Über Joachim Kaiser und Frédéric Beigbeder

Lies das!

Joachim Kaiser und Frédéric Beigbeder wissen, was man lesen muss.

»Was man wissen muss«, »Was man lesen muss«, derartige Diktate werden von Großbildungswesiren regelmäßig aufgestellt, damit sich Debatten daran entzünden mögen und besorgte Eltern und Pädagogen einen Leitfaden in der Hand halten. Nach Pisa gilt das um so mehr, schließlich hat die Studie belegt, dass deutsche Schüler unendlich dümmer sind als andere. Das muss sich natürlich ändern, die Deutschen müssen wieder ertüchtigt werden, findet zumindest der Großkritiker Joachim Kaiser, der einen Stein von Buch, den mordwaffentauglichen Wälzer »Das Buch der tausend Bücher«, herausgegeben hat.

In seinem Vorwort stellt er fest, dass es mit dem Aufopferungswillen der jungen Deutschen nicht mehr allzu weit her ist. Bereit dazu, »im Namen der Literatur zu leiden« und sich durch alte deutschsprachige Volkskunst zu lesen, sind sie gerade noch, wenn es um Schiller und Goethe geht. Bei Wilhelm Raabe, Franz Grillparzer oder gar Friedrich Gottlieb Klopstock würden sie jedoch viel zu schnell aussteigen. Die Ursachen für diesen Missstand kennt Kaiser, der zuletzt ziemlich unangenehm aufgefallen ist, indem er Martin Walsers »Tod eines Kritikers« in der Jungen Freiheit verteidigt hat, natürlich auch: »Die deutsche Geschichte, der fatale historische Bruch, bewirkt von der Nazi-Katastrophe, dazu die Entwicklung unserer Hochsprache und unserer Medien mögen das alles verschuldet haben.« Dass niemand mehr den alten Klopstock lesen mag, liegt also nicht etwa daran, dass den jungen Deutschen die Bücher von Don DeLillo mehr geben als die ollen Oden, sondern hat tiefere Gründe.

Dass sich im »Buch der tausend Bücher« dann doch nicht Klopstock und Co. zu Ungunsten der übrigen Weltliteratur ausbreiten, macht dieses Standardwerk dann aber doch recht angenehm. Überhaupt bietet es etwas, das es vom ungleich umfangreicheren »Kindler« oder anderen Literaturlexika abhebt. Es versteht sich nämlich nicht nur als Literaturlexikon, sondern schlicht als Bücherlexikon. Somit sind dann auch viele Sachbücher eingemeindet worden, die zu irgendeiner Zeit mit irgendeinem Thema die Menschen beschäftigt haben. Um Aufnahme ins »Buch der tausend Bücher« zu finden, ist also weniger die Absegnung des Großkritikers gefragt, sondern massenkultureller Zuspruch. Was erfolgreich war, was die Menschen irgendwann einmal bewegt hat, ist mit von der Partie. Große kritische oder gar ideologische Auseinandersetzungen mit Werken und Personen darf man freilich nicht erwarten, Sachlichkeit ist King, aber dass die Welt der Bücher nicht an den Grenzen Deutschlands endet, und wirklich Werke aus der ganzen Welt aufgenommen wurden, fällt dann, gerade bei einem derartigen Vorwort, positiv auf.

Es ist »also durchaus möglich, dass wir in der Zukunft eine Gesellschaft hervorbringen, die mit Shakespeare überhaupt nichts anzufangen wüsste«, schreibt der marxistische Literaturtheoretiker Terry Eagleton, bei dessen Worten der berüchtigte Kanonisierer und Shakespeare-Verehrer Harold Bloom Herzkreislaufprobleme kriegen dürfte. Den Kanon als etwas zu begreifen, das den Menschen gehört, das war auch der Ansatz, der Frédéric Beigbeders »Letzte Inventur vor dem Ausverkauf - Die 50 besten Romane des 20. Jahrhunderts« zugrunde liegt. Fnac und Le Monde hatten einen Fragebogen verschickt, den sechstausend Franzosen ausfüllten, woraus nach einer Vorauswahl von 200 Buchtiteln die 50 wichtigsten Werke des 20. Jahrhunderts herausgefiltert wurden. Beigbeder, der Literaturkritiken verfasst hat und mit dem Roman »39.90« einen Bestseller landete, kommentiert die Werke süffisant, immer mit Witz und so, als ob er eine Hitparade moderieren würde, was er im Endeffekt ja auch tut.

Die Top 50 sind natürlich ziemlich französisch eingefärbt. Platz eins wäre in Deutschland wohl der »Zauberberg« von Thomas Mann, der hier nur auf Rang 40 landet. Dafür sind mit »Tim und Struppi« von Hergé und »Asterix der Gallier« von Goscinny und Uderzo zwei Comics weit vorne gelandet, das wäre in einem deutschen Kanon wohl niemals passiert. Das Buch der Bücher des 20. Jahrhunderts ist »Der Fremde« von Albert Camus. Was man davon halten soll, darüber dürfen Sie nun streiten.

Joachim Kaiser (Hg.): Das Buch der tausend Bücher. Harenberg, Dortmund 2002, 1247 S., 50 Euro

Frédéric Beigbeder: Letzte Inventur vor dem Ausverkauf . Die fünfzig besten Romane des 20. Jahrhunderts. Rowohlt, Reinbek 2002, 170 S., 16,90 Euro