Von Neonazis angegriffene türkische Familie vor Gericht

Pirna schlägt zu

Obwohl ihr Imbiss Dutzende Male von Rechten angegriffen wurde, muss sich eine türkische Familie in Pirna vor Gericht verantworten.

Es ist ein düsterer Tag im November. 800 Menschen ziehen unter dem Motto »Zeichen setzen gegen rechte Gewalt und Rassismus« durch die Straßen der sächsischen Kleinstadt Pirna. Da greifen etwa 100 Neonazis den Demonstrationszug an. Sie werfen Flaschen und Steine und grölen ihre Parolen. Der Polizei, die anfangs nur mit 26 Beamten vor Ort ist, gelingt es erst nach längerer Zeit, die Rechten abzudrängen.

Doch sie sind nicht aus der Stadt verschwunden. Sie ziehen vor den Imbiss der Familie Sendilmen in der Fußgängerzone. Dort verhalten sie sich nun mit einem Mal völlig friedlich und werden von der türkischen Familie, von vier Erwachsenen und einer Minderjährigen, angegriffen.

So jedenfalls lautet die Version der Ereignisse des Jahres 2000, wie sie die Dresdner Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift formuliert. Die Familie Sendilmen erwartet am 12. März ein Prozess wegen gemeinschaftlicher schwerer Körperverletzung in acht Fällen, begangen in der Zeit von Anfang 2000 bis Januar 2001. Für die Verhandlung ist nur ein Tag angesetzt. 21 Zeugen wurden geladen, viele von ihnen sind Rechte.

Für die Staatsanwaltschaft ist der Tathergang klar. Jugendliche, die teilweise der rechten Szene angehörten, hätten sich in der Nähe des Lokals getroffen und seien dann von der Familie angegriffen worden. »Es scheint so, als habe die Familie die Rechten durch die ganze Stadt gejagt, mit dem Dönermesser in der Hand«, erläutert der Sprecher des Pirnaer Amtsgerichts, Ernst Brandt, lachend.

So lustig ist das Ganze für die Sendilmens jedoch nicht. Für sie stellt sich der Fall etwas anders dar. Zwölfmal in den vergangenen vier Jahren sei ihr Imbiss angegriffen worden. (Jungle World, 8/01) Am schlimmsten sei es am 13. Januar des letzten Jahres gewesen. Die Rechten hätten Naziparolen gerufen, den Hitler-Gruß gezeigt und Steine auf den Laden geworfen. Als Adem Sendilmen, der Vater der Familie, hinausgegangen sei, um die Angreifer zur Rede zu stellen, sei er niedergeschlagen worden. Die anderen Familienmitglieder seien verletzt worden, als sie dem Vater helfen wollten. Und die Polizei sei erst 20 Minuten später eingetroffen.

Nun droht den Sendilmens eine Freiheitsstrafe. Die Staatsanwaltschaft geht in der Anklageschrift nicht von Notwehr aus. Die Polizei sei nicht untätig gewesen, lautet die Begründung. Außerdem seien von den Jugendlichen vor dem Imbiss keine Angriffe ausgegangen. Deshalb wurde auch keiner der Rechten, die in die Auseinandersetzungen verwickelt waren, angeklagt. »Die Ermittlungsverfahren gegen die Rechten wurden alle eingestellt, da kein Tatverdacht bestehe«, erläutert der Anwalt der Familie, Stefan Schrage.

Es war die Pirnaer Rundschau, die nach den Ausschreitungen am Rande und nach der Demonstration vom 4. November ihrer Leserschaft die passende Bewertung präsentierte. Die Zeitung veröffentlichte ein Bild, auf dem die Mutter der Familie, Keziban Sendilmen, mit einem abgebrochenen Axtstil in der Hand zu sehen ist. In der Bildunterschrift wurde behauptet, dass die Frau »mit einem Dönermesser« auf die Rechten losgegangen sei. So sahen das auch die Mitglieder der inzwischen verbotenen »Skinheads Sächsische Schweiz« (SSS). Auf ihrer Internetseite schrieben sie im Januar 2001 nach erneuten Auseinandersetzungen vor dem Imbiss, dass Pirnaer Jugendliche von gewalttätigen Ausländern »mit Knüppeln und einem Dönermesser« angegriffen worden seien.

Die Pirnaer Bevölkerung boykottiert inzwischen den Imbiss der Familie Sendilmen. Eine Schülerin, die sich als eine der wenigen noch ihren Döner im Antalya-Grill holte, erzählte Selda Sendilmen, dass sie lieber nicht mehr kommen werde. Ihre Lehrerin habe im Unterricht vor den Leuten im Imbiss gewarnt, das seien böse Ausländer.

Angesichts dieser Stimmung in Pirna ist es kein Wunder, dass es auch niemanden störte, als die Inhaberin der Drogerie »Sonnenschein«, Rosemarie Herber, ihre Vorstellungen von einem Zusammenleben zwischen Deutschen und Ausländern in ihrem Schaufenster präsentierte. »Ausländer haben hier zu warten! Sie können ihre Wünsche äußern. Unmittelbar in das Geschäft nur noch mit Begleitperson (Mitarbeiter, Chefin)«, stand auf der handbeschriebenen Tafel, die seit dem Oktober des vergangenen Jahres gut sichtbar zwischen Einkaufskörben und Tourismuswerbung für die Sächsische Schweiz hing.

Erst Mitte Dezember beschwerte sich eine Dresdnerin bei der Stadtverwaltung. Herber verteidigte das Schild mit den Worten, dass Ausländer »stürmisch sind und schnell etwas herunterreißen«. Außerdem ließen sie auch mal was mitgehen. Die Sächsische Zeitung (SZ) machte den Fall öffentlich, und nach Berichten in überregionalen Medien verschwand das Schild Mitte Januar aus dem Schaufenster. Der Vorsitzende des Tourismusvereins Pirna, Steffen Kandalofsky, gab schließlich in einem Leserbrief der SZ die Schuld daran, dass die Stadt in einem schlechten Licht dastehe. »War es die Absicht der Lokalredaktion, dem Image der Stadt Pirna sowie dem Tourismus der Region nachhaltig Schaden zuzufügen?«

Dabei sorgt die Bevölkerung selbst dafür, dass ausländische Touristen einen großen Bogen um die Region machen. Mitglieder der Afro-Europäischen Bürgerinitiative klagen über alltägliche Angriffe und Beschimpfungen. Straßen- oder Bürgerfeste gelten für sie als besonders gefährliche Orte. »Auch Badeanstalten versucht man zu meiden, abends sowieso, da muss man nicht auf der Straße sein«, berichtete Inge Bittermann-Mutouo im Dezember im ZDF. Und ihr Ehemann Paulino Pilima fügte hinzu: »Für mich ist es eindeutig, dass die Ordnungshüter praktisch die Probleme dulden. Die schauen einfach weg.«

Ähnliche Vorwürfe erhebt auch die Familie Sendilmen. Immer wenn sich die 20 bis 50 Rechten vor dem Imbiss zusammengerottet hätten, habe sie die Polizei angerufen, erklärt Selda Sendilmen, die Tochter der Familie. »Aber bis die Polizei kam, waren die Nazis weg. Die Polizei drehte eine Runde, dann kamen die Nazis wieder.« Der Pirnaer Polizeisprecher Gerhardt Wellner weist diese Vorwürfe allerdings weit von sich. »Wir sind immer so schnell wie möglich zu dem Imbiss gekommen, und wenn wir observiert haben, gab es keine Vorfälle.« Außerdem gebe es Beispiele dafür, dass die Familie nicht nur Rechte bedroht habe. Der Polizeisprecher räumt allerdings ein, »dass da auch Menschen rumstanden, die möglicherweise eine rechte Gesinnung hatten«.

Das dürfte eine Untertreibung sein. Mindestens drei Zeugen in dem Prozess gegen die Familie Sendilmen waren Mitglieder der SSS. Der sächsische Innenminister, Klaus Hardrath (CDU), verbot die Skinhead-Gruppe im vergangenen Frühjahr unter anderem mit der Begründung, dass die SSS Übergriffe auf Ausländer geplant und ausgeführt habe. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen 80 Personen. Ende Januar ging vor dem Pirnaer Amtsgericht ein Prozess gegen drei Mitglieder der SSS zu Ende. Sie hatten im Oktober zwei Jugendliche in Pirna zusammengeschlagen. Einer der Täter wurde zu zehn Monaten Haft verurteilt. Anklage und Verteidigung hatten sich zuvor darauf verständigt, dass die Mitgliedschaft in der SSS mit der Gewalttat nichts zu tun habe.