Theorie & Praxis V

Die Weltformel

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Das Internet ist eine überaus nützliche Erfindung mit einem, zumindest für die kapitalistische Logik, entscheidenden Haken: Man kann so ziemlich alles mit ihm machen, aber nur schwerlich Profit. Die ungelöste Frage, wie man im Internet Geld verdienen kann, hat schon so manchem hoffnungsvollen Startup-Unternehmen das Genick gebrochen. Ich darf in aller Bescheidenheit bekannt geben, dass ich die Antwort gefunden habe. Sie ist, so viel vorweg, verblüffend einfach.

Zur Jahreswende kam in dem Internet-Forum, das mir zur elektronischen Stammkneipe geworden ist, die Idee auf, die Fußballergebnisse der verbleibenden 16 Bundesligaspieltage zu tippen. Schnell fand sich ein Kreis von 18 Mitspielern, die jeweils 40 Euro Wettgeld einzahlten. So erwartete den Sieger ein ansehnliches Sümmchen, und entsprechend hoch motiviert beugte ich mich über den ersten Spielplan. Freiburg gegen Nürnberg, das könnte, na, sagen wir mal, 2:1 enden. Und Stuttgart gegen den HSV? Auch 2:1, warum nicht? Gladbach - Kaiserslautern, 1860 München - Köln, Schalke - Bayern ... eigentlich klang für jede Paarung 2:1 plausibel. Also trug ich spaßeshalber acht Mal 2:1 in die Liste ein, nur meinen Lieblingsverein Werder Bremen wollte ich als Ausnahme mit 3:0 in Cottbus gewinnen lassen.

Tatsächlich endete an jenem Wochenende eine Partie mit 2:1 - und zwar Cottbus gegen Bremen. Anderntags bleckte mich unverstellte Häme vom Bildschirm an. Ich wurde (nicht zu Unrecht, wie ich zugeben muss) als ahnungsloser Dilettant verlacht, mein Tipp als »Mädchenstrategie« verspottet, auf diese billige Tour, so musste ich lesen, sei ja wohl kein alter Blumentopf zu gewinnen.

In mir erwachte Trotz. Ich gehöre zu den dickschädeligen Menschen, die einen Fehler lieber immer und immer aufs Neue wiederholen, als ihn einzugestehen. Einige Tage später hackte ich, die neuen Spielansetzungen nur mit halbem Auge überfliegend, stur ein neunfaches 2:1 in die Tastatur. Wieder gellte mir aus den Tiefen des weltweiten Netzes schrilles Hohngelächter entgegen, das jedoch am Sonntagabend jäh erstarb: Ich hatte, zu meiner eigenen Überraschung, kräftig gepunktet. Nach dem dritten Spieltag führte ich mit meiner grobschlächtigen Wettstrategie die Tabelle der Tippgemeinschaft an.

Machen wir es kurz: All die Fußballcracks hatten gegen die plumpe Durchschlagskraft meines unbedarften 2:1-Geblödels nicht die geringste Chance. Sie studierten sorgfältig die Fachpresse und wussten genau, ob diesen oder jenen Profi dieses oder jenes Zipperlein plagte, ob kühle Witterung und somit eine eingeschränkte Spielfreude der brasilianischen Stars zu erwarten war, ob ein Verein einen neuen Platzwart hatte und mithin eine verringerte Wahrscheinlichkeit bestand, dass den Spielern die richtigen Stollen an die Schuhe geschraubt wurden. Aus unzähligen Faktoren errechneten sie mit mathematischer Exaktheit, dass St. Pauli gegen Bayern München nicht mit 1:3, sondern mit 1:4 verlieren würde. St. Pauli gewann. Und zwar mit 2:1.

Zu den Vorteilen der Internet-Kommunikation gehört, dass man zwar geschmäht, beschimpft, geschnitten, bedroht, verflucht und angefeindet, aber nicht verprügelt werden kann. So konnte ich unversehrt und unbekümmert Woche für Woche ein papageienhaftes 2:1, 2:1, 2:1 ... in die Welt hinaus krächzen. Kaltblütig und präzise wie eine Maschine, selbst meinen geschätzten Bremern jede Fanleidenschaft verweigernd, wohl wissend, dass die Eltern allen Erfolgs Disziplin und Stumpfsinn heißen, brachte ich jedes Mal mit enervierender Berechenbarkeit mein stupides 2:1.

Und als am vergangenen Samstag Bayer Leverkusen trotz eines 2:1 gegen Hertha BSC den Meistertitel verpasste, weil zugleich Dortmund Bremen mit 2:1 besiegte, da war nicht nur der Jackpot geknackt, sondern auch die neue Weltformel gefunden. Einstein mag mit seinem E=mc2 ja einen hübschen Einfall gehabt haben, aber er war weit davon entfernt, das geheime, dunkle Gesetz zu entdecken, nach dem das Universum tatsächlich gesteuert wird. Die Lösung lautet auch nicht, wie weithin angenommen wird, 42. Sondern 2:1.