Schnittstellen II

Obdachlose am Flughafen

Sprache und Film, Filmsprache. Harun Farocki im Gespräch

Rembert Hüser: In deinem Film »Schnittstelle« setzt du dich mit deinem eigenen Arbeitsplatz auseinander, zu einem Zeitpunkt, wo du selbst zunehmend etabliert, ja kanonisiert bist. Wissenschaftler schreiben Promotionen über dich; dir werden internationale Retrospektiven auf Festivals und in Museen gewidmet; es gibt erste Video-Editionen. Farocki ist anerkannter Teil der Filmgeschichte. Kann sich eine Reflexion auf den eigenen Arbeitsplatz einschließlich des Wiederanschauens von eigenem Material zu einem Zeitpunkt, da dieser Klassikerstatus verstärkt thematisiert wird, von der eigenen Kanonisierung freimachen? Oder verändert das auch den eigenen Blick? Guckst du bei dir selbst z.B. mehr auf das »Werk« hin?

Harun Farocki: Wenn man 16 ist und z.B. Jimi Hendrix liebt, kann man nicht verstehen, wie der sich das Leben nimmt. Das würde man selbst nicht tun, wenn man so geliebt würde, wie man selbst Hendrix liebt. Ich stehe also nicht morgens vor dem Spiegel und sage mir: Jetzt stehst du endlich in der Filmgeschichte. Wobei dieses Buch Filmgeschichte auch immer mehr zerfleddert. Ich muss allerdings zugeben, dass ich da hingedrängt habe, und vielleicht weil das etwas peinlich ist, versuche ich hauptsächlich, mein kulturelles Kapital umzutauschen in Produktionsmittel. Und das ist nicht leicht.

Die Straubs sagen schon lange, dass es eine Filmgeschichte gar nicht gibt - denken wir an all die Leute im Studiosystem in Hollywood, für die so etwas wie ein Autorenstatus nicht passt, obwohl sie an interessanten Filmen beteiligt waren.

Heute ist Film so unübersichtlich wie Musik. Mir fiel in den USA besonders auf, dass es Subsysteme gibt, die den Zusammenhang mit anderen Verzweigungen nicht herstellen können. Es gibt zum Beispiel einen Korpus von Filmen, die in Filmdepartments gelehrt, diskutiert, beschrieben werden. Dazu gehören Filme von Laura Mulvey, wohl weil ihre Schriften für die feministische Filmtheorie so bestimmend waren, ein wunderbarer Film wie »Wanda« von Barbara Loden fehlt jedoch. Je mehr über einen Film geschrieben wurde, desto größer die Chance, dass wieder über ihn geschrieben wird, womit die Filmtexte wichtiger sind als die Filme.

Hüser: Das ist auch ein Problem der Archivierung. Filmlust läuft eigentlich über Video. Wer Spaß daran hat, sich über Licht-aus-Licht-an hinaus mit Film zu beschäftigen, operiert aus einer Video-Sammlung heraus. (Und freut sich dann, wenn er mal einen seiner Filme im Kino sehen kann.) Sonst geht man vom Kino nach Hause und sitzt wieder vor seiner Bücherwand. Wie war das noch gleich? Und findet dann vielleicht ein gutes Stück Nietzsche im Film. Auf der einen Seite müssen Mulvey und Loden also unbedingt im Fernsehen laufen, damit jeder sich den Film mitschneiden kann, auf der anderen Seite müssen die Mediotheken an den Unis daran gehindert werden, sich daran zu gewöhnen, alles umsonst zu kriegen. Dafür ist zuallererst ein Umdenken auf der Skala der Wertigkeiten erforderlich. »Video« ist im Anschaffungsetat der Bibliotheken eben noch lange nicht »Buch«. Das hängt auch damit zusammen, dass Video selbst bei Filmwissenschaftlern den Ruch des Schmierigen bis heute nicht losgeworden ist. Das eigene Fach glaubt nicht dran. Wie sieht dieses Problem aus der Perspektive der Filmemacher aus?

Farocki: Die Bedeutung von Video früher bestand ja auch nicht darin, dass jeder eine Kamera kriegen, sondern dass jeder einen Recorder erwerben konnte. Dass das Produktionsgeheimnis verschwand. Man konnte wirklich mal sehen, wie die Dinge gemacht waren. Es stimmte ja keine Beschreibung. In den Aufsätzen standen die absurdesten Dinge über irgendwelche Filme. Was da vorkäme oder wie es gemacht wäre. Das war alles unhaltbar. Ich finde es interessant, dass jetzt zwei Sachen zusammenfallen: Jetzt sind die Geräte so billig geworden, dass man fast ohne Geld etwas elektronisch produzieren kann, zugleich nimmt einem das Fernsehen das nicht mehr ab.

Als Hellmuth Costard früher versuchte, die Super-Acht-Technik zu verbessern, geschah das mit dem Ziel, mit weniger Geld, dafür aber einem größeren Zeitbudget etwas herstellen zu können. Genau das brauche ich auch: länger auswählen können, länger bedenken können, länger schneiden, sonst kommt nur der Standard heraus. Insofern sehe ich schon lange auf ein Werk.

Hüser: Bleiben wir noch beim Video. In den USA ist jetzt eine erste Edition deiner Filme erschienen. Wie wird das Produkt Farocki dort beworben? Kannst du mal die Cover zu deinen einzelnen Filmen beschreiben? Was für eine Auffassung von Dokumentarfilm kommt dort zum Ausdruck? Hattest du Einfluss auf die Auswahl der Bilder? Es sind ja nicht die Filmplakate.

Farocki: Facets in Chicago ist so etwas wie eine Super-Kinemathek, sie bieten 35 000 Titel an, und Milos Stehlik gibt sich größte Mühe, etwa in Kanada eine bessere Godard-Kopie aufzutreiben. Die Umschläge zu meinen Titeln sehen wohl so aus, als wäre ich ein DJ. Das lässt mich an Heiner Müller denken, der wie ein Warhol auftrat, wozu seine Texte ja gar nicht passten. Als wollte er die Texte schützen mit einem großen Ablenkungsmanöver.

Hüser: Könnte ein eigener Fernsehkanal für die Autorenfilmer von Vorteil sein? Der nur Farockis, Costards und Lodens einkauft?

Farocki: Es kann ja sein, dass der 150ste oder 300ste Kanal sich auch für meine Filme eignet, aber da wird es so wenig Geld geben, dass ich davon nicht mehr werde produzieren können. Wenn es schon kein Geld gibt, dann sollte ein solches Programm wenigstens von Underground-Leuten gemacht werden, sodass es wenigstens interessant ist. Wir brauchen sowieso neue Abspielmöglichkeiten.

Hüser: Im SZ-Feuilleton wurde im Kontext von Popkultur neulich ganz triumphal Houellebecq zitiert: »Wenn zum Beispiel in einer literarischen Unterhaltung das Wort Schreibweise fällt, weiß man, dass es Zeit ist, sich ein wenig zu entspannen. Sich umzuschauen, noch ein Bier zu bestellen.« Wie liest du im Zeitalter der Entspannung, wo man meint, man hätte die Schreibweisen glücklich überstanden, Filmkritiken? Wie erklärst du dir, dass der Status des eigenen Textes bei euch seinerzeit in der Filmkritik viel stärker, viel spielerischer reflektiert wurde als heute, wo Reflexionen auf das Performative allgemein zum guten Ton gehören?

Farocki: In der Jungle World erscheinen seit einiger Zeit sehr gute Texte zu Filmen, von Michael Baute, Ludger Blanke und Stefan Pethke. Bei denen denke ich, man könnte jetzt die Filmkritik wieder aufmachen. Auf einer Party mit vielen Film-Studis in Berkeley erzählte jemand von einem Mann auf Hawaii, der habe von einem Western eine sehr Derridasche Interpretation gegeben. In solch einem Moment bestätigen sich meine Vorurteile: Filmstudenten geht der Text über den Film, der mit der Textproduktion sogar aufgehoben ist (»ein Western«), das Denken leitet sich von Derrida her und nicht von einem Film. Was man sagen will, dazu ist der Film höchstens ein Vorwand.

Hüser: Solche Texte werden auch nur für die Parties geschrieben. Hier wäre es Deleuze. Oder Luhmann. Oder Enzensberger. Oder Butler, Turing oder Einkünstlerdergalerienagelauskölnnewyorkundberlin. Je nach Szene. Schade ist nur, dass das zu Grunde liegende Problem immer erst bei Theoretikern auf der momentanen Out-Liste wahrgenommen wird, deren Fans in den Erzählungen dann alle gleich schon auf Hawaii sitzen müssen, weit ab vom Zentrum. Dass ein Theoriediskurs umso weniger gedacht wird, just a bore ist, je namenslastiger und merksatzbesessener er daherkommt, gerät nie in den Blick. Womit der Hawaii-Mann aber natürlich ungelesen Recht hat, ist, dass viel mehr zu Western geschrieben werden müsste. Aber das war jetzt von dir kein grundsätzliches Verdikt gegen ein theoriegeleitetes Beobachten von Film, oder?

Farocki: Keineswegs, die Jahre in den USA haben mich dazu gebracht umzudenken. Zuvor hielt ich nicht viel von Fassbinder, nicht nur weil er so ausgreifend war, sondern auch, weil er kein Stilist war. Er kam ja mal von Straub her und Brecht und brach mit den Regeln dieser Schule. Er kam auf die Person zurück, die sich zur Identifikation anbietet, wenn auch meist in melodramatischer Übertreibung. Kaja Silverman und Thomas Elsässer haben dargestellt, wie bei Fassbinder die Politik in der Liebe dargestellt wird, die Ausbeutung in der Sexualität. Diese Schriften haben Fassbinders Filme bereichert, auch wenn ich sie sehe - nicht nur beim Lesen oder Denken. Ich habe auch verstanden, dass für Fassbinder etwas gilt, was ich nicht für möglich hielt: Dass er etwas mitteilen kann, was nicht in der »Sprache« seiner Filme festzustellen ist, sondern in seiner Mitteilungsabsicht. Seine Intention drückt sich aus; so wie man manchmal mit einer fremden Sprache mehr mitteilen kann, als eigentlich möglich sein kann. Das geht ja vor allem Liebenden so.

Hüser: In deinen Filmen gibt es eine kontinuierliche Beschäftigung mit Filmgeschichte; in einer Reihe von Filmen tritt diese Beschäftigung auch in den Vordergrund. Außer Godard gibt es nicht viele, die in diesem Bereich so arbeiten, wie die Filmwissenschaften mit viel Glück einmal aussehen könnten - man könnte noch Matthias Müllers »Home Stories« und Phoenix' »Tapes« anführen -, deshalb würde ich eure beiden Projekte gern einmal in Beziehung setzen. Mit Blick auf »Der Ausdruck der Hände« und »Arbeiter verlassen die Fabrik«: Könntest du einmal versuchen, deine spezifische Form der Reihenbildung, Materialauswahl und Verknüpfungstechnik zu charakterisieren?

Farocki: 1995, als das Kino 100 wurde, da hatte ich die Idee, den Film »Arbeiter verlassen die Fabrik« von Lumière zu nehmen und in der Filmgeschichte viele Beispiele zu suchen, in denen auch ArbeiterInnen die Fabrik verlassen. Darunter waren Stars wie Chaplin und Monroe, aber auch Angestellte und Arbeiter von Siemens in Berlin 1934, die zu einer Nazi-Kundgebung aufbrechen. Und eine Betriebskampfgruppe in der DDR, die in Uniformen und gepanzerten Wagen auszieht, um im Wald Provokateure zu stellen - es handelt sich aber bloß um eine Übung, wie man später erfährt. Der tatsächliche Klassenfeind ist wohl nicht darstellbar, oder es ist zu gefährlich, ihm eine reale Gestalt zu geben.

Ich versammelte Szenen aus den USA und Europa und aus jedem Jahrzehnt der Kinogeschichte, da lässt sich eine Menge über einen »filmischen Ausdruck« herauslesen, das fängt ja damit an, dass ArbeiterInnen nicht mehr als solche zu erkennen sind, nachdem sie das Werkstor durchschritten haben. Einen Augenblick später sind sie von anderen Passanten kaum noch zu unterscheiden. Oder: Das war ja mal das Szenario der Kommunisten, dass der ökonomische Kampf in einen politischen umschlägt, und dafür wäre der Fabrikausgang der ideale Ort. Aber: So ist kein kommunistisches Regime an die Macht gekommen, und so sind die Kommunisten nicht einmal gestürzt worden. Sieht man von der Lenin-Werft in Danzig einmal ab. Aber vor allem ist es ein großes Vergnügen, einen bestimmten Vorgang immer wieder, manchmal ähnlich, meistens sehr verschieden, vor Augen zu haben. Ich hätte auch gerne ein Buch mit 1000 Ausführungen des Motivs »Eine Frau nimmt einem schlafenden Mann etwas weg« oder auch: »Wie wird Seife gehalten?« In der Werbung halten die Frauen die Seife wie Parfum, weil das Waschen zu sehr auf den Schmutz verweist, den es wohl nicht geben darf.

Hüser: Wie würdest du Godards Verfahren im »Histoire(s) de cinéma«-Projekt davon abgrenzen? Du und Kaja Silverman, ihr schreibt in eurer Analyse von »Le Gai Savoir« in »Von Godard sprechen«: »Auch Godard muss nicht alle Texte lesen, die er zitiert.« Das ist einleuchtend. Vielleicht ist es ja unter bestimmten Umständen genauso buchstäblich oder sogar buchstäblicher, sich nicht an den Buchstaben zu halten.

Farocki: Ich glaube, dass Godard andere Studien macht. In »Histoire(s) de cinéma« kam es mir so vor, dass er sich immer sogleich vom Material entfernt. Eine intellektuelle Wahrnehmung, eine andere intellektuelle Wahrnehmung und dann werden die miteinander verglichen, es fehlt die Wörtlichkeit. Die erste Hauptidee: Sternberg beleuchtet Marlene Dietrich so, wie Speer Hitler beleuchtet. Was nicht so ganz stimmt, aber eine tolle Idee ist. Der ist auf diese großen Sachen aus. Kulturgeschichte des Lichts, vielleicht steht das sogar mit der französischen Geschichtsschule in Verbindung. Ich habe zum Bezug eher so etwas wie das in Bonn erscheinende »Archiv für Begriffsforschung«, da wird etwa untersucht, was es mit dem Wort »genießen« mit Genitiv auf sich hat, wie bei Bach: Genieße der Ruh'. Es geht da um Wortfelder und Bedeutungswandel, auch um Wortschöpfung und -erweiterung. Es gibt von Gianfranco Baruchello und Alberto Griffi den Film »La verifica incerta«, die haben auf dem Schrott vielleicht 40 Spielfilme gekauft und neu zusammengeschnitten. Sie schneiden von einem Schiff, auf dem Curd Jürgens salutiert und das eine Breitseite feuert, auf Mädchen in Bikinis aus einem St.Tropez-Film, die von einer Yacht ins Wasser springen. Der Schnitt macht glauben, sie wollten sich retten und man sieht auch, dass das nicht der Grund ist. In diesem Nicht-Richtig-Funktionieren wird sehr deutlich, dass es auch in der Filmerzählung feststehende Ausdrücke gibt und da fing ich an, mir eine Art filmischen Thesaurus vorzustellen. Wie bei diesen Schreibprogrammen, man klickt ein Wort an und bekommt nicht nur die Synonyme, sondern auch noch einen Satz ähnlich klingender Worte, die man gemeint haben könnte! Wenn man zu erzählen hat, dass eine Frau einem schlafenden Mann etwas wegnimmt, was hat man da zu erwarten, wie kann man dieser Erwartung begegnen? Ich wundere mich auch, dass das so wenig gemacht wird, dass Kinematheken und andere Forschungsinstitute so wenig sampeln und vergleichen.

Hüser: Kannst du einmal charakterisieren, wie du einen Film recherchierst? In den Abspännen werden ja zum Teil verschiedene Recherche-Teams genannt in verschiedenen Ländern.

Farocki: Seit fast 20 Jahren arbeite ich mit Rechercheuren zusammen, mit einigen schon lange, zur Zeit mit Cathy Crane, Brett Simon, Stefan Pethke, Matthias Rajmann. Bei einem Film ohne Skript sind das natürlich Mit-Autoren. Wenn man nach einem Ereignis sucht, so kann es sein, dass es sich 1 000 Mal so ereignet, dass ich es nicht filmen kann oder zumindest nicht montieren. Das ist so ähnlich wie mit einem Schauplatz, der für einen Spielfilm gesucht wird: Es reicht nicht aus, dass da einfach die Voraussetzungen erfüllt sind, etwa, dass ein Haus dreieckige Balkons hat. Der Schauplatz muss von sich aus etwas mitteilen. Ich mag die Tatsächlichkeit, um die es beim Film geht, es muss etwas wirklich geben und außerdem: jetzt, damit man es filmen kann. Tatsächlich geht es darum, Allgemeinheiten zu konkretisieren.

Es ist leicht zu sagen: »Die Arbeiter verlassen die Fabrik, wenn die Arbeit vorbei ist.« Aber es ist schwer herauszufinden, wann und wo das geschieht, und vor allem, dass das Bild über diesen Satz hinausgeht. Wir haben tatsächlich schon nach einer Tür gesucht, die sich im dritten Stock befindet, ohne einen Balkon davor, oder nach einem Eisenbahngleis, das gerade aufs Meer zu verläuft - und beides gefunden. Wir erleben das gerade beim Mall-Projekt. Ich habe genug Papiere gefunden, in denen steht, wie man im Labor versuchte, die Geschwindigkeit des Kunden zu messen: Wird er von bestimmten Böden beschleunigt oder verlangsamt? Wie überhaupt bewegt er sich durch einen Raum und wie kann die Raumgestalt seine Bewegung und sein Empfinden leiten, wie kann die Möblierung ihn führen? Es kommt aber darauf an, Untersuchungen zu finden, die heute unternommen werden: Untersuchungen eigentlich zur Taylorisierung des Verbrauchers. Die Produktion und zunehmend der Vertrieb sind schon »szientifiziert« - nun ist dieser letzte Bereich dran. Wobei diese Wissenschaft deutlich auch eine magische Praxis ist, eine Legitimation und Selbstvergewisserung.

Hüser: Was ist für dich ein Kriterium für Themenhaftigkeit? Wenn ich an einen Film denke wie den von Jean-Pierre Gorins »Routine Pleasures« - fünf alte Männer warten eine Modelleisenbahn -, dann ist das ein toller Film, aber man weiß gleich, dass der nicht von dir sein kann. Vom Thema her nicht. Nun könntest du mit deinen elaborierten Verfahren ja alle möglichen Formen von Arbeit beobachten. Gibt es einen gemeinsamen Nenner deiner Filme? Was würde dich auf der Stelle packen?

Farocki: Voraussetzung für diese Recherche-Arbeit ist die Lust am Detail, wie man das aus den amerikanischen Detektivgeschichten kennt. Dass die Polizei das Kürzel PMS für »politisch motivierte Straßengewalt« benutzt und dass es verboten ist, Hochgeschwindigkeitsreifen zu flicken. Ich interessiere mich sehr für die Herkunft von Wörtern. Ich schlage das gerne nach, das führt zu vielen Geschichten, aber damit baut sich keine Kenntnis auf. Ein Filmemacher hat eben kein Feld, darum diese Detailbesessenheit.

Hüser: Wie sieht die Recherche auf der Bildebene aus? Es gibt dieses Spielchen, das Carl Schmitt gern mit seinen Gästen gespielt hat, sie sollten doch mal sagen, wegen welchen Satzes dieses und jenes Buch geschrieben worden sei. Das ist zwar stumpf hermeneutisch, die forcierte Logik der Haupt- und Nebenstellen, kann aber trotzdem manchmal ganz produktiv sein. Könntest du bei Filmen von dir sagen, wegen welchen Bildes du den Film gemacht hast? Gibt es zum Beispiel jetzt schon ein Bild, das zentral sein wird im Rahmen der Mall-Geschichte?

Farocki: Nein, von einem Bild gehe ich nicht aus. Im Falle von »Videogramme« ging ich von einer vorgestellten Situation aus. Ich las das Buch von Amelunxen und Ujica über die Revolution in Rumänien und dachte an einen Film, in dem ein paar Leute vor Monitoren sitzen, verschiedene Bildfolgen anschauen und analysieren, so wie man in einem Seminar Sequenzen am Schneidetisch bespricht. Der Film wurde dann ganz anders. Bei den Malls ist das anders. Malls kann man ja nicht filmen, die sehen dann aus wie Junk-Mail, da ist es sogar noch leichter, Bratwürste abzubilden. Es kann nur darum gehen, die Produktion von Malls zu zeigen, Ereignisse zu finden, in denen die Malls vorstellbar werden. Hier ist also nicht ein Bild, sondern die Verlegenheit der Ausgangspunkt, die Unmöglichkeit, ein bestimmtes Bild zu machen.

Hüser: Könntest du dir so ein Kooperationsmodell - mehrere Filmemacher, die Arbeitssituation am Schneidetisch, intelligente Leute gucken sich was aus verschiedenen Perspektiven an -, noch weiter gehend als Textform vorstellen? Ich finde es schade, dass es die alten Omnibus-Filme nicht mehr gibt. Neulich lief »Loin de Vietnam« im Fernsehen und das war schon toll. Hältst du das für eine tote Form oder könnte das heute vielleicht wieder eine Herausforderung sein? Wenn ich mir so meine Lieblingsregisseure alle auf einem Haufen vorstelle ...

Farocki: Bei »Deutschland im Herbst« gibt es die Zusammenarbeit oder den Zusammenstoß von Kluge und Fassbinder, das macht den Film interessant, auch wenn manche Beiträge furchtbar sind. Kluge ist ja zu monoman, als dass man mit ihm zusammenarbeiten könnte. Er ist wie Kraus mit seiner Fackel, man müsste eine andere Zeitschrift aufmachen. Anfang der Neunziger habe ich versucht, eine Art Medienmagazin anzustoßen. Wir kamen damit nicht durch, das heißt, wir fanden dafür keinen Programmplatz. Aber schlimmer noch: Wir verstanden es nicht, eine Gruppe zusammenzukriegen, die es skandalös erscheinen lässt, dass wir die Mittel für unser Vorhaben nicht gekriegt haben.

Hüser: Könntest du in Bezug auf die Geschichte deiner Projekte eine kurze Skizze der Geschichte deiner Ansprechpartner entwerfen? Mich würde eine Geschichte der großen Ermöglicher hinter euch Autorenfilmern interessieren. Eine Heroengeschichte der Werner Dütschs. Wie sehen in diesem Bereich die Verschiebungen zur heutigen Fernsehlandschaft aus?

Farocki: Fangen wir beim Schluss an: Es ist nicht vorstellbar, die Kräfte zu bündeln. Es ist nicht in Sicht, dass alle interessanten Leute, Autoren wie Produzenten, an einem Sender zusammenarbeiten und damit einen Grund legen, auf diesen Sender zu achten. Was zum Beispiel Inge Classen und andere auf 3sat zeigen, hat mit dem übrigen Sender nicht viel zu tun, der eine Abladestelle für allerlei Zulieferanten ist. Und was Werner Dütsch und die Filmredaktion beim WDR machen, das ragt ja wie ein Fremdkörper aus dem Übrigen. Auch bei Arte - man kann sich nicht sicher sein, dass es für jeden Beitrag einen Grund gibt. Vielen Sachen da sieht man an, dass sie nur Platzhalter für den Anspruch eines der vielen Zulieferer sind. Dann sieht man wieder so ein merkwürdiges Feature über den Kaukasus, wo man sich doch fragt, ob man das nicht genauso gut im Bayrischen Rundfunk, nachmittags um zwei, sehen könnte. So richtig gut gearbeitet ist es nicht, und man möchte fast schon spenden, damit der Laden noch erhalten bleibt. Und wie bei den meisten Zeitschriften gibt es ständig dieses routinierte Überspielen von Verlegenheiten.

Hüser: Das heißt wiederum, wenn diese Redakteure und Redakteurinnen pensioniert werden, ist mit einem Schlag ein ganzer Typ Filme weg?

Farocki: Beim WDR sieht es wohl so aus, dass sie die Filmredaktion abschaffen werden, wenn die heutige, schon verkleinerte Belegschaft die Altersgrenze erreicht. Man hat denen auch schon 50 Prozent des Etats gestrichen und statt des kinemathekarischen Programms von einst gibt es jetzt jede Menge Heinz-Rühmann-Filme. Auch beim 3. Programm des NDR kann man sich Klaus Wildenhahn nicht mehr vorstellen zwischen den plattdeutschen Hafenkonzerten. Ich habe immer am Rande des Programms produziert und das geht nicht mit dem Programm, das jetzt aufkommt. Bestimmte Obdachlose schaffen es nicht, zum Flugplatz umzuziehen, wenn der Bahnhof geschlossen wird. Womit nicht gesagt sein soll, der alte Bahnhof wäre was Tolles gewesen.

Hüser: Wie hilfreich ist die Kategorie des »Essayfilms«? Tilman Baumgärtel unterscheidet in seinem Farocki-Buch (»Vom Guerillakino zum Essayfilm«, Berlin 1998) bei deinen Filmen zwischen Lehrfilmen, Autorenfilmen, Beobachtungsfilmen, Essayfilmen und Found-Footage-Filmen. Essayfilme sind »Wie man sieht«, »Bilder der Welt und Inschrift des Krieges«, »Was ist los?« und »Schnittstelle«. Von den anderen Unterscheidungen mal abgesehen: Was soll Essayfilm eigentlich heißen? Nicht richtig »Film«? »Gehobener« Film? Richtet man da nicht eine Kategorie für etwas ein, das sich auf der Ebene des Films immer grundsätzlich als Problem stellt? Warum ist »Arbeiter verlassen die Fabrik« kein Essayfilm? Oder »Nicht löschbares Feuer«? Oder warum sind deine Beiträge für »Sesamstraße« keine Essayfilme? Oder »Faces« von John Cassavetes?

Farocki: Die Kategorie ist so untauglich, wie auch »Dokumentarfilm« nicht besonders tauglich ist, klar. Wenn im Fernsehen viel Musik gespielt wird, und man sieht Landschaften, dann nennt man das mittlerweile auch schon Essayfilm. Viel Stimmungsmäßiges und nicht eindeutig Journalistisches ist schon Essay. Das ist natürlich furchtbar. Das ist so vage, wie damals die Versuche in den fünfziger Jahren. Damals hat Enzensberger mal darüber geschrieben, dass der naturwissenschaftliche Begriff des Experiments überhaupt nicht taugt für den Kunstbetrieb. So ähnlich vage ist auch dieses Wort vom Essay geworden. Aber mir geht es immer noch darum, dass Erzählen und Erörtern zusammengehören, dass die Diskurse eine Erzählform sind. Der Zweite Weltkrieg ist nicht in einen Roman von einem neuen Tolstoj eingegangen, eher in die »Dialektik der Aufklärung« von Horkheimer und Adorno.

Hüser: Denkst du stark in Textsorten? Wie sieht es aus mit Hybridisierungen? Mit dem Wechsel von Textsorten?

Farocki: Im letzten Winter machten Kaja Silverman und ich ein Seminar in Berkeley. Es ging um Filme aus Stills, Filme aus unbewegten Bildern. Wir sahen uns solche Filme an und die Studenten bekamen Gelegenheit, solche Filme zu machen. Ich war vom Ergebnis überwältigt. Einige Filme waren toll, und mehr als die Hälfte interessant, das ist ja mehr als man bei einem Festival erwarten kann. Das liegt an dem Gegenstand. Wenn man aus Fotos oder anderen Bildern etwas macht, dann konkurriert man nicht mit der allgegenwärtigen Erzählmaschine. Wenn man einen Jungen zeigt, der ein Mädchen im Café anspricht, hat man es gleich mit den Standards zu tun: Sieht es aus wie Neighborhood TV oder wie ein Independent oder wie ein Studentenfilm? Wenn es darum geht, Bilder anzuordnen, aus ihnen etwas herauszulesen, dann zeigt sich eine neue Kompetenz. Es gibt eine neue Geübtheit, im Computer Bilderfolgen und Schrift einander anzunähern. Vielleicht entsteht da etwas. Helmut Färber schrieb, der Film sei den Tonsprachen ähnlich, wo es eher auf die Intonation als auf die Syntax ankomme, ein solches neues Idiom entsteht da vielleicht.

Hüser: Heißt das, es wird auf kurz oder lang den klassischen Unterschied zwischen den Filmakademien und den Filmwissenschaftsdepartments nicht mehr geben, wo »Rezeption« und »Produktion« so sorgfältig voneinander getrennt sind?

Farocki: In Berkeley gibt es eigentlich keine Filmproduktion, nur film studies. Das Produzieren von Filmen ist nicht dazu da, das Filmemachen zu lernen, sondern das Filmverstehen zu lernen. Jeder, der Literatur studiert, schreibt auch, nicht um Schriftsteller zu werden, sondern um mehr vom Schreiben zu verstehen. Ein Verstehen durch Annäherung, wie wir das mit den Remakes besprochen haben (Jungle World, 45/00).

Hüser: 1998 hast du im Supplement der Weihnachtsausgabe von Jungle World einen Text zu Holger Meins veröffentlicht: »Sein Leben einsetzen«. Für einen Zeitungstext ein ungewöhnlich konzipiertes Dossier. Es funktionierte wie ein unaufgeschnittenes Buch, wenn man es sich entsprechend zusammenfaltete. Mit Seiten, die einander gegenüberliegen. Warum hast du dein Buch 68 zu diesem Zeitpunkt aufgeschnitten? 30 Jahre?

Farocki: Ich will 68 nicht schlecht machen, aber ich habe doch ziemlichen Katzenjammer. Ich habe mal gelesen, dass das Volk zu Beginn der Französischen Revolution rief: Es lebe der König! - und damit den Sturz der Monarchie ausdrücken wollte. So kommt es mir vor: Wir sagten etwas ganz anderes, als wir meinten, und heute macht es den Anschein, wir hätten das Richtige gewollt. Das ist ein wenig so wie mit meinem Film »Nicht löschbares Feuer«, dass ich gegen meine Absichten etwas erreichte. (Ich möchte natürlich lieber etwas mehr erreichen als gewollt, aber nicht etwas ganz anderes.) Wir glaubten oder postulierten das zumindest, dass es möglich ist, »Geschichte zu machen«. Deshalb verharmlosten wir das Nazitum, es war uns höchstens nützlich, den Kapitalismus anzuschwärzen, dessen »höchstes Stadium« es sein sollte. In dieser Weise waren wir unwillentlich unserer Elterngeneration ähnlich, die den Hitlerismus schnell hinter sich bringen wollte.

Hüser: Dass der Nationalsozialismus nicht mehr nur der preußische Offizierswiderstand war, war ja ein Fortschritt. Ich fand neulich die Einschätzung des Leiters des Literaturarchivs in Marbach gut, eigentlich ein konservativer älterer Beamter: Die 68er seien die letzte Generation von Lesern gewesen.

Farocki: Ja, 68 war ja wohl eine Kulturrevolution, die die Ethik der Vorkriegszeit überwand. Diese Ethik in vielfältiger Gestalt lässt sich wohl mit dem Wort austerity treffen: Sparsamkeit, Verzicht, Disziplin. Diese Lebenshaltung entsprach den Verhältnissen nicht mehr, und Pop sprengte das auf. Zum Nachdruck brauchte das etwas Blut: Straßenkämpfe, Flugzeugentführungen, Attentate. Man kann sagen: Blut für Pop. Und was Holger Meins betrifft: Sein Film »O.L.«, der bleibt ja nun irgendwie, und der ist überhaupt nicht in Beziehung zu setzen zu allem, was Holger Meins gemacht hat. Das einzige, was man sagen könnte, ist: Er sah, dass er wusste, wie das Filmemachen geht, und deshalb interessierte es ihn nicht mehr.