Autorität für Antiautoritäre

Mit seinen verdrehten Thesen zur »Holocaust-Industrie« erweist sich Finkelstein als Spezialist verkürzter Kapitalismuskritik. Das gefällt auch den linken Antizionisten.

Es war eine Illusion zu glauben, nach einjähriger Diskussion seiner abstrusen Vorwürfe gegen jüdische Organisationen und seiner schrillen Thesen zur »Holocaust-Industrie« gälte Norman G. Finkelstein im neuen Deutschland zumindest links der Mitte als erledigter Fall. Im Gegenteil setzen einige deutsche Linke auf Finkelsteins Werbewirksamkeit bei der Verfolgung ihrer politischen Ziele. Pünktlich zur Berliner Finkelstein-Show erschien am vergangenen Freitag ein »Aufruf von Jüdinnen und Juden an die israelische Regierung«, demzufolge Ariel Sharon und Ehud Barak »die Region in Brand gesetzt« hätten. Neben dem »sofortigen, vollständigen und bedingungslosen Rückzug von allen 1967 gewaltsam angeeigneten und besetzten Gebieten« wurde die »Rückkehr und Entschädigung« der palästinensischen Flüchtlinge gefordert. Was dann von Israel bliebe, war Verfassern und Unterzeichnern keine Reflexion wert. Ganz oben auf der Liste der 600 Unterzeichner aus Israel, den USA und anderen Staaten fanden sich Noam Chomsky und Norman G. Finkelstein.

Auch die Präsentation des Buches durch den Verlag bedient manchmal mehr, meistens minder reflektierte Wertsetzungen, die hierzulande gemeinhin als links angesehen werden. Finkelsteins »leidenschaftliche Anklage« kritisiere die »Amerikanisierung und Verkitschung des Gedenkens«; diese beleidigten die »Würde der Opfer«. »Auf Kosten der Opfer« nutzten Interessenverbände »den Holocaust für eigene Zwecke«. Die USA und Israel instrumentalisierten den Holocaust, »um von eigenen Problemen abzulenken«.

Nun gehören Verdrehungen zur verkehrten Welt der Werbung. Verwunderlich ist nur, wer so alles dieser seltsamen Attraktion erliegt, obwohl die schäbige Argumentation Finkelsteins im letzten Jahr bereits hinlänglich bekannt worden ist.

Finkelstein arbeitet mit zwei Argumentationskomplexen. Der titelgebende Begriff »Holocaust-Industrie« spricht einen Vulgärmaterialismus an, der Marx' Denken auf die bloße Frage, »Wem nützt es?«, reduziert oder gar völlig aufs Ressentiment heruntergekommen ist. Und mit seinem Antizionismus rennt Finkelstein bei deutschen Linken, die ihre Vergangenheit aktiv entsorgen, indem sie sich an die Seite der Verdammten dieser Erde stellen, nämlich an die Seite der »Opfer der Opfer«, offene Türen ein.

Beide Attraktionsmomente sind antiamerikanisch grundiert. Das eine Mal geht es primär um kulturellen Antiamerikanismus, der gerne über »Hollywood« schwadroniert, aber von Gütersloh oder Köln nicht reden will - das ist die weit über die Linke hinaus verbreitete Variante. Das andere Mal wird der Antiamerikanismus antiimperialistisch artikuliert - hier überleben Propagandaformeln wie die von Israel als »Brückenkopf« des US-Imperialismus und als Flugzeugträger auf dem Weg zum Öl fort.

Auch etliche der öffentlich vernehmbaren Kritiker Finkelsteins gehen seinem Begriff »Holocaust-Industrie« auf den Leim. Doch dieser Begriff ist untauglich, und zwar nicht nur wegen der nachweisbaren Vorläufer im Neonazismus (vgl. Jungle World, 7/01), die alles andere als zufällig sind. Zwar mag es pfiffig wirken, wie Rafael Seligmann u.a. unter Hinweis auf Verlagsmarketing, Medienaufmerksamkeit und Höhe der Buchauflage zu behaupten, Finkelstein sei selbst Teil der »Holocaust-Industrie«. Nur: Finkelstein meint nicht die im Kapitalismus keineswegs verwunderliche Tatsache warenförmiger Produktion von belletristischer und geschichtswissenschaftlicher Literatur über den Holocaust, was viel treffender mit Horkheimers und Adornos Begriff der »Kulturindustrie« zu benennen und zu kritisieren wäre.

Finkelstein fasst seinen Begriff und die zugehörige These vielmehr so zusammen: »Der Holocaust, lautet die Hauptthese meines Buches, ist zu einer Industrie geworden. Jüdische Eliten beuten, im Einvernehmen mit der amerikanischen Regierung, das entsetzliche Leiden der Millionen von Juden aus, die während des Zweiten Weltkrieges umgebracht wurden, ebenso wie das der wenigen, die es schafften zu überleben - aus Macht- und Profitgründen.« Die angebliche Ausbeutung des Leidens der Opfer geht indes nach Finkelsteins Darstellung der »Entstehungsgeschichte der Holocaust-Industrie« nicht den normalen ökonomischen Gang, ihre Subjekte seien ganz bestimmte Agenten und Agenturen, und sie bedienten sich krimineller Mittel wie »Erpressung«.

Metaphorisch baut Finkelstein die Brücke zum Krieg, indem er behauptet, »jüdische Eliten« nutzen die Erinnerung an den Holocaust als »machtvolle Waffe«. Die wichtigsten Absichten der »Holocaust-Industrie« seien die Durchsetzung jüdischer Interessen in den USA und darüber hinaus die Unterstützung Israels. »Um Israels Druckmittel für Verhandlungen (in der zweiten Häfte der siebziger Jahre im Nahen Osten; A.S.) zu stärken, steigerte die Holocaust-Industrie ihre Produktionsrate«, heißt es beispielsweise im Buch. Somit ist Finkelstein weit entfernt von dem, was sich mancher, der über die mediale Vermarktung des Holocaust zornig ist, unter dem Begriff zusammenreimt.

Wer angesichts dieses Hintergrunds auf Finkelsteins Begriff hereinfällt, sitzt schon in der Falle. Das gilt auch, wenn man dessen Geltung auf die USA beschränkt und wie Enzo Traverso in dem linken deutschen Blatt Avanti das Buch als »politisch überzeugende Kritik an der amerikanischen ðHolocaust-IndustrieЫ liest oder wie Klaus Bittermann meint, man könne in den USA »im Gegensatz zu Deutschland tatsächlich von einer ðHolocaust-IndustrieÐ und von ðHolocaust-KitschÐ sprechen«.

Für sich antiimperialistisch gerierende deutsche Linke hält Finkelstein zum Beweis seiner Lauterkeit nicht nur den Hinweis auf seine Eltern bereit, sondern auch seine Verdienste um die palästinensische Sache. Diesem Zweck dienen auch die häufigen Verweise auf Noam Chomsky. Chomsky trat in der Woche für Finkelsteins Buch ein. Der Holocaust werde seit den späten sechziger Jahren von den USA und von Israel ausgebeutet, u.a. zur »Rechtfertigung der israelischen Besetzung im Nahen Osten«. Chomsky habe, so heißt es in Finkelsteins »Danksagung«, »jede Phase der Entstehung dieses Buches« mit seinem »Beistand« (assistance) begleitet. Der Linguist vom Massachusetts Institute of Technology (MIT), immerhin die weltweit am häufigsten zitierte lebende Person, als Kritiker des US-Imperialismus eine Legende, Jude, in seiner Jugend Zionist und damit in seinem Engagement als strammer Antizionist über jeden Verdacht erhaben, war also Finkelsteins Assistent. Wer da nicht ins Schwärmen gerät!

Was Chomsky recht ist, kann Finkelstein nur billig sein. Die Chomsky-Fans haben sich nicht weiter darum gekümmert, dass dieser seit mittlerweile mehr als einem Jahrzehnt immer wieder für die Redefreiheit von Holocaust-Leugnern eingetreten ist. Sowas lässt man Chomsky durchgehen, denn er steht bekanntlich immer auf der richtigen antiimperialistischen Seite. Seine Autorität wirkt zu Finkelsteins Gunsten, gerade in Kreisen, die sich als antiautoritär und libertär verstehen und zugleich vom Antizionismus nicht lassen wollen.

Die traditionalistischen deutschen Linken, die mit Autoritarismus nun wirklich keine Probleme haben, können auf den libertären Chomsky verzichten. Linke Kritik am linken Antizionismus, die immerhin seit dem zweiten Golfkrieg stärkere Verbreitung fand, stößt hier auf taube Ohren. In Reinform formuliert diese Linie gewöhnlich Werner Pirker im antizionistischen Kampfblatt junge Welt. Seine Finkelstein-Rezeption war erwartbar und damit simulierbar. Dass er pünktlich geliefert hat, spart dem Analytiker die hypothetische Simulation.

Pirker erkennt in Finkelstein einen Linksradikalen und einen jüdischen Antizionisten. Dass er dem »historischen Materialismus« die Treue hält und die Werte der Aufklärung für sich in Anspruch nimmt, indem er die »Auschwitz-Erinnerungskultur, wie sie gepflegt wird«, als »in ihrem Wesen antiaufklärerisch« abkanzelt, mag ihn von den Rechten unterscheiden. Seine weiteren Formulierungen machen die Unterscheidung indes schwer. Finkelsteins Kritiker seien »Hüter der korrekten öffentlichen Meinung«, »Pfaffen des moralischen Konformismus« und »Verfolger kritischen Denkens«, und sie wollten »unstatthafte Gedanken zum Massenmord an den Juden« verhindern. Dankbar nimmt Pirker Finkelsteins Angriffe auf die These von der Singularität des Holocaust auf. »Das Bestehen auf der Einzigartigkeit jüdischen Leidens erklärt Finkelstein aus dem ideologischen Bedürfnis des Zionismus, im Verhältnis zu anderen Völkern einzigartig agieren zu können. Daß also Israel erlaubt sein müsse, was das Völkerrecht anderen verbietet.«

Israel hat endlich ein normaler Staat unter normalen Staaten zu sein, so lautet die implizite Forderung. Sanktionen und vielleicht gar ein UN-Einsatz wären dann völkerrechtlich legitimiert, ohne weitere Blockade durch die Erinnerung an das Grauen von Auschwitz könnte man endlich auch Israel das verbieten, »was das Völkerrecht anderen verbietet«. Nebenbei bekämen mit dem erfolgreichen Angriff auf die Singularität des Holocaust Steffen Heitmann, Martin Walser und andere Kritiker der »Pfaffen des moralischen Konformismus« Recht. Und auch die Deutschen wären »endlich ein normales Volk unter normalen Völkern«.