Die Türken vor den Toren

Wenn das Referendum in Irland nicht scheitert, dehnt sich die EU nach Osten aus. Nur die Zukunft der Türkei ist ungewiss.

Wenn am Samstag die Iren über den Vertrag von Nizza abstimmen, stehe »die europäische Zukunft von Nationen in Europa auf dem Spiel«, mahnte der zuständige EU-Kommissar Günther Verheugen in der vergangenen Woche. Schon einmal, im Juni des vergangenen Jahres, waren die Iren zu einem Referendum über die gleiche Frage aufgerufen. Zum Entsetzen Brüssels lehnten sie ab. Für den Fall eines erneuten Neins zu dem Vertragswerk, das die Grundlage für die Erweiterung bildet, gibt es offiziell keinen Plan B.

Es dürfte das letzte Mal sein, dass ein Land der Peripherie ein wichtiges Ziel der EU gefährdet. Deutlicher als üblich hatte der Rheinische Merkur bei passender Gelegenheit kommentiert: »Malta braucht keinen eigenen EU-Kommissar in Brüssel, Rumänien darf gar nicht erst die Möglichkeit erhalten, mit seinem Veto die Union lahm zu legen und Lettland soll Deutschland und Frankreich nicht daran hindern können, als Avantgarde des Einigungsprozesses auf bestimmten Feldern verstärkt zusammenzuarbeiten.« Der Vertrag von Nizza war ein Schritt in diese Richtung, weitere sind geplant.

Wenn die Iren aber zustimmen, und darauf deuten die jüngsten Meinungsumfragen hin, steht einer Ausdehnung gen Osten nichts mehr entgegen. Dann dürften die Staats- und Regierungschefs der Union Mitte Dezember in Kopenhagen der in der letzten Woche vorgelegten Empfehlung der EU-Kommission folgen und die Aufnahme von zehn neuen Mitgliedern im Jahr 2004 beschließen. Nur Rumänien und Bulgarien müssen sich gedulden.

Noch länger gedulden muss sich die Türkei, der einzige Staat unter den 13 Kandidaten, mit dem nicht einmal Verhandlungen begonnen wurden und in dessen Fall es ungewiss ist, ob es jemals dazu kommen wird. »Beachtliche Fortschritte« attestierte die Kommission in ihrem »Fortschrittsbericht«, aber dennoch erfülle »die Türkei die politischen Bedingungen nicht vollständig«.

Bestärkt sehen sich nun vor allem die Konservativen. Die sicherheitspolitische Bedeutung der Türkei für Europa sei »unbestreitbar«, kommentierte die FAZ. »Durchaus bestreiten aber lässt sich, dass die Türkei zu Europa gehört, wenn man Geografie und Geschichte, Kultur und politische Verfasstheit betrachtet.«

Die Ablehnung eines türkischen Beitritts stützt sich auf vier Punkte. Erstens könne er eine große Migrationswelle auslösen. Zweitens könne das kriselnde Land den Haushalt der EU immens belasten. Drittens könne die Türkei ein ihren 65 Millionen Einwohnern entsprechendes Mitspracherecht in den Gremien beanspruchen. Viertens schließlich hätten die Türken einst Wien belagert und gehörten deshalb nicht dazu.

Allerdings will niemand die Türkei in die real existierende EU aufnehmen. Vorher soll die EU so transformiert werden, dass sich um ein »Kerneuropa« weitere Staaten gruppieren, die punktuell mit dem »Gravitationszentrum« (Fischer) zusammenarbeiten und weniger Rechte und Pflichten haben. Und Fragen wie »Was ist Europa?« oder »Wo endet Europa?«, die im Zusammenhang mit der Türkei gerne in die Debatte gebracht werden, sind zutiefst ideologisch. Tatsächlich handelt es sich bei der EU weder um eine »Wertegemeinschaft« noch um einen Club zur Bewahrung christlich-abendländischer Traditionen, sondern um einen Staatenverbund, der politische, ökonomische und militärische Ziele verfolgt.

Welche Interessen aber könnte die EU an einer Aufnahme der Türkei haben? Unmittelbar wirtschaftliche stehen nicht im Vorderund. Denn die Türkei ist nicht nur die älteste Kandidatin - ihr Antrag stammt aus dem Jahr 1987 -, sondern auch das einzige Land, das eine Zollunion mit der EU eingegangen ist, ohne ihr anzugehören. Entsprechend lobt die Kommission: »Im Zollbereich ist die Harmonisierung nahezu vollständig.« Übersetzt in die weniger blumige Sprache der Buchhaltung bedeutet das ein Defizit von knapp 13,2 Milliarden Euro, das die Türkei im Handel mit den EU-Staaten im Jahr 2000 einfuhr.

Die Interessen liegen also woanders. Als die EU auf ihrem Gipfel von Helsinki im Dezember 1999 die Türkei als Beitrittskandidatin anerkannte, wurde auch ein weiterer wegweisender Beschluss gefasst: die Gründung einer EU-Armee. »Wir Europäer wollen und werden mitbestimmen, wenn die Spielregeln festgelegt werden für die globale Ordnung des 21. Jahrhunderts«, sagte Gerhard Schröder kurz darauf. Dafür aber müssen sie sich mit der Türkei arrangieren, der wegen ihrer Lage inmitten der Krisengebiete des Balkans, des Kaukasus, Zentralasiens und des Nahen Ostens eine große geostrategische Bedeutung zufällt.

Früher als die Europäer erkannten das die US-Amerikaner. So machte sich Georg Bush senior nach dem ersten Golfkrieg für die europäische Integration Ankaras stark. Einige Jahre später flüsterte einer der Vordenker der US-amerikanischen Außenpolitik, Zbigniew Brzezinski, die USA müsse unbedingt die Stabilität der Türkei sichern und deren Abdriften ins islamistische Lager verhindern. Daher müssten die USA ihren »Einfluss in Europa nutzen, um die Zulassung der Türkei zur EU zu fördern, und darauf bestehen, die Türkei als einen europäischen Staat zu behandeln«.

So rudimentär die bürgerlichen Rechte und Freiheiten ausgeprägt sein mögen, die Türkei ist das einzige islamische Land, das zumindest die Grundzüge einer bürgerlichen Gesellschaft aufweist und dessen Orientierung an der Moderne nicht allein von den mächtigen Generälen, sondern auch von einem gewichtigen Teil der Bevölkerung befürwortet wird.

Das beweist auch die türkische Außenpolitik, ihre engen Beziehungen zu Israel eingeschlossen. Im Zusammenhang mit der Irak-Krise zeigt sich einmal mehr die Bedeutung des Landes für die USA. So kursierte in der letzten Woche in Ankara das Gerücht, der US-Botschafter Robert Pearson habe im türkischen Außenministerium um die Erlaubnis zur Benutzung von drei Luftwaffenstützpunkten gebeten. Dass sich Ankara bislang zurückhält, liegt vor allem an der Angst vor einem Kurdenstaat, der in der Folge eines Krieges im Norden des Irak entstehen könnte.

Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass die Türkei das US-amerikanische Ansinnen zurückweist. »Wenn wir nicht bei der Operation dabei sind, könnte es sein, dass wir auch bei den folgenden Grenzregelungen nicht gefragt werden«, kommentierte jüngst die Tageszeitung Hürriyet. Allerdings müsse die Türkei »auch darauf achten, dass unser Beitrag seinen Preis hat«.

Einen Preis dürfte man auch in Kopenhagen fordern. Wohl deshalb blieb nach der Veröffentlichung des Kommissionsberichts - obwohl er nicht den erhofften Termin für den Beginn von Verhandlungen nannte -, der Entrüstungssturm aus, den türkische Medien und Politiker zu organisieren pflegen, wenn sie sich schlecht behandelt fühlen. »Ich bin nicht ohne Hoffnung«, sagte Ministerpräsident Bülent Ecevit im Hinblick auf den Gipfel.

Dabei darf er auf die Unterstützung von der anderen Seite des Atlantiks hoffen. Schon vor dem Bericht hatte Washington versucht, Druck auf die Kommission auszuüben. Entsprechend verärgert fiel die Reaktion aus. Eine möglichst enge Verbindung zwischen der Türkei und der Europäischen Union sei im strategischen Interesse der USA, der EU und auch der Türkei, ließ der Sprecher des State Department, Richard Boucher, wissen.

Dieses Engagement erweckt in Europa einen weiteren, nur selten ausgesprochenen Vorbehalt. Die USA wollen mit der Unterstützung der Türkei nicht nur deren Westbindung verstärken, sondern auch einen Staat in die EU lotsen, der zwar ein verlässlicher Verbündeter der USA, ansonsten aber ein divenhafter Verhandlungspartner ist. Die Türkei wäre also ein trojanisches Pferd, das den Aufstieg der EU zu einer ernsthaften Konkurrenz sabotiert.

Sollten die Europäer in Kopenhagen dabei bleiben, den Türken keinen Termin zu nennen, wäre das nicht nur ein Affront gegen Ankara, sondern auch gegen Washington.