300 Jahre Preußen

Der Archipel Preußen

Von der Richtlinienkompetenz bis zum Kanzleramt: Die Berliner Republik ist durchzogen von Spuren des Preußentums.

Auf den ersten Blick könnte es fast absurd erscheinen, die Berliner Republik mit dem längst abgeschafften Staatsgebilde »Preußen« in Beziehung zu setzen. Es ist zunächst nur der Ort, der hellhörig macht. Warum hat sich fast der halbe Bundestag gegen den Regierungsumzug gewehrt? Warum wurde er dann noch jahrelang verschleppt?

Bis heute warnen Westdeutsche immer wieder vor »Preußen«. So der bayerische Kultusminister Zehetmair, der im gewesenen Kulturbeauftragten Michael Naumann einen preußischen Zentralisten sah, aber auch der SPD-Abgeordnete Klaus Barthel, der als kulturpolitischer Sprecher seiner Fraktion verhindern will, dass die Bevölkerung sich womöglich »über die Pickelhaube« mit der neuen alten Hauptstadt identifizieren muss. Auch die Angst einiger Redakteure der FAZ vor Angela Merkel gehört in diesen Kontext. Eine von »Merkel und Wulff«, dem niedersächsischen Neoliberalen, geführte CDU »wäre eine nord-/ostdeutsche CDU mit Distanz zum rheinischen Erbe«, sah Georg Paul Hefty am 30. Dezember 1999 voraus. Was soll man sich unter »Nordostdeutschland« vorstellen, wenn nicht das Gespenst des Norddeutschen Bundes, also Preußens?

In der neuen Hauptstadt deutet zunächst nichts auf Preußen hin, außer der Architektur. Staatsarchitektur ist schon immer ein Mittel zur Volkserziehung gewesen. Der von Schinkel und seinen Schülern geprägte Archipel präsentiert Preußen im griechischen Gewand, quasi als Akropolis mit lauter edlen Säulen. Es ist ein Kunstgenuss, vor dem Stüler-Bau zu stehen, in dem die Sammlung Berggruen untergebracht ist, oder Unter den Linden entlang zu wandern, eine Straße, die mit einer Brücke endet, deren Figurenprogramm das Selbstopfer eines Kriegers auf dem Altar des Vaterlands darstellt.

Am anderen Ausgang steht das Brandenburger Tor: ein Triumphbogen für die siegreich einziehende Armee, die vorher den Tiergarten durchquert haben muss, sehr symbolisch aus der zitierten, gepflegten Wildnis in die Kultur zurückkehrend. In diese Kultur, die sich mit fremden Säulen schmückt.

Sich selbst zeigt sie nicht, darin besteht die Erziehung, und man ahnt bereits, dass da womöglich gar nichts ist, was gezeigt werden könnte. Nur die berühmte preußische Pflicht könnte vorgewiesen werden, aber die ist leer, sie hebt nicht auf bestimmte Inhalte ab, sondern nur auf die Form des Gehorsams gegenüber der inneren oder auch äußeren Stimme. In der Mitte jener Wildnis die Siegessäule, heute wieder umkreist und passiert von Autoflotten ausländischer Regierungschefs. Hoch oben geht der Engel der Geschichte auf Preußen zu, um es zu bekränzen, denn der Sieg über Frankreich war mehr als ein Sieg, er wurde im Auftrag des göttlichen Weltregiments errungen. Deshalb auch die Reihen goldener Pimmel im unteren Bereich: eroberte Kanonenrohre in Erektion.

Die Beziehung dieser Vergangenheitsspuren zur Gegenwart der Berliner Republik ist zunächst nur eine spielerische. Es gibt ja so viel andere Architektur. Der Kanzler will nicht ins preußische Stadtschloss umziehen, sollte dieses wieder aufgebaut werden, wofür er sich einsetzt. Zur Zeit regiert Gerhard Schröder im früheren Gebäude des ZK der SED, in dessen Stirnwand ein Fenster des Stadtschlosses eingebaut ist. Es erinnert an den Ort, wo Karl Liebknecht die deutsche sozialistische Republik proklamierte. Nun ist es die Berliner Republik geworden. Der Bezug zum Stadtschloss ist nur noch ein lustiges Ornament, gar nicht mehr polemisch, eher eine postmoderne Beliebigkeit, ein Zitat ohne Funktion wie an vielen Wohnhaus-Neubauten der letzten Jahre.

Doch wir reden über Preußens Mauern, die vielleicht doch nicht so gleichgültig sind, wie es Gerhard Schröder scheinen mag. Das noch im Bau befindliche neue Kanzleramt stellt alles Preußische, von dem bisher die Rede war, in den Schatten. Es ist eine Mischung aus Trutzburg und Kaaba. Mehr noch, es erinnert an den Kuppelbau, den Albert Speer nach dem Krieg bauen wollte: Abgesehen davon, dass das Dach ohne Kuppel auskommt, diese dafür aber in riesigen halbkreisförmigen Fenstern zitiert wird, ist der Unterschied nicht groß.

Helmut Kohl hatte sich intensiv in die Architekturplanung eingeschaltet. Warum erwärmte er sich für ein solches Symbol der Übermacht? Dass er, bevor sich die deutsche Vereinigung abzeichnete, an eben diesem Ort sein Museum der deutschen Geschichte errichten lassen wollte, mag als Hinweis dienen. Die Berliner Republik ist die Folge der deutschen Vereinigung. Deren Manager war Kohl. Und Kohls Beziehung zu Preußen ist bekannt. Er hat es als positiven Bezug einer deutschnationalen Identität begriffen. Vor allem den preußischen Militärgeist hielt er für grundanständig. Bei seinem Auftritt in Bitburg ehrte er sogar gefallene SS-Soldaten. Im neuen Kanzleramt ist dies zu Architektur geronnen.

Im Grundgesetz war nie ein Kanzleramt vorgesehen, doch schon Konrad Adenauer begann es aufzubauen, und jeder Kanzler nach ihm weitete es aus. Es besteht heute aus Hunderten von Beamten. Wofür braucht der Kanzler diese Hundertschaften, da er doch mit Richtlinienkompetenz über die Ministerien herrscht? Die Macht des Kanzlers ist viel größer, als es der »Richtlinien«-Begriff vermuten läßt, denn er darf nach dem Grundgesetz jeden Streit zwischen Ministern schlichten und kann ihn vorher mittels des Kanzleramtsministers selbst vom Zaun brechen. Anderswo genießen Minister das Vertrauen des Parlaments und nicht bloß des Kabinettsvorsitzenden, der denn auch nur Premierminister oder Ministerpräsident heißt und nicht Kanzler, Lordsiegelbewahrer oder dergleichen. Anders als der Bundestag haben westeuropäische Parlamente das Recht, Minister einzeln abzusetzen. Warum vereinigt der Kanzler so viel Macht in seiner Person? Weil das schon in Preußendeutschland so war.

Bismarck, der erste preußische Reichskanzler, regierte zunächst nur mit einem Reichskanzleramt ohne Minister. Als dann aus den Abteilungen des Amtes die Minister hervorgingen, konnten sie natürlich vom Reichstag nicht entlassen werden. Denn auch den Kanzler selber konnte nur der Kaiser entlassen. In der Weimarer Republik wurde der Kaiser durch den Reichspräsidenten ersetzt, in der Bonner Republik gingen auch dessen Kompetenzen - zum Beispiel das Recht, Ministerien zuzuschneiden, von dem Schröder exzessiven Gebrauch macht - überwiegend auf den Kanzler über.

Das ist nicht die einzige preußische Spur. Schon der bloße Name Grundgesetz erinnert an die Verfassung des Norddeutschen Bundes: Sie hieß genauso. Schon sie war als Provisorium zur deutschen Vereinigung konzipiert und sah vor, dass die Vereinigung durch den Beitritt der anderen Staaten erfolgen sollte, wie es 1871 auch tatsächlich geschah. Das Bonner Grundgesetz erlaubte zwar auch eine andere Möglichkeit der Vereinigung, nämlich den Verfassungskonvent. Das war der seinerzeit von Preußen ausgeschlagene Weg, den die Nationalversammlung in der Paulskirche 1848/9 vorgegeben hatte. Aber bekanntlich wurde er von Helmut Kohl erneut abgelehnt. Der »Beitritt der neuen Länder« war die Geburt der Berliner Republik. So kamen die PDS und das Bündnis 90 in den ersten gesamtdeutschen Bundestag, der ohne sie nicht mehrheitlich für Berlin als Hauptstadt gestimmt hätte.

Spielt das alles eine Rolle für die Politik der Berliner Republik? Oder funktioniert das Preußische nur als eine Ansammlung von Hebeln, die in die eine oder andere Richtungen bewegt werden können? Es wird eine Rolle spielen. Das sind nicht irgendwelche Hebel, sondern es sind die Hebel jenes leeren Pflichtgefühls, von dem dieses Land bis heute geprägt ist. Sebastian Haffner hat Preußen als Staat begriffen, der sich infolge seiner inneren Leere die Staatsziele von jeweiligen Moden vorgeben ließ - mal Aufklärung, mal Romantizismus, mal Imperialismus. In diesem Sinne war Preußen immer militant modern. Wenn heute der Neoliberalismus als so hypermodern gilt, dann ist das eben auch wieder eine Mode, die neueste nunmehr; sie wird ausgeführt von Regierten und Regierenden der Berliner Republik mit derselben hackenknallenden Beflissenheit, die einst dem Hauptmann von Köpenick entgegenschlug.

Man hätte gewarnt sein können. In seiner Rede zur Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels berief sich Martin Walser auf Kleists Preußendrama »Der Prinz von Homburg«. Es ist in seinen Augen das Drama des freien Gewissens. Gewissensfragen, legt er dar, könnten nicht öffentlich erörtert, sondern nur gefühlt werden, und er fühle wie Kleist. Wie Kleist? Der Prinz von Homburg wird zum Tod verurteilt, weil er im Krieg etwas tut, was nicht schon vorher im Plan gestanden hat. Aber er lernt dazu. Er ist Schröder vergleichbar, der Kanzler wurde, weil er plakatierte »Wir haben verstanden«. In Zukunft wird der Prinz selbst dann nicht mehr »unberufen« helfen, wenn der Kurfürst »an Verderbens Abgrund« steht. Er selbst, sagt er nun, hätte nur den Tod über sich verhängen können: Das ist sein »Gewissen«. Dafür wird er begnadigt. Haben wir verstanden?