Die Documenta XI

Everything But the Girl

Ein Selbstversuch, auf der Documenta XI alles in fünf Stunden zu besichtigen.

Das fängt ja gut an. Den ersten Zug, den ich mir rausgesucht hatte, habe ich bereits verschlafen. Den zweiten sollte ich kriegen. Am Alexanderplatz kaufe ich eine Karte, wobei ich feststelle, dass die Documenta-Sonderangebote der Bahn keinen Sinn machen, wenn man eine Bahncard hat. Typisch. Darüber verpasse ich beinah auch die zweite Verbindung. Aber nur beinahe. Montagmorgen um 9.41 Uhr sitze ich im ICE nach Kassel. Anders als vor vier Jahren, als die Loks noch alle das Documenta-Logo trugen, lässt der Zug äußerlich nichts davon erkennen, dass die Bahn auch dieses Jahr wieder der Hauptsponsor und »Official Carrier« der Veranstaltung ist. Generell sollen sich die Sponsoren in diesem Jahr sehr zurückhalten und ihr Engagement nur dezent kommunizieren, war zu lesen.

Ich war noch nie auf einer Documenta. Bei den Nummern I bis VII war ich entweder noch nicht geboren oder zu klein. Bei den Nummern VII bis X kam irgendwie immer etwas dazwischen, bis sie auch schon wieder vorbei waren. Diesmal wird alles anders. Dabei habe ich schon wieder das meiste verpasst. Von den ersten vier als »Plattformen« titulierten Bestandteilen der Documenta XI, die anscheinend das gesamte letzte Jahr über als Blockseminare irgendwo in der Welt ausgetragen wurden, habe ich so gut wie nichts mitbekommen, außer dass es um Politik und Globalisierung ging. Immerhin bin ich jetzt unterwegs, Versäumtes nachzuholen und mir die »Plattform 5« anzuschauen. Kompakt. An einem Tag. Obwohl mich alle, mit denen ich darüber sprach, warnten, man brauche mindestens zwei Tage, besser eine Woche.

Komisches Wort, denke ich, Plattform. Und doch, der Begriff könnte für die nuller Jahre das werden, was »Netzwerk« für die zweite Hälfte der Neunziger war. Michel Houellebecqs letztes Buch hieß so. Kürzlich las ich ein Interview mit der Chefin von Ebay, die davon sprach eine »weltumspannende Handelsplattform« auszubauen, das muss man sich mal bildlich vorstellen.

Im aktuellen Spiegel lese ich, was mich nicht erwartet: bunte Bilder junger Künstler. Die seien gerade in Paris zu sehen. Keine Ahnung, was mich statt dessen erwartet. Ich war auch noch nie in Kassel. In Kassel-Wilhelmshöhe steige ich aus, weil es noch am ehesten nach Kassel klingt. Es sind gefühlte 35 Grad Celsius. Der Bahnsteig ist wüst und leer. Die Spur der Hinweisschilder verliert sich auf einem Parkplatz mit einem merkwürdigen Achtzigerjahre-Gestänge in Telekom-Rosa und Miami-Vice-Türkis. Ist das schon Kunst? Wieso halten ICE in Kassel eigentlich nicht am Hauptbahnhof? Mit der um 25 Minuten verspäteten Regionalbahn fahre ich zum Hauptbahnhof, vorbei an sattgrün bewaldeten Hügeln, die Ausläufer des Harzes sein könnten. Ich bin in Kassel.

Davon, dass auch der Haupt- alias »Kulturbahnhof« diesmal in das Konzept einbezogen wurde, ist nicht viel zu merken. Auf dem Vorplatz werden in einer rustikalen Blockhütte »Kovac's Grillspezialitäten« feilgeboten. Ein Trupp internationaler Kunstkritiker lagert um einen Waschbetonspringbrunnen, trinkt ironisch Dosenbier und diskutiert die neuesten »Positionen« moderner Kunst. Auch so ein Modewort. Ich folge den Hinweisschildern durch eine verpisste Unterführung, in der abscheuliche Achtziger-Jahre-Staeck-Plakate verkauft werden. Um 13 Uhr stehe ich vorm Fridericianum, das, wie man hört, das Herz der fünften Plattform bilden soll.

Wo es passiert. Tatsächlich steht dort auf den Stufen ein Mensch, den ich aus dem Fernsehen zu kennen glaube. Es ist Okwui Enwezor, der künstlerische Leiter der Documenta XI, der sich mit der Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer und einer Handvoll weiterer Geschmackslegastheniker ablichten lassen muss. Schade, dass ich keinen Fotoapparat dabei habe. Während das Polit-Kaffeekränzchen geschlossen in legerem Rentnerkhaki angetreten ist und unglaublich scheiße aussieht, trägt Enwezor unter einem gut geschnittenen dunklen Anzug ein Paul-Smith-Hemd mit eingewebten Farbstreifen und sieht unglaublich gut aus.

Wenn sich hier einer auskennt, dann er. Während er mir mit seinem Montblanc-Kuli ein Autogramm gibt, frage ich auf englisch, was ich denn dringend sehen müsste, wenn ich nur zirka fünf Stunden Zeit hätte. »It is not possible in five hours«, versetzt er höflich aber bestimmt. »We have completely different scenarios here. I must encourage you to see everything.« Spricht's und ist verschwunden. Szenarios heißt das jetzt also, nicht mehr Positionen. Und man muss alle sehen. Ich darf den netten Herrn Enwezor nicht enttäuschen. Kurz überlege ich, im hässlichen Fünfziger-Jahre-Vertreterhotel am Bahnhof um ein Einzelzimmer nachzusuchen. Dann denke ich: Nein, es muss gehen, ich habe fünf Stunden Zeit, Countdown läuft!

Die Augen müssen sich erst an das Dunkel im Inneren des Fridericianums gewöhnen. Meine Strategie ist: Alles anschauen, alles auslassen, was auf den ersten Blick langweilig aussieht oder länger als fünf Minuten dauert. Man ist ja vorgewarnt. Im ersten Raum gleich: Stühle die falsch zusammenmontiert sind, an den Wänden Darstellungen von geschundenen Kreaturen auf grober Jute, »We can disappear you«-Graffiti. Platte Symbolismen und Ein-Eindeutigkeiten, denke ich, die gut aufs Cover des Jahresberichtes von Amnesty International passten. In der ersten Videonische eine unverputzte Backsteinwand, in der zweiten verbrennendes Gras, verbrannte Erde. Szenarios eben. Betroffen gehe ich weiter, von Raum zu Raum.

Neben der eindeutigen Präsenz quasidokumentarischer oder symbolüberfrachteter Videos aus aller Welt, die auch auf jedem Kurzfilmfestival gut aufgehoben wären, mache ich hier bereits drei weitere Trends aus. Erstens die Hinwendung zum Text bzw. zum Konzept: Im Atrium des Museums hängen über alle Stockwerke hinweg gerahmte Din-A4-Blätter mit Zahlen und Ziffernfolgen. Es handelt sich um Hanne Darbovens mathematisch-musikalisch-konzeptionelles Werk »Kontrabasssolo«, das demnächst auch vollständig in Noten rückübersetzt zur Aufführung gebracht werden soll. Vielleicht sollte man das mit dem über tausendseitigen Ausstellungskatalog, den ich inzwischen mit mir herumschleppe, auch machen, denke ich. Ecke Bonks »Buch der Bücher« ist ein digital aufbereitetes Exzerpt aus 482 Lieferungen »Grimms Wörterbuch«, das auf die Wand projiziert wird. Im Schneckentempo scrollen die Worte - vermutlich über die gesamte Ausstellungsdauer hinweg - von der Decke hinunter. Gerade ist die Liste bei »Eckenwurm« angelangt, was auch immer das sein soll.

Konzeptkunst auch Maria Eichhorns »Maria Eichhorn Aktiengesllschaft«, die aus der Gründung nämlicher besteht. Dokumentiert wird der gesamte Papierkrieg, der zur Gründung einer Aktiengesellschaft erforderlich ist, deren Geschäftzweck der reine Selbstzweck ist. »Das Vermögen soll weder in die gesamtwirtschaftliche Geldzirkulation einfließen, noch zur Mehrwertschöpfung verwendet werden«, heißt es in der Satzung. Die 50 000 Euro Gründgungsguthaben liegen wohlverstaut hinter Panzerglas. Noch Konzeptkunst oder schon Buddhismus? - On Kawaras verwaistes Tonstudio »One Million Years«. Irgendwann müssen darin Sprecher gesessen haben, die man nun von Band hört, und aus zehn dickleibigen Bänden die Jahreszahlen der letzten eine Million Jahre abgelesen haben. Ganz zu schweigen von den Menschen, die sie abgetippt und gesetzt haben. Der helle Wahnsinn!

Ein zweiter Fokus der Ausstellung ist das Alltagsarchivarische und die Mikroethnologie. Wie sah und sieht der Alltag von Menschen in aller Welt aus? In diesem Kontext stehen auch Dieter Roths »Tagebuch« auf Super-8-Film von 1982 und seine merzbauhafte »Tischruine« oder Isa Genzkes »Spiegel 1991«, eine Fotoserie, kombiniert aus den nicht untertitelten Bildern eines Jahrgangs des Spiegel.

Dritter Trend: eindeutig Plasmabildschirme. Der Plasmabildschirm lässt alles gleich viel besser aussehen und könnte demnächst sogar die Videoprojektion mittels Beamer beerben und ablösen. Die Erfindung des Plasmabildschirms wird einst als historischer Wendepunkt gelten, die der bildenden Kunst den Ausweg aus ihrer Krise wies, indem sie die Synthese aus Videokunst und Tafelbild ermöglichte. Da bin ich mir ziemlich sicher.

Weniger sicher bin ich mir, was die Slogans angeht. Insgesamt ist ja wenig zu sehen von Pop, Hochglanz und Konsumwelt, zugunsten des redlichen Engagements. Aber auch hierbei ist der Claim nicht ganz außen vor, die Tendenz zur verkürzten Parole ist spürbar. Irgendwo lese ich: »Anything, anywhere, fast«. Bei Raymond Pettibon steht inmitten comicartiger Versatzstücke der allerjüngsten Gegenwart zu lesen: »Throw away your burkhas!« Man wird das weiterverfolgen müssen. Sehenswert noch Chantal Akermans »On the other side«, drei Räume mit Flachbildschirmen, die thematisch den Tortillavorhang zwischen Mexiko und den USA umkreisen.

Um 14 Uhr bin ich mit dem Fridericianum durch und liege gut in der Zeit. Es ist unglaublich heiß. In der wenige Schritte entfernten Documenta-Halle lauert die nächste Prüfung: eine sich über drei Räume erstreckende materialreiche Arbeit zum Palästina-Konflikt unter besonderer Berücksichtigung der Landkartenproblematik. Endlose Texttafeln im Halbdunkel. Das geht nun echt nicht. Ich lasse sie links liegen und gelange in die große Halle, die ganz auf »Interaktion« ausgelegt ist und an den Mehrzweckraum eines besseren Jugendzentrums erinnert. Verschiedene »Projekte« werden hier vorgestellt. An einem langen Tisch sitzen Jugendliche vor Plasmabildschirmen und tun alles, was Jugendliche immer tun, wenn sie umsonst ins Internet können, nur nicht das, was sie sollen.

Fast schon ein wenig rührend: In einer Spielecke mit bunten Sitzkissen wird ein Projekt der Kroatin Andreja Kuluncic präsentiert, das danach fragt, was mit »distributive justice« eigentlich gemeint sei, und das versucht, die verschiedenen volkswirtschaftlichen Ansätze von Marx über Rawls bis Dworkin zu systematisieren und anschaulich zu machen. Eine hochkomplexe Thematik. Leider interessiert sich niemand für diese in der Tat wichtige Grundlage vieler politischer Aussagen. Slogans dafür auch hier: »Vermisste Personen, umgehend melden!« und »Keine Täter, nur Opfer«. Am erfrischendsten: »Spielpavillion 2002«, eine vom Kameruner Pascal Marthine Tayou zusammengezimmerte Blockhütte, laut, lustig, unangepasst, wie das Auftreten der afrikanischen Mannschaften bei der Fußball-WM. Auf einem Fernseher in der Ecke läuft die Live-Übertragung eines Tennisspiels, weil Fußball schon vorbei ist. Raus hier!

Der Weg hinunter zur Orangerie wird gesäumt von bunten Ethno-Flohmarktständen, die lustige bunte Hüte und Holzkrawatten anbieten. Irgendwie passt das. Auf der Karlsaue liegen bis auf die Unterwäsche entblößte Kunstkritikerinnen und sonnen sich. Der Programmpunkt Orangerie besteht dankenswerterweise nur aus einer einzigen Arbeit, »Spec« der Gruppe Simparch, die noch dazu super ist. Es handelt sich um eine bewegungssensitive Klang-Krach-Installation in einem langen Tunnel. Vielleicht klingt so Techno in 20 Jahren.

Die wenigen Outdoor-Kunstwerke sind schwer zu finden. Dominique Gonzales-Foerster hat ein hübsches lateinamerikanisches Ensemble gestaltet, das an die Aufbruchstimmung des Kontinents in den Sechzigern erinnert, aber leider ein wenig im stinkenden Matsch der Karlsaue versinkt. Erst bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass es sich bei der großen Frontscheibe des Betonpavillons um einen riesigen Flachbildschirm handelt. Ein Geschwader aus drei majestätischen Erpeln landet formvollendet auf einer der Grachten, irgendwo schlägt eine Kirchturmuhr drei. Zeit für die dritte reguläre Station, die alte Binding-Brauerei. Es geht eine Viertelstunde an der Fulda entlang, über eine Brücke, vorbei an Baustellen. Was ich wegen der blauen Fahnen von weitem für den Ausstellungsraum halte, entpuppt sich als Aral-Tankstelle. Ich habe mich verlaufen und verliere Zeit. Mein Hemd ist durchgeschwitzt. An einem Spezialgeschäft steht »Die Kunst des Angelns«, auf einer Satellitenantenne »SatAn«. Alles erscheint mir mit einem Male bedeutsam .

Schließlich erreiche ich doch die Brauereihallen. Die Simparch-Leute von eben haben in einer Vorhalle eines der wohl coolsten Skaterparadiese kasselweit aufgebaut, eine swimmingpoolartige Mulde aus Holzplatten. Aus den Boxen pluckert sehr okayer Techno. Wegen der Hitze ist niemand da, und ich wünsche, dass Wasser darin wäre und man hineinspringen könnte. Vor der Halle soll ein Gypsi-Taxi zu einem ominösen Bataille-Monument fahren, dass ich auch unbedingt noch sehen muss. Der Abfahrtsplatz ist verwaist, nur eine Tafel, die nach Volxküche und Jugendzentrum aussieht, weist ihn als solchen aus. Später, vielleicht.

Die Halle überfordert mich komplett. Wieder Eskimo-Ethnofilme auf Monitoren. Ein Labyrinth aus Videokabinen. Videos vom Alltag der Arbeitenden oder Arbeitslosen. Schwer vermittelbar. Dazwischen grelles Scheinwerferlicht. Schmerzgrenze erreicht. In einer Dunkelschleuse zur nächsten Videonische renne ich voll vor eine Wand. Taumele in den Raum »Flux 3.0« der Gruppe Asymptote, wo mich unglaublich dreidimensionale Cyber-Amöben angreifen. Im nächsten Raum liegt Kaffee auf dem Boden und ein Stapel Graubrote in einer Ecke. Luftschnappen im Außenbereich. Endlich mal Malerei bzw. so etwas Ähnliches, sehr flashige großformatige Popart-Collagen von Fabian Marcaccio, die an Gerhard Richter und Jeff Koons erinnern. Mit Slogans als Titel wie »End of Mainstream«, »Political Roccoco« und »Undoin the State«.

Wieder in der Halle, Allan Sekula befasst sich in »Seemansgarn« mit dem Motiv des Cargocontainers. Neulich las ich, dass der Container mehr für die Globalisierung getan habe als das Internet. Und neuerdings bringen sie Leute damit um. War das Lager die Universalmetapher des 20. Jahrhunderts, wird der Container die des 21. Da bin ich mir kurzzeitig sehr sicher. Die endlosen Gänge lassen an »Shining« denken. Und richtig, in Marc Menders' »Reduced Room« steht auch die Schreibmaschine mit einem Doppelzentner Papier daneben. »Was du heute kannst besorgen ...« Plötzlich taucht auch Bataille auf, in Cerith Wyn Evans »Cleave '02«, einem Darkroom mit Zimmerpalme und riesiger Diskokugel, klebt sein Text über die allgemeine Bedeutung der Ökonomie und die Unvermeidlichkeit des Krieges. Das sehe ich gerade genau so. Feng Mengabos »Q4U« kommt da gerade recht. Es ist eine Ego-Shooter-Simulation im Stil von »Counterstrike«, bei der man glatzköpfige hornbebrillte Kunstkritiker abballern kann. Ich reagiere mich ein Weilchen ab, danach geht es mir besser.

16.30 Uhr, wieder vor der Halle. Keine Spur vom Gypsi-Taxi. Scheißhippies bringen meinen Zeitplan durcheinander! Ich hab noch nichts getrunken. Bei einem der Mädchen, die mit merkwürdigen Schubkarren in der ganzen Stadt herumstehen, kaufe ich ein Eis. Aber nicht irgendeins, sondern ein »Disappearing Element«. »Es ist gefrorenes Leitungswasser«, erklärt das Mädchen. »Der Künstler will damit auf die allgemeine Wasserproblematik aufmerksam machen. Grün symbolisiert Süßwasser, grau Brackwasser und blau Salzwasser. Welches möchten Sie?« Ich entscheide mich für Brackwasser und denke über die allgemeine Wasserproblematik nach. Der Klotz ist so kalt, dass er die Zähne gefriert. Kunst muss auch weh tun, denke ich. An der Bushaltestelle wieder Antje Vollmer. Kinder verkürzen den Wartenden die Zeit mit kleinen Tricks aus einem Zauberkasten.

Um 17 Uhr stehe ich mit Sack und Pack wieder auf dem Bahnhofsvorplatz. Zeit genug, sich noch den letzten Ausstellungsteil im Kulturbahnhof zu geben. Und endlich mal eine Videonische in voller Länge. Pavel Braila, »Shoes for Europe«, 26 Minuten. Man sieht Arbeiter bei Nacht, Kräne, Züge, gewaltige Manipulationen, Schwerindustrie. So entspannend wie die Nachtschleife aus dem Zugcockpit im Fernsehen. Ein litauischer Künstler erklärt mir die Bilder. Die Standardspurbreite für Züge in Europa und Asien sei eine andere, deshalb müssten an der moldawischen Grenze alle Achsen und Radsysteme gewechselt werden. Vielleicht eine schöne Metapher für das Kunstverständnis unterschiedlicher Kulturkreise. Die Documenta als kulturelles Umspannwerk oder so ähnlich.

Relaxed kann ich mir nun noch den Rest anschauen: Bodys Iskes Kingelez' Modell für »Manhattan City 3021«, über das alle schreiben: ein megalomanisches Disneyland, insgesamt aber eher belanglos; Fotos von Slums in Südafrika, Fotos von abgeriegelten Gated Communities in Südafrika, Fotos von White Trash in Memphis, Tennessee, Fotos von Fachwerkhäusern im Siegerland. Alles hängt mit allem zusammen, und mein Gefühl für die Welt ist ein anderes geworden. Ganz oben unterm Dach, sieht man, was passiert, wenn die aus den einen Fotos zu denen aus den anderen Fotos wollen. »Solid Sea« von Multiplicity ist ein interdisziplinäres Projekt, dass sich mit der Migration nach Europa befasst und fragt: »Was passiert im Mittelmeer?« In Aufzeichnungen einer Unterwasserkamera sieht man das Schiff, mit dem 1996 vor Malta 238 illegale Flüchtlinge versanken. Vielleicht hat das mit Kunst gar nicht mehr so viel zu tun, interessant ist es trotzdem. Und eindringlicher als eine Spiegel-Titelgeschichte zum selben Thema. Und ein guter Schlusspunkt.

Um Punkt 18 Uhr bin ich durch. Ich esse noch einen Whopper bei Burger King und denke dabei intensiv an den argentinischen Regenwald. Dann setze ich mich in den Zug. Ich hab es geschafft, die ganze Plattform 5 in fünf Stunden! Okwui Enwezor wäre stolz auf mich. Von innen durchs getönte Zugfenster sieht die Landschaft aus wie auf einem Plasmabildschirm.

Die Documenta XI läuft noch bis zum 8. September