Schuld und Erinnerung

Die Shoah, der Nahostkonflikt und die Linke.

In der bundesrepublikanischen Linken ist der Nahostkonflikt nur vordergründig von Interesse. Der Hintergrund, der diesem Thema seine Brisanz verleiht, ist die nationalsozialistische Judenvernichtung. Die Erinnerung an die Shoah, und nicht die Analyse des Nahostkonflikts, prägt die Positionen. Das gilt für die antisemitischen KritikerInnen Israels ebenso wie für die philozionistischen VerteidigerInnen dieses Staates. Während jene rückwirkend das Verhältnis von Tätern und Opfern umkehren wollen, versuchen diese unbeholfen, sich diesem Bedürfnis entgegenzustellen.

Es ist falsch, den Kampf gegen den Antisemitismus mit einer blinden Solidarität mit Israel zu verwechseln. Dieser Irrglaube grassiert in der radikalen Linken. Sie glaubt, nach den Jahrzehnten der Ignoranz - oder schlimmer noch: des linksradikalen, antisemitischen Antizionismus - nun endlich ihre Lektion gelernt zu haben. Tatsächlich presst sie komplizierte Zusammenhänge in ein primitives Denkmodell. Die Schwierigkeit besteht darin, dass der Nahostkonflikt weder unabhängig von der Shoah noch allein aufgrund der Shoah beurteilt werden kann.

Hinzu kommt, wie wir im zweiten Teil unseres Beitrages erörtern, dass an die Shoah als einmaliges historisches Ereignis auf unterschiedliche Weise erinnert wird und diese Erinnerungen die gegenwärtigen politischen Konflikte prägen. Dieser Komplexität kann man nur mit einer differenzierten Position gerecht werden. In der Linken sind aber einfache Denkmodelle populär.

I. Die Sharon-Linke

Der Antisemitismus in Deutschland und Europa wird seit (nicht wegen) der zweiten Intifada offener artikuliert als zuvor. In Deutschland handelt es sich dabei nicht um eine neue Form des Antisemitismus, während der Antisemitismus, den die nach Europa emigrierten Muslime formulieren, einem neuem Typus der Judenfeindschaft Ausdruck verleiht. Während in Deutschland der klassische moderne Antisemitismus hauptsächlich innerhalb etablierter politischer Kreise formuliert wird, äußert er sich in Frankreich vor allem innerhalb der islamistischen Communities. In der deutschen und europäischen Bevölkerung unterscheidet sich der Antisemitismus, der zu Auschwitz führte, vom Antisemitismus nach 1945.

Nach dem Ende des Nationalsozialismus konzentrierte sich der Antisemitismus auf die Schuldabwehr, wie zum Beispiel bei Martin Walser und Jürgen Möllemann. Man wollte und will sich davon entlasten, zu ei-ner Nation zu gehören, die Auschwitz verursachte, um sich ungezwungen als Deutscher identifizieren zu können. Die geläufigste Form der Schuldabwehr verkehrt die Verhältnisse, die Opfer von damals seien die Täter von heute. Ein besonders drastisches Beispiel für diese Umkehrung ist es, wenn die Juden bzw. Israelis mit den Nazis identifiziert werden, indem von einem Vernichtungskrieg Israels gegen die PalästinenserInnen gesprochen wird. Mit dieser Täter-Opfer-Umkehr wird einerseits die Schuld der deutschen Nation relativiert, weil »die« Juden ja angeblich heute das tun, was die Deutschen in der Vergangenheit getan haben. Und damit wird andererseits der Angriff auf die Juden heute legitimiert, eben weil man sie schlimmster Taten bezichtigt.

Diese Umkehr wird seit dem Ende des Nationalsozialismus in diversen Varianten gepflegt. Der Nahostkonflikt bietet nun der deutschen Bevölkerung den willkommenen Beleg, dass die Juden Täter sind. Daran beteiligen sich auch radikale Linke, was zum Beispiel die Antisemitismusdebatte im freien Radio in Hamburg (FSK) auslöste. Gemeinsam ist allen ProtagonistInnen, dass der reale politische Konflikt dabei nur eine Projektionsfläche bleibt.

Wir werden im Folgenden nicht näher auf die antisemitischen Reaktionen auf den Nahostkonflikt eingehen. Vielmehr interessieren uns in diesem Beitrag vor allem die Gründe, warum es so schwierig zu sein scheint, eine linke Position zu formulieren, in der das Bewusstsein über die nationalsozialistische Judenvernichtung mit einem kompromisslosen Anti-Antisemitismus und einer reflektierten Kritik des Nahostkonfliktes verbunden ist. Unsere Kritik richtet sich vor allem gegen die linken Positionen, die eine bedingungslose Solidarität mit Israel und generell der Judenheit einfordern. Denn auch sie benutzen den Nahostkonflikt nur als Projektionsfläche. Sie setzen der antisemitischen Täter-Opfer-Umkehr eine Verabsolutierung des Täter-Opfer-Modells entgegen.

Die Shoah ist seit 20 Jahren ein Bestandteil der offiziellen Erinnerungspolitik. Dieses Gedenken bestimmt den linksradikalen Blick auf den Nahostkonflikt. Während der siebziger und achtziger Jahre wurde bedingungslos Solidarität mit der palästinensischen Bewegung geübt, der Antizionismus kannte keine Grenzen und ging so weit, »die Zerstörung des Staates Israel« zu fordern. Die linksradikale Propaganda der Zeit war äußerst zweifelhaft und reproduzierte antisemitische Stereotype. Jean Améry, der sich für die PalästinenserInnen einsetzte, verurteilte 1969 das antijüdische Ressentiment, das sich hinter diesem Antizionismus der radikalen Linken verbarg.

Heute sind wir in einer völlig anderen Situation. Viele radikale Linke in Deutschland und in bedingtem Maße auch innerhalb Europas glauben, dass das Denken nach Auschwitz zur Folge habe, alle Ereignisse auf Auschwitz und dessen Folgen zu reduzieren. Dieser Glaube bietet zwei große Vorteile. Erstens besitzt man damit einen Fixpunkt, von dem aus alles beurteilt werden kann. Zweitens ist klar, wer die Guten und wer die Bösen sind und folglich, mit wem man sich als Linke zu identifizieren hat.

Ein solches »Denken nach Auschwitz« ist eine vielleicht gut gemeinte, aber fatale Instrumentalisierung der Shoah. Es befriedigt das Bedürfnis nach umfassender Orientierung, nach Einfachheit und Identität. Auschwitz aber taugt nicht als simplifizierende Welterklärungsformel. Ganz im Gegenteil ist das Bewusstsein, dass die Shoah nicht nur möglich, sondern real war, ein Stachel, der ein kritisches und aufklärerisches Denken nicht zur Ruhe kommen lässt.

Aus Angst, Auschwitz zu relativieren, neigt diese Linke dazu, allen anderen Ereignissen, wie zum Beispiel dem Jugoslawienkrieg oder dem Genozid in Ruanda, eine größere Bedeutung abzusprechen. Das dort produzierte Leid ist ihnen kaum der Rede wert, als bestehe die Lehre, die aus der Judenvernichtung zu ziehen ist, darin, alle anderen Verbrechen zu verharmlosen. Vor allem aber wird alles, was in irgendeiner Weise mit Juden zu tun hat, positiv bewertet, während umgekehrt alles, was sich in irgendeiner Weise gegen Juden richtet, allein nach der Shoah beurteilt wird.

Dementsprechend wird zum Beispiel die zweite Intifada nicht mit den Verhältnissen im Nahen Osten erklärt, sondern mit dem »Antisemitismus« der PalästinenserInnen im Besonderen und der arabischen Welt im Allgemeinen. Einige in der Jungle World erschienene Artikel, das Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus und die an den antiarabischen Rassismus der Liste Pim Fortuyn erinnernden Polemiken diverser Antideutscher sind Ausdruck einer Sucht nach einfachen Erklärungen, die in eine Identifikation mit der Politik Sharons mündet.

So fand Mitte April dieses Jahres in Berlin eine Demonstration statt, zu der unter anderem das Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus aufgerufen hatte. Dabei implizierte bereits der Slogan »Solidarität mit Israel«, dass es den Veranstaltern nicht um die Unterdrückungsmaßnahmen des israelischen Staates ging und eine Solidarität mit den PalästinenserInnen ausgeschlossen wurde. Um das einfache, binäre Schema »gut / böse« nicht durcheinander zu bringen, wird Israel nur als Folge der Shoah begriffen, womit die Politik der gegenwärtigen israelischen Regierung der Kritik entzogen wird. Auf der anderen Seite konstruiert man sich die Palästinenser, die Araber und die Muslime, erklärt sie samt und sonders zu Antisemiten und ignoriert damit alle anderen Gründe des Nahostkonflikts.

Die Solidarität mit PalästinenserInnen gegen die Militärdiktatur in den von Israel besetzten Gebieten und mit dem Protest der Israelis palästinensischer Herkunft gegen ihre Diskriminierung sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit des linken Internationalismus darstellen. Diese Solidarität schließt selbstredend eine deutliche Kritik aller antisemitischen, völkisch-nationalistischen bzw. islamistischen Töne diverser palästinensischer Strömungen mit ein.

Vernünftigen Linken sollte es leicht fallen, zwischen Internationalismus und kritikloser Unterstützung des palästinensischen Befreiungsnationalismus zu unterscheiden und den Antisemitismus im Antizionismus zu erkennen und kenntlich zu machen. Doch die Anfang der neunziger Jahre noch möglichen komplexen Betrachtungsweisen waren anscheinend nur ein kurzes Aufflackern des kritischen Denkens, die wieder binären Positionen Platz gemacht haben. Nur die Fahnen haben gewechselt. »Wer nicht für uns ist, ist gegen uns«, sagt eine israelische Regierung, die sich genauso mit Israel gleichsetzt, wie es die VertreterInnen der radikalen Linken in Deutschland tun. Diese Linke kennt keine Unterschiede mehr, nicht einmal zwischen der Regierung und den Regierten, zwischen Klassen, zwischen Frauen und Männern, zwischen EinwandererInnen aus den GUS-Staaten und sephardischen Juden.

Positionen für einen sofortigen Abzug aus den besetzten Gebieten und Frieden gibt es durchaus, wie es z. B. im vergangenen Sommer das Symposium »Palästina: Israel 2002. Das Ende der Zukunft?« in Hamburg zeigte. Doch die VertreterInnen von Positionen, die sich gegen ethnisch und/ oder religiös homogene Staaten richten, bekommen wenig Gehör in der linken Debatte. Für manche Linke sind solche Positionen zu kompliziert. Sie sind lieber kompromisslos - für Israel und gegen Palästina. Im nächsten Jahr vielleicht wieder umgekehrt. Hauptsache, man weiß, welche Flagge hochzuhalten ist.

II. Eine Sharon-Linke kann es nur außerhalb Israels geben

Die Zeitschrift konkret zum Beispiel unterstützte früher entschieden die PLO, und zwar zu einem Zeitpunkt, als die Fatah das Existenzrecht Israels noch nicht anerkannte. Heute ist sie in den Reihen der überzeugtesten Verteidiger der israelischen Politik zu finden. Zurecht wird diese Position als »Sharon-Linke« bezeichnet (Stefan Reinecke am 7. Mai 2002 in der taz). Der Kampf gegen den Antisemitismus wird mit der Solidarität mit einem rechten Abenteurer in eins gesetzt.

Das über Jahrzehnte gepflegte binäre Denken in der Linken hat nicht unwesentlich zur ihrer theoretischen und praktischen Schwächung beigetragen und setzt sich bruchlos im Nahostkonflikt fort, nur dass man die Seiten gewechselt hat. Statt eines Antiimperialismus, der häufig einen antisemitischen Antizionismus einschloss, setzt man nun auf eine »Analyse« des Nahostkonflikts, die allein aus der Perspektive der deutschen Verantwortung für die Shoah entworfen wird. Solche undifferenzierten binären Positionierungen werfen all das über Bord, was aufgeklärtes Denken ausmacht.

Es entbehrt nicht einer gewissen Absurdität und einer latenten Allmachtsphantasie, dass gerade deutsche radikale Linke sich als SprecherInnen der Regierung Sharon in Deutschland sehen und sich damit völlig über die Kritiken und Einschätzungen israelischer Linker und Gruppen wie Bat Shalom oder Gush Shalom hinwegsetzen.

Die israelische Gesellschaft hat nach dem Scheitern der Verhandlungen von Camp David und Tabla einen beeindruckenden Rechtsruck vollzogen, der mit jedem neuen Selbstmordattentat noch verstärkt wird. Die Militarisierung der israelischen Gesellschaft und die Zerschlagung der palästinensischen Zivilgesellschaft sind langfristige Ziele des Premierministers Ariel Sharon, die nach und nach zum Nachteil beider Gesellschaften erreicht werden. Während sich die israelische Linke völlig im Klaren darüber ist, dass eine militärische Lösung keinen Frieden bringt und die Selbstmordattentate vom harten Vorgehen der israelischen Armee eher angestachelt als beendet werden, weigert sich ein Teil der Linken hierzulande, diese Positionen zu unterstützen oder überhaupt zu verstehen.

Eine Linke, die ihren Namen verdient, müsste hingegen gemeinsam mit israelischen Linken die sofortige Beendigung der israelischen Okkupation, den Abbau der Siedlungen sowie Friedensverhandlungen unterstützen. Das würde eine kritische Solidarität mit den linken Bewegungen in Israel einschließen, die sich gegen die Besatzungspolitik engagieren, statt einer politisch irrelevanten Anbiederung an einen starken Staat.

Das Letzte, was Sharon braucht, sind deutsche Linke. Linke Solidarität sollte sich vor allem an die in der Gegenwart Unterdrückten richten, also an PalästinenserInnen. Die israelische Besatzung ist der Ausdruck eines Staatsterrorismus, die palästinensische Gewalt ist eine Reaktion darauf. Dieser Grundsatz darf aber nicht dazu verleiten, alle anderen Einflüsse auf den palästinensischen Widerstand zu ignorieren. Während in der ersten Intifada zum Beispiel Frauen eine bedeutende Rolle einnahmen, werden sie nun von patriarchalischen Kräften aus dem politischen Leben verbannt.

Der Antisemitismus in Deutschland wird zur alleinigen Beurteilungskategorie im Nahostkonflikt erhoben. Zwar ist es richtig, dass die Deutschen am meisten vom Antisemitismus verstehen, aber dass es gerade die Linken sein müssen, die keine Parteien und politischen Positionen, sondern nur noch ein homogenes Staatsgebilde zur Kenntnis nehmen, wenn es um Israel geht, bedeutet nichts anderes als die Preisgabe elementarer linker Überzeugungen. Die Verbohrtheit dieser Position geht so weit, dass die in diversen Nationalstaaten lebenden Jüdinnen und Juden gerade so, wie es Antisemiten üblicherweise tun, einfach Israel zugeordnet werden.

Völlig ignoriert werden dabei Positionen, wie sie zum Beispiel Hanno Loewy formulierte (Die Zeit, 17./18. April 2002 ): »So bin ich kein Israeli, sondern Jude und deutscher Staatsbürger.« Ebenso geht es vielen linken Juden in Frankreich, die sich keineswegs dem »weltweiten jüdischen Projekt« von Leuten wie Sharon zugehörig fühlen. In Januar des Jahres 2001 erschien in Le Monde ein Aufruf jüdischer Intellektueller, der sich sowohl gegen die antisemitischen Angriffe in Frankreich als auch gegen die israelische Politik gegenüber den PalästinenserInnen richtete.

Daniel Bensaid argumentierte in diesem Zusammenhang ähnlich wie Loewy: »Persönlich verstehe ich mich zuerst als laizistischen und internationalistischen Aktivisten und als Staatsbürger des Landes, in dem ich lebe und arbeite. Als Jude bezeichne ich mich nur unter zwei Umständen: Gegenüber Antisemiten, in der Erinnerung an die Leiden der Vergangenheit, und gegenüber Zionisten, die vorgeben, in meinem Namen zu sprechen. Natürlich gerät man dabei in Widersprüche. Doch diese Widersprüche sind ein Produkt der Geschichte. Der Massenmord der Nazis an den Juden war eine hundertprozentig europäische Tragödie, so wie die Dreyfus-Affäre eine hundertprozentig französische Angelegenheit war. (...) Zu zeigen, dass 'die Juden' und die israelischen Regierenden nicht dasselbe sind, ist ein Mittel des Kampfes gegen Antisemitismus.«

Teile der deutschen Linken dagegen kennen nur noch »die Juden« als eine homogene Gruppe, auf die man die eigenen Sehnsüchte nach Identität und Orientierung projiziert. Gegen Deutschland, gegen den Antisemitismus zu sein, bedeutet, so der Kurzschluss, die Juden nur als Opfer des Antisemitismus wahrzunehmen. Damit werden die PalästinenserInnen zum Sündenbock einer linksdeutschen Trauerarbeit, die nicht auf Reflexion, sondern auf Identifikation abzielt. Die Rechte der PalästinenserInnen werden für diese eigenwillige deutsche Vergangenheitsbewältigung geopfert.

In diesem verworrenen Rollenspiel sind die Juden nur noch eine metonymische Figur, in der die Ermordeten von gestern die Unterdrücker von heute überlagern. Dass beides wahr ist, ohne dass das eine das andere erklärt oder gar legitimiert, dass es gegenwärtig Opfer des Antisemitismus und von Juden zu verantwortendes Leid gibt, passt nicht ins Bild.

Früher gehasst, werden die Juden heute als idealtypische Verkörperung der Opfer, als Objekte von Liebe und Mitgefühl wahrgenommen, doch bleiben sie für die Deutschen eine Projektion, ein selbst geschaffenes Bild, ein Fetisch. Sie sind immer noch nicht das, was die Aufklärung postulierte, nämlich menschliche Wesen, die man ihren Handlungen gemäß beurteilen, anerkennen, kritisieren, lieben oder hassen kann, sondern die TrägerInnen einer früher verabscheuten Wesenheit, die heute bedingungslos verteidigt wird.

In diesem Zusammenhang beweist der Philozionismus eines Teils der deutschen radikalen Linken nicht deren Befreiung von einem alten Vorurteil, sondern ihre Unfähigkeit, sich davon zu lösen. Ihre Werteskala hat sich nur umgedreht. Deshalb entspricht das Bild, das sich Deutsche von Juden machen, gerade nicht den Selbstbildern von Juden. Die unterschiedlichen Selbst- und Fremdbilder, insbesondere die unterschiedlichen kollektiven Erinnerungen an die Shoah, sind aber für eine Beurteilung des Nahostkonflikts wesentlich.

Es ist interessant zu beobachten, dass einige der bekanntesten VertreterInnen der israelischen radikalen Linken eine entgegengesetzte Haltung einnehmen. Manche israelischen AktivistInnen weigern sich, als BürgerInnen eines repressiven Staates öffentlich die palästinensischen Selbstmordattentate zu denunzieren. Michael Warschawski sieht seine Rolle als Israeli im Kampf gegen die 50jährige Unterdrückung einer vertriebenen und rechtlosen Bevölkerung nicht darin, die PalästinenserInnen über Wege und Mittel ihres Kampfes zu belehren. Diese hierzulande schwer nachvollziehbare Position bedeutet keine Gleichgültigkeit gegenüber den völlig willkürlich gewählten Opfern der Attentate, sondern ist Ausdruck des Bewusstseins, dass die palästinensische Gewalt ein Resultat des israelischen Staatsterrorismus darstellt.

Gleichwohl sollte dabei nicht vergessen werden, dass die Selbstmordattentate, die aus archaischen Vorstellungen und aus der Religion sich legitimieren wollen, nicht das Geringste mit einer aufgeklärten linken Politik zu tun haben. Sie sind zwar Akte der Verzweiflung, dennoch sind sie barbarisch. Zudem sind sie ein Teil der militärischen Strategie unter anderem der Hamas, die die Verzweiflung instrumentalisiert. Dass Verzweiflung zu religiösem Fanatismus führen kann, ist soziologisch zwar zu erklären, aus einer aufgeklärten Position aber zu verurteilen. Es ist auch falsch, alle PalästinenserInnen mit diesen Anschlägen zu identifizieren, genauso wie es falsch ist, alle Israelis mit ihrer Regierung gleichzusetzen.

III. Unterschiedliche Erinnerungen

Die Erinnerung an die Judenvernichtung während des Zweiten Weltkrieges formte das historische Bewusstsein Israels. Die brillante Analyse »Die siebte Million« von Tom Segev beschreibt dieses Phänomen. Einerseits wurde die Erinnerung an die Shoah ein Pfeiler der israelischen Identität, andererseits instrumentalisierte der Zionismus diese Erinnerung, um seine nationalistische Politik zu legitimieren.

Der israelische Historiker führte mehrere Beispiele an, um dieses Phänomen zu illustrieren. Angefangen in den fünfziger Jahren, als Ben Gurion den ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser mit Adolf Hitler verglich, bis zum Libanonkrieg, als Menachem Begin erklärte, die Alternative zur israelischen Besatzung in Beirut sei ein neues Treblinka.

Dan Diner interpretierte dies als einen Ausdruck des israelischen Selbstverständnisses. Zur überlieferten Repräsentation der Yshuviste, der Erde der Pioniere und der »Gründerväter«, kam eine shoahzentrierte Repräsentation, die Israel als eine Antwort auf den Genozid der Nazis und eine »Wiedergutmachung« darstellte. Ab 1967 hätten die zionistischen Autoritäten Auschwitz als eine »Metapher für den Mangel an Sicherheit im Inneren Israels« gewählt. Die Grenzen des Landes wurden vor der Besetzung des Westjordanlandes und des Gazastreifens häufig als »Auschwitz-Linie« bezeichnet.

All das sollte nicht vergessen werden. Diese Überlegungen können uns helfen, die psychologischen Reflexe, die israelische Erinnerung und das Selbstverständnis besser zu verstehen. Allerdings können sie keine objektive Analyse der Tatsachen ersetzen. In Sabra und Shatila kam es zu Massakern, unabhängig von den Beweggründen und dem Selbstverständnis derer, die sie ausgeführt oder befohlen haben.

Die palästinensische Erinnerung ist völlig anders. Sie hat mit dem Erbe eines in Europa geplanten und ausgeführten Genozids nichts zu tun. In den Augen der PalästinenserInnen ist der Staat Israel nicht die Antwort auf ein grauenhaftes, an den Juden begangenes Verbrechen - ein Verbrechen für das sie nicht verantwortlich sind und an dem sie nicht teilgenommen haben. Sie begreifen Israel deshalb nicht als einen Zufluchtsort für die Verfolgten des europäischen Antisemitismus, für tausende Heimatlose und für Überlebende aus den Vernichtungslagern der Nazis, sondern als Ergebnis eines Kolonisierungsprozesses, der sie aus ihrer Heimat vertrieb und sie ihrer Rechte und einer Zukunft beraubte.

Das Bild, das man in Gaza von Juden hat, ist dem in Deutschland genau entgegengesetzt. Es gründet nicht auf der Erinnerung an einen Genozid, der im Namen Deutschlands verübt wurde, sondern auf der Realität einer Besatzungsarmee. Weit davon entfernt, eine befreiende Wirkung zu haben, traf die Gründung Israels mit der Naqba, der Katastrophe, zusammen. Israel war beides, ein Hafen für eine Masse von Parias, für Überlebende eines Genozids, und ein Staat, dessen Gründung direkt zum Krieg und zur Vertreibung führte. Genau darin besteht auch die Wandlung des Zionismus, dessen historische Legitimität als nationale jüdische Bewegung wir nicht bestreiten.

Anders verhält es sich mit seiner staatlichen Praxis. Die Anerkennung der Tatsache, dass der Krieg von 1948 die Vertreibung der PalästinenserInnen aus ihrer Heimat bedeutete, durch die »neuen israelischen HistorikerInnen« (Ilan Pappé, Benny Morris und andere), ist ein erster Schritt eines jüdischen Verständnisses der palästinensischen Erinnerung. Auf der anderen Seite bedeutet die Kritik zahlreicher arabischer Intellektueller an Roger Garaudys Leugnung von Auschwitz ebenfalls einen wichtigen Schritt der Integration der Shoah und ihrer Bedeutung für das israelische kollektive Bewusstsein in die palästinensische Geschichtsschreibung. Es geht dabei nicht um Details, sondern um entscheidende Tatsachen, auch wenn ihre Auswirkungen im Moment noch nicht deutlich werden. Ohne gegenseitiges Verständnis werden die beiden entgegengesetzten kollektiven Gedächtnisse nur blutige Feindschaft legitimieren.

Diese Spaltung der Erinnerungen lässt sich gut am Beispiel einiger aktueller Episoden in Frankreich deutlich machen. Sébastien Jolivet, ein Mitglied der LCR (Ligue Communiste Révolutionnaire), und Daniel Mermet, ein Redakteur des Radiosenders France Culture, wurden wegen Antisemitismus und »Aufhetzung zum Hass« angeklagt, weil sie Sharon als »Mörder« bezeichneten und die palästinensische Intifada unterstützen. Einige jüdische Intellektuelle reagierten sofort und formulierten einen Aufruf zur Unterstützung der beiden Angeklagten. Die antirassistischen Organisationen spalteten sich; die Licra (Ligue contre le racisme et l'antisémitisme) ist die Klägerin, die Ligue des Droits de l'Homme verteidigt die Angeklagten. Der israelische Regisseur Eyal Sivan, der als Zeuge der Verteidigung während des Prozesses gegen Jolivet aufgerufen war, erklärte, dass der Vergleich Sharons mit den Nazis bei israelischen PazifistInnen gebräuchlich sei, ohne dass dies jemals zu juristischen Schritten geführt hätte. Beide Angeklagten wurden schließlich freigesprochen, doch bleibt ihr Missgeschick ein Ausdruck des Niedergangs einer politischen Debatte und interner Instrumentalisierungen des Nahostkonflikts.

Die komplizierte Situation bedeutet jedoch keineswegs, dass nicht Position ergriffen werden kann. Ein Brandanschlag auf eine Synagoge ist ein antisemitischer Akt, der zu verurteilen und zu sanktionieren ist. Aber es ist nützlich zu wissen, ob es Skins waren, Nostalgiker eines Vichy-Frankreich, islamische FundamentalistInnen oder Jugendliche maghrebinischer Herkunft, die dadurch ihre Unterstützung der palästinensischen Intifada ausdrücken wollen.

Im Namen der Erinnerungsarbeit geschehen heutzutage viele Instrumentalisierungen. So zum Beispiel wenn der israelische Außenminister das durch einige antisemitische Anschläge erschütterte Frankreich mit dem Deutschland der Kristallnacht vergleicht, einer staatlich organisierten Pogromwelle. Die Erinnerung wird in diesem Fall demagogisch in den Dienst gegenwärtiger Interessen gestellt.

Die Erinnerung und die Unterschiede zwischen den Erinnerungen führen häufig zu zweifelhaften Vergleichen. Der portugiesische Schriftsteller José Saramago veröffentlichte nach einer Reise mit anderen SchriftstellerInnen ins Westjordanland einen von der internationalen Presse rezipierten Artikel, in dem er die Vernichtungslager mit der israelischen Besatzung verglich. Selbstverständlich ist das ein absurder Vergleich, denn der Staat Israel hatte niemals vor, die PalästinenserInnen auszurotten.

Die VertreterInnen eines »Groß-Israel« wollen eher die Ausweisung, um einen rein jüdischen Staat zu errichten. Der Vergleich mit einem Apartheidssystem ist weit zutreffender. Denn die Ausdehnung der militärischen Besatzung - die Aufteilung der Gebiete, die Ausbreitung der jüdischen Siedlungen, die Grenzen und die Umgehungswege, die Störung und die Erniedrigung der palästinensischen Bevölkerung - schafft eine Situation der Absonderung, die an die der schwarzen Bevölkerung in den Townships Südafrikas zu Zeiten der Apartheid erinnert.

Auch wenn der Vergleich Saramagos falsch ist, wirkt die Aufregung, die er erzeugte, suspekt. Man wird den Eindruck nicht los, dass Saramagos Artikel nicht nur dazu dient, die vielfache Banalisierung der Shoah zu denunzieren, sondern als Vorwand willkommen ist, um nicht mehr über die israelische Politik gegenüber den PalästinenserInnen sprechen zu müssen.

Die Erinnerung an Auschwitz wird somit zu einer Sichtblende, hinter der sich eine oft mit blutiger Gewalt ausgeübte Unterdrückungspolitik verbirgt. Der Banalisierung von Unterdrückung und Gewalt aber darf in einem Denken nach Auschwitz kein Platz eingeräumt werden. Man muss deshalb beides in seiner Unterschiedlichkeit in den Blick nehmen, ohne das eine zugunsten des anderen zu verharmlosen. Wenn Saramagos Worte Kritik verdienen, so verdient die Banalisierung der Geschehnisse in den besetzten Gebieten im Namen der Erinnerung an Auschwitz unsere Entrüstung.

Die Gründe für die beschriebenen politischen Haltungen sind vielfältig. Einer besteht darin, sich der gesellschaftlichen Konfrontation zwischen historischer Verantwortung und zeitgeschichtlicher Erfahrung zu verweigern. Stattdessen wird, so wie der gesellschaftliche Mainstream es tut, auch in der Linken dem Bedürfnis nachgegeben, endlich ein Opfer sein zu dürfen bzw. sich mit den historischen Opfern in eins zu setzen. Möllemann und seine Freunde wollen die Israelis und letztlich auch die Juden nur als Täter sehen, um die Deutschen von ihrer historischen Schuld zu entlasten.

Die Linken, die sich bedingungslos hinter den Staat Israel stellen, völlig gleichgültig, welche Politik dessen Regierung betreiben mag, glauben sich damit mit den Opfern der Geschichte, mit den in Auschwitz ermordeten Juden identifizieren zu können, und lassen das Bedürfnis erkennen, sich ebenfalls ihrer historischen Verantwortung zu entledigen. Stattdessen wähnen sie sich auf der richtigen Seite und imaginieren sich ein kollektives Feindbild, einen weltumspannenden islamischen Faschismus, der kurz davor stehe, Israel zu vernichten.

Eine existenzielle militärische Bedrohung des Staates Israel steht aber im Moment gar nicht zur Debatte. Israelische Militärexperten streiten ab, dass Israel durch die erste und zweite Intifada militärisch in seiner Existenz bedroht sei. Kein Land der Arabischen Liga hat Interesse, einen Krieg mit Israel zu beginnen, den es militärisch nur verlieren könnte.

Eine bizarre Vernichtungsphantasie der deutschen FreundInnen Israels? Die größte Gefahr geht im Moment vom inneren Zerfall der israelischen Gesellschaft und der Zerstörung der Reste der Infrastruktur der palästinensischen Gesellschaft aus. Wenn die Besatzungspolitik des Westjordanlandes und des Gazastreifens sich über Jahrzehnte fortsetzt, wäre nicht nur die Existenz der palästinensischen Bevölkerung bedroht, sondern auch die Demokratie in Israel und die internationale Akzeptanz des Staates.

Der Antizionismus in der arabischen Welt und der vieler PalästinenserInnen wird mit dem traditionellen Antisemitismus der westlichen Welt, der die Shoah hervorbrachte, in eins gesetzt. Damit wird der eliminatorische Antisemitismus verharmlost und in seiner historischen Einmaligkeit relativiert. Wenn die PalästinenserInnen als die Antisemiten von heute verurteilt werden, liegt darin ebenfalls eine Schuldabwehr und eine Relativierung der Shoah.

So wenig wie Israel im Umgang mit den PalästinenserInnen Auschwitz wiederholt, so wenig taugen die drastischen Bilder der Judenvernichtung für die Beschreibung des palästinensischen Antizionismus. Beide Seiten bedienen sich dieser Bilder, um eine eindeutige und drastische Position zu formulieren, die die legitimen Interessen der Gegenseite ausblendet. Ob Benyamin Netanyahu Yassir Arafat mit Hitler gleichsetzt oder José Saramago die Vernichtungslager der Nazis in den besetzten Gebieten zu erkennen glaubt, beide Vergleiche dienen nur dazu, der politischen Abscheu vor dem Gegner eine nicht mehr steigerungsfähige Dimension zu verleihen und bezeugen nichts als die Hilflosigkeit vor einer politischen Tragödie. Doch während Netanyahu mit diesem Vergleich seine Politik legitimiert, verleiht Saramago nur seinem Entsetzen über die israelische Besatzungspolitik mit einem falschen historischen Bild Ausdruck.

Hinter bedingungsloser Solidarität steht nichts anderes als die Flucht vor einer historischen Verantwortung und der Analyse einer komplexen politischen Situation, in der es sehr wohl Parteien, Ideen und Individuen gibt, die man verstehen kann und mit denen man sich solidarisch erklären sollte. Undifferenzierte, bedingungslose Solidarität wird notwendig falsch und ungerecht. Sie dient weit eher dem Bedürfnis einer Linken, die eine Identifikation mit den Opfern sucht, als einem linken Ein- und Widerspruch.

Eine Linke, die ihren Namen verdient, sollte sich gegen die brutale Besatzungspolitik der israelischen Regierung wenden und sich für die legitimen Rechte der PalästinenserInnen stark machen. Denn es liegt heute primär am israelischen Staat, die Gewalt im Nahen Osten zu beenden.