Workfare für alle

Die geplanten Arbeitsmarktreformen werden vom fordistischen Sozialsystem nicht viel übrig lassen.

Sozialstaatsforscher haben allen Grund zur Freude. Denn es mehren sich die Anzeichen, die die These von der Transformation des bundesdeutschen Sozialstaats zu bestätigen scheinen. Workfare nun auch in Deutschland. Wer hätte das gedacht? Aber es funktioniert. Der jüngste Schritt in diese Richtung sind die Reformvorhaben der Hartz-Kommission, die mit Leistungskürzungen und schärferen Zumutbarkeitsregeln die Arbeitslosenstatistik frisieren will.

Das Ziel der rot-grünen Bundesregierung, »Arbeitslose so schnell wie möglich wieder in Arbeit zu bringen«, klang bereits bei ihrem Regierungsantritt 1998 angesichts einer Arbeitslosigkeit von über vier Millionen wie eine Drohung. Zwar korrigierte Rot-Grün damals einige sozialpolitische Maßnahmen der Kohl-Regierung. Einschränkungen bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und beim Kündigungsschutz wurden revidiert, Rentenkürzungen wurden ausgesetzt. Aber die neue Regierung machte weder Leistungskürzungen im Bereich der Arbeitslosen- und Sozialhilfe noch die Verschlechterungen im Streikrecht rückgängig. Wie der arbeitsmarkt- und sozialpolitische Kurs unter Gerhard Schröder und Joseph Fischer aussehen sollte, war zu diesem Zeitpunkt keineswegs ausgemacht.

Die Richtung zeichnete sich deutlicher ab, als der Hoffnungsträger aller Keynesianer, Oskar Lafontaine, im März 1999 vom Amt des Finanzministers zurücktrat und drei Monate später Bundeskanzler Schröder und der britische Premierminister Tony Blair einer Idee des Keynesianismus, dem deficit spending, eine Absage erteilten. »Moderne Sozialdemokraten wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett in die Eigenverantwortung umwandeln« , lautete ab sofort die Devise der New Labour-Deutschen.

An den »modernen Sozialdemokraten« ist vor allem eines »modern«: das Vokabular. Das Leitbild ist der aktivierende Staat, der seinen Bürgern nicht mehr den Weg von der Wiege bis zur Bahre ebnen will, sondern partnerschaftlich sagt, wo es langgehen soll. Im Dezember 1999 formulierte das Kabinett sein neues Denken unter der Überschrift: »Moderner Staat - moderne Verwaltung«. Dabei legte Rot-Grün besonderen Wert auf die Feststellung, dass man nicht einfach eine Politik des »schlanken Staates« fortführen wolle. Statt einfach Leistungen zu kürzen, gehe es vielmehr um einen »kreativen Umbau« des Staates.

In der Arbeitsmarktpolitik wie in anderen Politikbereichen wurde die Sozialstaatskrise zunächst mit äußeren Gründen erklärt. Auf der einen Seite habe die alles umfassende Globalisierung, auf der anderen Seite der »demographische Faktor« Schuld an der Entwicklung. Regierung, Arbeitgeber und Gewerkschaften haben aber auch interne Gründe dafür verantwortlich gemacht und »Fehlkonstruktionen« des Sozialsystems hervorgehoben, wie etwa starre Arbeitsmarktregularien, zu viel Bürokratie oder das zu hohe Niveau der Sozialleistungen, das zu wenig »Anreize« zur Aufnahme einer Arbeit biete. In diesem Zusammenhang war auch häufig zu hören, dass der Sozialstaat ein vermeintliches »Anspruchsdenken« erst hervorbringe. Mal klagte Gerhard Schröder die »faulen Arbeitslosen« an, mal wurde eine »soziale Hängematte« konstatiert, die der Grund dafür sei, nicht arbeiten zu wollen.

Die Reform der Bundesanstalt für Arbeit folgt einem ähnlichen Muster. Nachdem bereits im Mai 1999 existenzsichernde, sozial- und tarifrechtlich befestigte Löhne von den sozialdemokratischen Benchmarking-Experten Wolfgang Streeck und Rolf G. Heinze als »Luxus« bezeichnet wurden, sah man das Problem schnell in den Rechten der Arbeitslosen und der Arbeitnehmer, die zum Wohle der Betroffenen nun weiter beschnitten werden sollten.

Gegen die vermeintliche Irrationalität des bisherigen Systems der sozialen Sicherung setzt die Bundesregierung systematisch auf ökonomische Rationalität. Sowohl das »Job-Aqtiv-Gesetz«, als auch das Mainzer Kombilohnmodell entsprechen der Philosophie des aktivierenden Staates. Kombiniert wird diese Politik mit dem Ziel, die Sozial- und die Arbeitslosenhilfe zusammenzuführen, also die Arbeitslosenhilfe abzuschaffen. Ende März dieses Jahres wurde im Spiegel ein »geheimes« Papier der sozialdemokratisch geführten Bundesländer zitiert, in dem die Zusammenführung gefordert wurde. Inzwischen ist dieser Plan von der SPD, den Grünen, den Unionsparteien und der FDP akzeptiert, die jeweils einen eigenen Gesetzesantrag in den Bundestag eingebracht haben.

Peter Hartz, der Leiter der Kommission »Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt«, geht noch einen Schritt weiter und will noch das Arbeitslosengeld einbeziehen. Gleichzeitig arbeitet eine weitere regierungsamtliche Expertengruppe an diesem Thema. Mitte Mai konstituierte sich die »Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen«. Sie besteht aus zwei Arbeitsgruppen, von denen eine unter dem Stichwort Kommunalsteuern die Einnahmen behandelt. Die Ausgaben heißen nicht etwa Kommunalsausgaben, sondern »Arbeitslosenhilfe/Sozialhilfe«. An den Deutungen und Vorschlägen dieser »Experten« scheint inzwischen offensichtlich kein Weg mehr vorbei zu führen. Niedriglohnpolitik und Verarmung sind dabei Ziel und Motor dieser Entwicklung.

Christoph Butterwegge, Politikprofessor aus Köln, bezeichnete die Leitlinie der rot-grünen Bundesregierung als »Marktradikalismus, gemildert durch eine demonstrative Konsens- und Kompromissbereitschaft« und als »Leistungsorientierung«, die »in gewisser Weise abgefedert durch soziales Verantwortungsbewusstsein« sei. »Neoliberalismus plus« ist vielleicht ein treffenderer Begriff. Denn im Mittelpunkt der aktuellen Politik steht das staatlich geförderte Marktsubjekt, der gemeine homo oeconomicus. Das Ideal ist die »Ich-AG«, der Arbeitskraftunternehmer: Boss, Betriebsrat, Kollege und Ware Arbeitskraft in einem. Das »plus« ist dabei das schlechte Gewissen, die verinnerlichte Leistungsbereitschaft, der konsensuale Zwang zur Arbeit.

Mit der Bundesanstalt für Arbeit scheint nun die »letzte Bastion« (Joachim Hirsch) des alten fordistischen Sozialstaates gefallen zu sein. Workfare statt Welfare ist der neue Regulationsmodus des Sozialstaates. Aber auch wenn heute zu Recht beklagt wird, dass der Sozialstaat immer mehr zur Arbeit zwingt, war es nie wirklich anders. Denn kapitalistische Märkte, erst recht die Arbeitsmärkte, haben sich zu keiner Zeit urwüchsig, allein ökonomisch herausgebildet. Und für Arbeitskräfte gilt das schon gar nicht.

Der Sozialstaat entlastet zwar einerseits Lohnarbeiter von dem Zwang, sich unter jeden Umständen als Arbeitskräfte verdingen zu müssen, im Politologenjargon »Dekommodifizierung« genannt. Andererseits »produziert« er eben auch erst Arbeitskräfte (»Kommodifizierung«). Hieran wirkt der moderne Staat genauso mit, wie es der historische getan hat. In Zeiten des »Traums immer währender Prosperität«, auch Fordismus genannt, zeigte sich dieses Doppelgesicht von Kommodifizierung und Dekommodifizierung vor allem für den männlichen Industriearbeiter recht freundlich.

Systematische, für sein Funktionieren notwendige Nebenwirkungen lagen im geschlechterhierarchischen Familienmodell und der Gewissheit, ein klar vorgezeichnetes Leben zu führen: Ausbildung - Arbeit - Rente. Wer herausfiel, erhielt aus Gründen des Warenabsatzes, aber auch des Bürgerrechts Sozialhilfe - wenn auch immer schon mit der stetigen Aufforderung, wieder arbeiten zu gehen. Doch beide Gründe gelten heute nicht mehr. Im Workfare State geht es um »Freiwilligkeit«. Aber um eine Freiwilligkeit, die erst erzwungen werden muss.