitdem den Namen Scheich Abdulqadir al-Murabit as-Sufi führt.

Die spanische Stadt Granada und Schottland sind die Zentren dieser modernen, hauptsächlich aus Konvertiten bestehenden Kalifatsbewegung, die gegen die »Weltverschwörung des Kapitals« die Wiedererrichtung des islamischen Kalifats predigt. In ihren antisemitisch gefärbten Schriften propagiert sie ein Finanz- und Wirtschaftssystem auf islamischer Grundlage, das »Wucher« und Papiergeld verbiete. Folglich sei »der politische Gegner des Islam weniger Amerika als vielmehr die globale Herrschaft des Dollar«. (11)

Verfolgt man auf der Homepage des Murabitun Worldwide Movement die Links zu den Ländervertretungen, gelangt man unter Germany direkt zu der in Potsdam ansässigen und von Andreas Abu Bakr Rieger herausgegebenen deutschsprachigen Islamischen Zeitung. Rieger, der während seiner Studienzeit in Freiburg 1990 zum Islam konvertierte, gründete 1995 in Weimar zusammen mit anderen die Islamische Gemeinschaft in Deutschland/Weimar Institut.

Zur Begründung des Islam »als geschichtliche Möglichkeit für die Europäer« und »einzige Alternative zu einem rein konsumorientierten und sinnentleerten Leben im Weltstaat« (12) bemühen die Mitglieder des Weimar Instituts immer wieder Martin Heidegger, Ernst Jünger und Friedrich Nietzsche.

In einem Vortrag im Februar 1999 erläuterte Sulaiman Wilms, der stellvertretende Vorsitzende des Weimar Instituts und Chefredakteur der Islamischen Zeitung, Nietzsches Bedeutung liege darin, die 2 000jährige Tradition des abendländisch-christlichen Denkens zu einem Ende gebracht zu haben. »Sein berühmtes Wort, dass Gott tot sei, beendet ein für alle Mal das christliche Gottesbild des sterblichen Gottes und macht damit den Weg frei zur Überwindung des abendländischen Nihilismus durch den Islam in Europa«, lautet die Schlussfolgerung des deutschen Muslim. (13)

Gegenüber all den hier gezeigten neuen Entwicklungen nützen die Dramatisierung und die Repression ebenso wenig wie falsch verstandene Toleranz und damit Ignoranz. Man muss diese Menschen, bei dem, was sie sagen, ernst nehmen. Dann kann man sich damit auch inhaltlich auseinandersetzen.

Anmerkungen

(1) Die türkische Islamische Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG) ist die größte Organisation des politischen Islam in Deutschland. Ihr geistiger Führer und Erfinder der dazu gehörenden Ideologie - Milli Görüs (religiös-nationale Weltsicht) - ist der ehemalige Vorsitzende der in der Türkei verbotenen Wohlfahrtspartei und ehemalige türkische Ministerpräsident, Necmettin Erbakan. Die IGMG vertritt nach eigenen Angaben knapp 84 000 Mitglieder und betreut mit ihren sozialen und religiösen Angeboten 3,5 Millionen Muslime in Europa. Der Sitz der Zentrale ist Kerpen bei Köln.

(2) Tauhid ist die Einheit Gottes, in islamistischer Lesart die alleinige und uneingeschränkte Autorität Allahs in allen Lebensbereichen.

(3) Transfer, 1/2002.

(4) Amir Zaidan: Al-Aqida. Offenbach 1999.

(5) Gummibärchen und selbst Schokolade gelten inzwischen als Sünde, da in ihnen Gelatine enthalten ist, die aus Schweineknochen hergestellt wird.

(6) www.evangelischer-arbeitskreis.de/ev-02-2002.pdf.

(7) Ahmad von Denffer in Al.-Islam, Zeitschrift für Muslime in Deutschland, 2/2002.

(8) Die Muslimbrüder wurden 1928 von Hassan al-Banna in Ägypten gegründet und dort 1954 verboten. Sie propagieren den Islam als allumfassendes System und die Errichtung eines Staates auf der Grundlage islamischer Werte und Prinzipien. Mittlerweile gibt es Zweige und Abspaltungen in über 70 Ländern, darunter auch die palästinensische Hamas.

(9) »Antisemitismus in der islamischen Welt« von Micha Kiefer, Stattzeitung Terz, April 2001.

(10) Jungle World, 52/2001.

(11) Islamische Zeitung, Mai 2000.

(12) Islamische Zeitung, Juni 1999.

(13) www.weimarinstitut.net.

Dieser Text ist eine gekürzte und redaktionell bearbeitete Fassung eines Beitrages aus dem vom Zentrum Demokratische Kultur (ZDK) herausgegebenen Bulletin »Volksgemeinschaft gegen McWorld - Rechtsintellektuelle Diskurse zu Globalisierung, Nation und Kultur«, das im Januar 2003 in der Schriftenreihe des ZDK beim Ernst Klett Verlag, Stuttgart, erscheint. Zu bestellen über: www.zdk-berlin.de/webzdk/seitenzdk/zdkhome.html