Mit Kopf und ohne Herz

Ralph Naders Kandidatur könnte dem Republikaner George W. Bush zum Sieg verhelfen - die US-Linke ist gespalten.

Die Linke in den USA ist in ihrer Einschätzung der Präsidentschaftswahlen gespalten. Von den voraussichtlich vier Kandidaten, die am 7. November zur Wahl antreten werden, sind für die Linke, die Urnengänge nicht grundsätzlich ablehnt, zwei wählbar: der derzeitige Vizepräsident Albert Gore von den Demokraten und Ralph Nader, der Kandidat der grünen Partei. Nader ist in den für die Linke wichtigen gesellschaftspolitischen Bereichen - wie Frauenrechte, Immigration, Gleichstellung benachteiligter Minderheiten, Umweltschutz, Bekämpfung der Armut, Wahlkampffinanzierung und Entflechtung von Politik und Wirtschaft - der bei weitem fortschrittlichste der vier Kandidaten.

Wahlumfragen versprechen Nader einen Stimmenanteil von etwa fünf Prozent. Falls er diese fünf Prozent erreicht, hat die grüne Partei bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2004 Anspruch auf staatliche Fördergelder. Ein wichtiger Schritt wäre getan, um auf Dauer das Zweiparteiensystem der USA um eine dritte Kraft zu erweitern. Der für Linke einzige Grund, dem Demokraten Gore die Stimme zu geben, ist die Tatsache, dass er im Vergleich mit dem Republikaner George W. Bush das geringere Übel darstellt. Und Naders Teilnahme an der Wahl könnte Gore den Sieg kosten.

Der Grund dafür liegt im Wahlsystem der USA. Der Präsident wird vom electoral college gewählt. Je nach Einwohnerzahl schicken die Einzelstaaten zwischen drei (Alaska, Delaware, Montana, Vermont, Wyoming u.a.) und 54 (Kalifornien) Mitglieder in das 538köpfige Gremium. In den Einzelstaaten entscheidet die einfache Mehrheit darüber, für welche Partei die Wahlmänner, so die offizielle Bezeichnung, nach Washington ziehen.

Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Hotline Scoop vom Freitag letzter Woche hat der Republikaner Bush 142 Stimmen sicher, Gore 131. Die restlichen 265 Wahlmänner gelten als unentschieden. In mehreren Staaten, insbesondere Washington State (elf Stimmen) und Oregon (sieben), könnte Naders Beteiligung an der Wahl Bush die Mehrheit bescheren - und damit auch die Mehrheit im electoral college. Es kann sicher ausgeschlossen werden, dass viele Nader-WählerInnen im Falle seiner Nichtteilnahme für den Republikaner votieren würden.

Die linksliberale texanische Kolumnistin Molly Irvins hat daher die Devise ausgegeben: »Wählen Sie mit dem Herzen, wo Sie können; wählen Sie mit dem Kopf, wo Sie müssen.« In Staaten, in denen entweder Bush oder Gore als sichere Sieger gelten, dürfen progressives - »Fortschrittliche«, ein von den Liberalen geprägter Begriff, der die Linke einschließen soll - für Ralph Nader stimmen; in unentschiedenen Staaten sollten alle die Kröte schlucken und ihr Kreuzchen bei Gore machen, damit Bush nicht Präsident wird.

Diese Taktik wird zurzeit auch von der politischen Wochenzeitung The Nation empfohlen. Das Pikante daran ist, dass sich das Blatt, das mit den Demokraten nicht sonderlich schonend umzugehen pflegt, plötzlich im Einklang mit Gores Wahlkampfpropaganda wiederfindet - eine sicherlich nicht besonders angenehme Erfahrung für die MacherInnen dieser ansonsten recht kritischen Zeitung. Gore selbst, der die Gefahr mittlerweile erkannt hat, formuliert allerdings etwas weniger differenziert als Molly Irvins: »Jede Stimme für Nader ist eine Stimme für Bush.«

»Jede Stimme für Nader ist in erster Linie eine Stimme für Nader!« So sieht es die Redaktion der linksradikalen Zeitung CounterPunch. Bush oder Gore - die Unterschiede zwischen den beiden sind so marginal, dass es beinahe gleichgültig ist, wer von beiden Präsident wird. Für CounterPunch ist Gore genau wie George W. Bush eine Kreatur des Kapitals. Die Priorität sollte für die Radikalen darin liegen, eine dritte Kraft zu etablieren, um linke Argumente in den offiziellen politischen Diskurs einzuführen und das Feld nicht völlig den Lippenbekenntnissen der Demokraten zu überlassen, meint CounterPunch. Die Zeitung stützt diese Argumentation machmal mit erstaunlichen Beispielen von investigativem Journalismus. In dem Buch »Al Gore: A User's Manual« (Al Gore: Eine Gebrauchsanweisung) beschreiben die beiden Herausgeber des Blattes, Alexander Cockburn und Jeffrey St. Clair, Gores Verbindungen zur Industrie und die Intrigen, mittels deren er seine Karriere zu Stande gebracht hat.

Albert Gores Bekenntnis zum war on drugs wirkt - abgesehen von der eindeutig rassistischen Komponente dieses Krieges innerhalb der USA und von der Unterstützung rechter Paramilitärs in Kolumbien, die selbst am Drogenhandel verdienen - auch für normale US-Bürger unglaubwürdig, wenn CounterPunch den Dealer ausfindig machen kann, der Albert und Tipper Gore in den siebziger Jahren mit Marihuana und opiumhaltigen Thaisticks versorgt hat. Anders als Bush, der Antworten auf Fragen nach seinem Kokskonsum vor 1974 hartnäckig verweigert, hat Gore mittlerweile gestanden, früher Cannabis geraucht zu haben; nach Aussage des Dealers riss die Geschäftsbeziehung auch nicht ab, als Gore bereits Senator war.

Die gegen Ralph Naders Grüne gerichtete Kampagne »Umweltschützer für Gore« wurde nach Informationen des Blattes aus einer Washingtoner Anwaltskanzlei gesteuert, die seit Jahrzehnten erfolgreich Konzerne bei Klagen wegen Verstößen gegen Umweltauflagen vertritt. Daniel Reinhardt, einer der Staranwälte der Kanzlei, vertrat die Firma Mobil Oil bei einer der ersten Klagen wegen des Entweichens von Erdgas aus unterirdischen Tanks - die Sättigung des Bodens mit Gas führte zu einer Missernte in Georgia.

Im Vergleich zu den Absichten Bushs dürfte Gores Politik trotz allem das kleinere Übel werden. Zwar ist nicht zu erwarten, dass ein Präsident namens Gore die Umverteilung von unten nach oben beendet. Bushs Pläne für den Haushalt jedoch sehen explizit eine Beschleunigung dieses Prozesses vor; hinter dem Slogan »Gebt den Haushaltsüberschuss den Menschen zurück!« verbirgt sich nichts weiter als üppige Steuergeschenke an Oberschicht und Industrie.

Gore will mit einem Teil dieses Überschusses zumindest teilweise das Sozialversicherungssystem sanieren und kostenlose Medikamente für Rentner bereitstellen. Zu seinen Plänen gehört auch eine Erhöhung des Mindestlohns um 18 Prozent von 5,50 auf 6,50 Dollar. Damit können EinzelverdienerInnen zwar immer noch keine dreiköpfige Familie vernünftig ernähren, aber es wäre eine Verbesserung.

Das best case scenario für die US-Linke sähe demnach so aus: Gore wird Präsident, und Ralph Nader bekommt seine fünf Prozent. Bei den ebenfalls anstehenden Kongesswahlen gewinnen die Demokraten die Mehrheit zurück. Das sind die Voraussetzungen für emanzipatorische Veränderungen in der Gesetzgebung, so gering sie auch ausfallen mögen. Alles andere würde die Entwicklung der Armut in den USA noch beschleunigen. The Nation weist zu Recht darauf hin, dass Präsidentschaftswahlen nicht das geeignete Instrument zur Herbeiführung einer Revolution sind.

Und was wird Ralph Nader nach den Wahlen machen? Michael Albert, einer der Herausgeber der linken New Yorker Internetzeitung ZNet, hat einen Vorschlag: Nader sollte ein Schattenkabinett aufstellen. Eine komplette Regierungssimulation mit Reden an die Nation, Galas und Pressekonferenzen, alles übertragen im Internet. Selbstredend würde ein solches Schattenkabinett niemals mit den Konsequenzen seiner Beschlüsse leben müssen, es könnte bestenfalls die Rolle einer quasi-parlamentarischen Opposition spielen, die alle Handlungen der Regierung kommentierend begleitet. Aber mit Noam Chomsky als Außenminister wäre das zumindest unterhaltsam.