Schnittstellen I

Neun Minuten in Corcoran

Überwachung, Krieg, Montage. Der Filmemacher Harun Farocki im Gespräch

Rembert Hüser: In deinem neuen Film »Ich glaubte Gefangene zu sehen« liegt der Häftling William Martinez neun Minuten auf dem Gefängnishof, bevor er abtransportiert wird. Neun Minuten, die einer genauen Choreographie folgen.

Harun Farocki: Du sprichst vermutlich von Choreographie, weil der Hof als Schauplatz vorbestimmt erscheint. Schussbereite Wärter haben ihn im Visier, eine Kamera lauert auf einen Zwischenfall, der es wert ist, festgehalten zu werden. Martinez ist ein Insasse im Hochsicherheitsgefängnis von Corcoran in Kalifornien. Er fängt eine Schlägerei mit einem anderen Häftling an und wird niedergeschossen. Das Überwachungsvideo ist stumm, vom Schuss sieht man weißen Rauch durch das Bild ziehen. Es dauert dann neun Minuten, bevor man den Körper auf einer Bahre wegträgt, angeblich muss aus Sicherheitsgründen der Hof zuvor geräumt werden, womit man sich viel Zeit lässt, Martinez hat das nicht überlebt. Obwohl das Ereignis ganz anders aussieht, als es in Filmbildern erscheint, macht es doch den Eindruck, es müsse sich ereignen und könne sich nur so ereignen; es sieht aus wie vorbestimmt.

Hüser: Diese neun Minuten, in denen die Gefangenen vom Hof abgeräumt werden, einer nach dem anderen, irgendwas zwischen Schachbrett, Billardtisch und Kegelbahn, sind entsprechend bühnengerecht choreographiert. Exakt einstudiert. Als die beiden Männer in business suits schließlich den Hof betreten und den Tod feststellen, ist - nachdem man zuvor schon Ausschnitte aus Stummfilmen gesehen hat - die Bilddramaturgie endgültig im Stummfilm angelangt: »... and then Martinez is gone«. Und dann liegt bei dir wieder eine Leiche da, diesmal in Farbe, und alle lachen. Es ist keine Leiche. Wir sind beim Rollenspiel in der Ausbilder-Ausbildung. Welche Choreographie antwortet in deinem Film auf die Choreographie des Fremdmaterials? - Das ja den Blick der Macht präsentiert, obwohl es mit seinen verwaschenen Schwarz-Weiß-Bildern auf mehrfach überspielten Kassetten wie ein Kassiber aussieht.

Farocki: Ich zeige die Bilder in einer Doppelprojektion, was eine weichere Montage zur Folge hat, die gleichzeitigen Bilder und Schriften und Worte legen eher etwas nahe, als dass sie etwas ausführten. Außerdem versuche ich, sprunghaft zu sein, so wie es die plötzlichen Einfälle sind, die man bei guten Gesprächen hat. Auch das soll dieser unerbittlichen Logik des Vollzugs etwas entgegensetzen.

Hüser: Dazu würde passen, dass das Footage-Material, das du verwendest, in unterschiedlichen Geschwindigkeiten läuft. Zum Teil greifst du in das Material ein, indem du den Bildausschnitt variierst. Du zeigst Aufnahmen verschiedener Typen von Überwachungskameras: normale Video-Aufnahmen und Infrarot-Aufnahmen. Zweimal sind Stummfilme gegen die Bilder geschnitten: die Bestechung eines Aufsehers für eine Umarmung, der Brief in die Zelle, der die Trennung mitteilt. All das deutet auf eine umfangreiche Recherche hin. Ist der Film Teil eines größeren Arbeitszusammenhangs?

Farocki: »Ich glaubte Gefangene zu sehen«, 25 Minuten lang, kam zustande, weil sich plötzlich die Gelegenheit ergab. Ich wurde von den Kuratoren Ruth Noack und Roger Bürgel zur Teilnahme an einer Ausstellung mit dem schönen Titel »Dinge, die wir nicht verstehen« eingeladen, das war im November 1999, und schon im Januar dieses Jahres war die Arbeit fertig. Schon vor einem Jahr habe ich mit der Arbeit zu einem größeren Projekt über Gefängnis-Bilder angefangen. Da soll es insgesamt darüber gehen, wie das Gefängnis in Filmbildern erscheint. Aber das Geld für die Arbeit in Filmarchiven kam nicht zusammen, und so fing ich in den USA an, zunächst nach Bildern aus Überwachungskameras zu suchen. In den USA gibt es bekanntlich weit mehr Gefangene als in anderen reichen Ländern. Die prison population wächst ständig an, ohne dass die Kriminalität zunähme. Die meisten Insassen sind schwarz, und viele Strafen sind so skandalös hoch, dass die Aktualität mich mitriss. Ich war kurz davor, einen agitatorischen Film zu machen oder einen Film wie ein Flugblatt.

Hüser: Warum nicht? Neulich wurde auf Arte ein chinesischer Film aus den Siebzigern gezeigt, »Der rote Everest«: 300 Rotarmisten marschieren auf den Mount Everest, um einen Dreifuß auf dem Gipfel aufzustellen. Neun von ihnen kommen durch. So die Nummer »Der gemeinsame Glaube und die Berge«. Reiner Agitprop. Aber mit einer Menge Kraft. Na ja, okay.

Nun hat »Ich glaubte Gefangene zu sehen«, ich übertreibe mal, auch etwas von einer Literaturverfilmung, die einen Agitprop-Text verbessert. Es scheint, als verfilmtest du den Aufsatz von Gilles Deleuze »Das elektronische Halsband. Innenansichten der kontrollierten Gesellschaft«. Was dort reichlich theatralisch an Thesen zur Kontrollgesellschaft daherkommt, wird bei dir ein Arbeitsfeld. Wie kommt man an Aufnahmen aus Überwachungskameras?

Farocki: Wir sagten den Behörden, wir wollten die neue Technik in den Gefängnissen dokumentieren, und das war ein gutes Ticket. Ich glaube deshalb, weil die Gefängnisse fast der einzige Ort sind, an denen die Produktivität nicht zu steigern ist, die Gefangenen werden zwar immer mehr, aber die Wärter können nicht jeden Monat 100 Gefangene mehr kontrollieren. Da glaubt man, mit Geräten könne man wenigstens symbolisch mit der allgemeinen Beschleunigung und Steigerung mithalten. Und so bekamen wir Gelegenheit, entweder selbst etwas mitzuschneiden oder ein altes Band zum Kopieren zu kriegen. So kamen wir an die Bilder der Wasserkanonen, mit denen die streitenden Häftlinge auseinander gespritzt werden oder an die Bilder aus dem Besucherraum, wo Häftlinge und Besucherinnen unerlaubte Zärtlichkeiten austauschen. Auf einmal ist da wieder das Bild der Liebe, die sich gegen das Verbot behauptet wie ein Naturrecht.

Wir stießen auch auf einen Bürgerrechtler, der von Beruf Detektiv ist. Ein interessanter Mann, er ist ein Hans-Blumenberg-Fan und hat eine wunderbare Bibliothek. Wahrscheinlich beobachtet er vom Parkplatz aus den Hinterausgang eines Nachtclubs und liest dabei etwas aus Münster, über die Buch-Metapher, das Buch, das die Welt bedeutet. Er hat viele Stunden Material von den Freiganghöfen in Corcoran. Das sind schattenlose Kreissegmente aus Beton, die vollständig im Sichtfeld der Überwachungskameras liegen und auch im Schussfeld der Gewehre. Man sieht die Häftlinge Sport treiben und sehr oft prügeln sie sich. Seit der Eröffnung gab es Tausende von Schlägereien und etwa 2 000 Mal haben die Wärter geschossen, Hunderte wurden verwundet, ein paar Dutzend schwer, fünf wurden erschossen. Geschossen wird zuerst mit einem großkalibrigen Anti-Riot-Gewehr, dann mit scharfer Neun-Millimeter-Munition.

Hüser: »Ich glaubte Gefangene zu sehen« endet mit dem Satz: »Suddenly there is no longer any reason to shoot at prisoners.« Vorher zeigst du, dass allein schon wegen der Architektur Blick und Gewaltausübung nicht voneinander zu trennen sind. Ist der Satz ironisch? Ein klein bisschen Glaube an den humanen Strafvollzug?

Farocki: Die Ironie ist anders gerichtet: Es wird allzu deutlich, dass es nie einen Grund gab, auf die Häftlinge zu schießen. Und obwohl es grundlos und anachronistisch erscheint, geschieht es. Das politische Denken muss die Ungleichzeitigkeit akzeptieren.

Hüser: Der Titel deines Films ist ambivalent. Er ist ein Zitat aus Roberto Rossellinis »Europa 51«. Ingrid Bergman sieht Arbeiter: »Ich glaube, Verurteilte zu sehen« - und scheint damit auf den ersten Blick den programmatischen Humanismus dieses Films zu unterstützen. So im Sinne von: Aber jetzt sehe ich »die Menschen«. Die Archaik einiger Metaphernfelder, die du im Film verwendest, Brot backen, Tiere schlachten, Münzen, Gladiatoren, könnte dazu passen.

Auf der anderen Seite kann »glauben« sich aber auch auf »sehen« beziehen. Und da zeigt deine Demonstration der Überwachungstechnik amerikanischer Gefängnisse, dass dieser Humanismus, in dessen Namen ein Großteil dieser Technologie eingeführt worden ist, die Gewalt erst hervorbringt, die er zu verhindern vorgibt. Indem er etwa aus den Gefangenen ein Videospiel macht.

Farocki: Ingrid Bergman denkt ans Gefängnis, als sie - für einen Tag - in einer Fabrik arbeitet. Am Ende sperrt man sie in eine Klinik. Mit Rossellinis Film entwirft sich ein zusammenhängendes Weltbild. Das ist wohl nicht zu halten, dennoch hat der Film für mich große Bedeutung, weil er eine Haltung bekräftigt, die sich mit dem Unrecht nicht abfinden will. Eine solche Unbedingtheit ist nötig - auch wenn es um viel Geringeres geht als um die Nachfolge Christi, nämlich nur darum, einen klaren Gedanken zur Gegenwart zu fassen. In diesem Sinn verstehe ich Angela Davis, die für die Abschaffung der Gefängnisse eintritt. Nicht Institutionen, die Gemeinschaft soll sich um die Menschen kümmern, die Straftaten begehen. Diese Forderung trifft etwas. In den USA setzen aber auch politische Aktivisten die These in Umlauf, die Weißen wollten die Sklaverei wieder einführen, weil so viele Gefangene schwarz sind und weil die Arbeit der Gefangenen so sehr ausgebeutet wird. Vielleicht taugt das Wort »Sklaverei« als Kampfbegriff, ich glaube aber, mit einer ökonomischen Theorie kommt man hier nicht weiter.

Hüser: Du überprüfst in deinem Film aber schon ökonomische Kategorien im Kontext Gefängnis, acceleration und increase werden in einem Zwischentitel genannt. Was kann das dort meinen? Deine Recherche konzentriert sich stark auf das Verhältnis von Technik und Körper. Man hat die inmates und Wachmannschaften gemeinsam auf einer Seite (»They have nothing other than their body - and the membership in a gang«), man hat die Geometrie (der Höfe von Corcoran), den Radius der Kameras und die elektronischen Repräsentationen von Identität in den Kontrollräumen, und man hat die alles übergreifende Langeweile und Monotonie. Was dieses Szenario produziert, sind »erwartbare Unwahrscheinlichkeiten«: Liebe und Tod. Was ist das für eine Ökonomie?

Farocki: Diese drakonische Straferei in den USA steht in einem merkwürdigen Gegensatz zu dem Geist, der sonst herrscht. Deleuze sagt, die klassischen Macht-Einrichtungen, Schule, Gefängnis seien in der Krise, und vielleicht gehört das gesteigerte Einsperren zu der Krise der Institution Gefängnis. Ich ließ mir durch den Kopf gehen, ob es gerade deshalb eine solche Ungeduld gibt mit denen, die nicht funktionieren, gerade weil es sonst so wenig Zwang gibt. Als ob Eltern sagten: Wir haben dich nie geschlagen, und dennoch.

Dieses Bild von den Häftlingen, die sich prügeln, obwohl sie wissen, dass man auf sie schießen wird. Sie sehen aus wie Gladiatoren, aber ihr Spektakel ist nicht öffentlich. Die Überwachungskamera parodiert Öffentlichkeit, sie verbreitet das Ereignis nicht. Es ist, als wäre die Kamera das römische Stadtproletariat, das mit einem Schauspiel bei Laune gehalten werden soll.

Hüser: Vor zwei Jahren hat Jill Godmillow in den USA deinen Film »Nicht löschbares Feuer« von 1968 nochmal gefilmt. Ihr Film heißt »What Farocki Taught«. Sie sagt: Farocki hat die Bilder, und die Bilder fehlen hier. Ich möchte die Bilder reimportieren, und deshalb mache ich diesen Film Einstellung für Einstellung nochmal. Wie ist das, von einem eigenen Film wieder eingeholt zu werden?

Farocki: Reimportieren, das soll hier wohl heißen: diesen Film aus der Bundesrepublik zu einer amerikanischen Sache machen. Mein Film soll in den USA ankommen, eine Wirkung haben. Eine solche Wirkung hatten die Nudeln, die aus China kamen, aber heute für eine italienische Sache gelten, um solch einen Import geht es, es geht darum, sich etwas zu Eigen zu machen.

Jill Godmillow macht meinen Film Einstellung für Einstellung nach, um ihn sich zu Eigen zu machen, stellvertretend für die USA. So wie man einen Text abschreibt, auf den man sich konzentrieren will. Ich habe für »Zwischen zwei Kriegen« den Text von Alfred Sohn-Rethel abgeschrieben, von dem die Idee war. Ich tat das, um ihn mir ganz bewusst zu machen. Aber ich tat es wohl auch, um damit etwas abzuleisten, was ich dem Text verdankte. Abschreiben ist natürlich auch eine Strafarbeit.

Hüser: Wie siehst du »What Farocki Taught«? Und wie siehst du aus der Perspektive dieses Films dann wieder deinen alten Film?

Farocki: Ich sehe kaum Godmillows Film, fast nur den eigenen. Das geht wohl nur mir so, der Film »What Farocki Taught« wird ja durchaus ohne meinen gezeigt, war auf vielen Festivals und gewann auch einen Preis, es scheint durchaus möglich zu sein, diesen Film zu sehen, ohne meinen zu kennen. Aber ich sehe durch das Remake nur den eigenen Film und deutlicher als je, das ist mir unheimlich. Vielleicht ist es nur diese Entrückung, als ob ich in einer fremden Erzählung vorkäme, aber mit Einzelheiten, die nur mir bekannt sein können. Außerdem sehe ich durch ihren Film den eigenen Film kritischer. Wenn man mit einem Menschen sehr vertraut ist, weiß man zu jedem Einwand schon eine Entgegnung im Voraus, und diese Vertrautheit mit dem eigenen Film wird mir genommen, wenn ich ihn durch das Remake sehe. Insofern ist das auch für mich eine Strafe.

Hüser: Godmillows Intention ist politischer Art. Sie sagt: Der macht in der Filmästhetik Sachen, die kennen wir so nicht, diese Bilder fehlen hier. Wir brauchen das. Wie soll man sich so einen Reimport einer Filmästhetik, einen Übergang in eine andere Filmkultur vorstellen? Oder in die eigene? Wie könnte man den Typ Film »Nicht löschbares Feuer« in die Filmkultur der Bundesrepublik reimportieren?

Godmillow bietet etwas Exerzitienhaftes an, das durchaus etwas für sich hat. Vom Titel an gibt es die ambivalente Frage nach der Autorität. Da behauptet jemand, er gehe bei dir in die Lehre und behauptet zugleich eine Quintessenz: Das soll es sein. Was ist denn drin im Film von deiner Lehre?

Farocki: »Nicht löschbares Feuer« hat in einer Weise Bestand, ich finde es toll, dass etwas noch existiert, was ich vor so langer Zeit machte. Allerdings ist mir das eher zugefallen - das ruft ja auch schon wieder nach Bestrafung! Der Film ist voller unvermochter Dinge und Ungeschicklichkeiten, und gerade die machen das aus, was mir heute als ästhetische Radikalität vorkommt.

Wir hatten damals die Idee, den ganzen Film mit einem 9,5-Millimeter-Objektiv zu drehen, was ja eine kindische Idee ist. Wir hatten wohl gehört, dass Robert Bresson immer ein 50-Millimeter-Objektiv benutzte und wollten nun auch so etwas schaffen. Dass zwei junge Menschen irgendwo Kaffee trinken und sagen: Wusstest du, dass dieser Film nur mit einem 9,5-Millimeter-Objektiv gedreht wurde? Wegen dieses Objektivs hat mein Film diese Hässlichkeit, wie das in der Malerei den Kölner Linksradikalen gelang. Ganz anders als die Lithos im Pariser Mai 1968, die ja gleich als Poster konzipiert waren.

Hüser: War die Kooperation mit Godmillow und dem Team für dich anders, als wenn du etwa auf den Film hin interviewt worden wärest?

Farocki: Als ich 1991 im Anthology Cinema in New York Filme zeigte, sprach Jill Godmillow mich an, und ich verkaufte ihr die Remake-Rechte für einen Dollar. Später schrieb sie mir manchmal und fragte, was ist das für eine Maschine, was ist das für ein Gerät? Wo um Himmels Willen finde ich das? Ich nahm mir auch gleich vor, auf ihre Sache keinen Einfluss zu nehmen, so wie ich das mit Texten versuche, die über mich geschrieben werden, ich versuche, nicht schon meine eigene Witwe zu sein. Den Dollar habe ich übrigens bis heute noch nicht gekriegt.

Hüser: Kann ich Remake-Rechte für andere Filme auch für einen Dollar kriegen? Ich zahle auch.

Farocki: Ja gerne. Aber was heißt ein Remake beim Film? Mir fallen zunächst die Remakes ein, bei denen Hollywood sagt, das können wir besser, und den Film kauft, kopiert und das Negativ des Vorbilds vernichtet. (Es gibt aus den Fünfzigern einen Dreigroschen-Film mit Curd Jürgens, da durfte dann der Pabst-Film nicht mehr öffentlich gezeigt werden.) In der Musik kommt es mir anders vor: als gäbe es da eine wirkliche Aktualisierung. Wie ist das bei Lauryn Hill und »Killing Me Softly«?

Hüser: Spex, hilf!

Farocki: Dann gibt es diese merkwürdigen Remakes wie das von Gus van Sant nach Hitchcock, da denken die Produzenten sicher auch, nur so kann man wieder Leute in einen Film reinkriegen, dessen Titel sehr bekannt ist. Aber Einstellung für Einstellung zu kopieren ist doch der Idee der Aufführung nahe. Stellen wir uns vor, man würde Filme als Partituren nehmen, die jeweils nach einer Aufführung verlangen. Man macht einen Film nach, nicht um ihn aufs Höchste zu ehren oder zu bestehlen, sondern einfach, weil man an seiner Produktion teilnehmen will. Musiker werden ja in Deutschland im Urheberrecht »Nachschöpfer« genannt, hier geht es um »Mitschöpfer«. Da solltest du aber mit deinen Dollars andere Filme kaufen.

Hüser: Ich bleibe noch kurz bei der Frage des Politischen. 1982 wirbt Basis-Film für deinen Film »Etwas wird sichtbar« mit dem Motto: »Man muss die Bilder aus Vietnam durch Bilder von hier ersetzen, Vietnam hier ausdrücken.« Auf dem Titelblatt des Filmkritik-Heftes zu diesem Film steht: »Wir studieren den Krieg in Vietnam und gelangen in die USA.« 1998 haben wir das amerikanische Studium deines deutschen Studiums des amerikanischen Krieges, um in die USA zu gelangen. Laurence Rickels hat in »The Case of California« Kalifornien in der Verschränkung von exilierter Psychoanalyse, Frankfurter Schule und Hollywood als deutschen Raum diskutiert. Könntest du dir vorstellen, mit dem Studium eines Hollywoodfilms in die Bundesrepublik zu kommen? Was würdest du für ein Eins-zu-eins-Remake auswählen?

Farocki: Wenn überhaupt würde ich »Murder by Contract« von Max Lerner remaken. Ich sah einmal ein Kind, das von der Siegessäule aus durch ein Fernrohr auf sein Dreirad schaute. In den letzten Jahren war ich viel in Kalifornien, und sah mit ähnlichem Blick auf die Titel in den Videotheken und in den Buchläden. Das deutsche Autorenkino gilt dort viel mehr als hier und auch die Frankfurter Schule - das wird sich auch hier auswirken. Filme und Bücher gehören in Kalifornien zusammen, wie ich das sonst nur aus Frankreich kenne. In Deutschland ist es ja noch immer so, dass viele Professoren zum letzten Mal im Kino waren, als es »Les Enfants du Paradis« gab. Auch bei den Studenten hat das Filmverständnis in den letzten zehn, 20 Jahren sehr zugenommen.

Als ich mit Film anfing, gab es kaum jemanden, der die Schnitte in einem Film sah oder höchstens die ganz auffälligen. Ich glaube, heute gibt es viele, die Hitchcock so befragen könnten, wie François Truffaut das tat, damals war er fast der Einzige, der sah, dass es etwa in »The Rope« kaum Schnitte gab.

Hüser: Hitchcock selbst könnte anders arbeiten. Der Bildpool im Regal hat ja auch Rückwirkungen auf die Arbeitsweise der Regisseure. Tarantino ist das Standardbeispiel, da kommt der alte Videotheksjob deutlich durch. Wie ist es bei dir? Welche Auswirkungen hat die technologische Entwicklung, die Arbeit am Avid zum Beispiel, auf deine Arbeitsweise? Du thematisierst in »Schnittstelle« die unterschiedlichen Filmarbeitsplätze. Die Bewegung des Films geht selbst in Richtung Turing, Computer.

Farocki: Zunächst sind alle Geräte für mich zu schnell, selbst eine VHS-Anlage. Mit einem Avid ist es schrecklich: gesagt - getan. Ich sage zu meinem Editor: Sollten wir nicht ... - und bevor der Satz beendet ist, hat er das schon ausgeführt. Dabei mache ich die Änderungen, um Zeit zu gewinnen. Ich will alles immer wieder etwas anders vor Augen haben, so wie man einen Gedanken über Monate gegenüber verschiedenen Menschen immer wieder anders ausspricht, in der Hoffnung, dass er so Fülle und Gestalt gewänne.

Ich brauche keine schnellen Geräte und benutze auch selten irgendwelche Effekte. Die ersten 30 Minuten von »Natural Born Killers«, von denen man gar nicht glauben kann, dass sie etwas mit Oliver Stone zu tun haben, gibt es wahrscheinlich auch nur, weil sie so leicht zu schneiden sind. Weil es kaum noch materiellen Widerstand gegen die Ideen gibt. Ich kann mir vorstellen, dass man da einen Computer braucht, damit man mehr durchspielen kann, als sich überhaupt imaginieren lässt.

Aber so wie ich es sage, ist es fast immer falsch! Wenn die Atombombe mit der Hilfe von Computern gebaut worden wäre, dann würde man auch sagen: Ohne Computer hätte man die Bombe nicht bauen können. Aber natürlich beeinflusst mich der Avid, auch wenn ich ihn kaum je benutze, weil andere ihn benutzen. Ich kann von Berlin mit dem Fahrrad nach Paris fahren, aber ich werde dort mit Menschen zusammentreffen, die sich daran gewöhnt haben, das Flugzeug und moderne Kommunikationsmittel zu benutzen. Andererseits ist es so wie mit den Autos, da gibt es Millionen, die verstehen diese Dinger im Detail. Damit werden sie nicht Ford oder Gates, aber man kann sie nicht so einfach für dumm verkaufen.

Hüser: Eine Kleinigkeit noch: Maschinen könnte man nach Sinnlichkeit unterscheiden. Ein Filmprojektor ist sicher sinnlicher als ein Videorecorder. In »Schnittstelle« betonst du die taktile Dimension beim traditionellen Schneidetisch, du streichst über den Filmstreifen. Ist dieses Bild eine Pathetisierung, eine Art nachgetöpferter Benjamin, oder macht man das wirklich?

Farocki: Ja, das mache ich schon, aber nicht wie ein Bauer, der aus dem Hundertjährigen Krieg zurückkommt und in seine Scholle greift, sondern aus Ungeduld. Die Arbeit am Schneidetisch ging mir zu langsam, oft vergaß ich, was ich wollte, bevor es getan war. Dann halfen die Möglichkeiten des Avid, sich zu erinnern.

Am Schneidetisch sieht man das Bild auch nicht gut, schlechter als ein analoges oder digitales Videobild. Aber es schwang immer die Vorstellung einer künftigen Projektion mit, bei der aus der Raupe ein Schmetterling wird, das gibt es nicht beim elektronischen Bild. Da hat man allerdings mit zwei Bildern zu tun! Man hat rechts das schon montierte Bild, und links sucht man das Bild, das angefügt werden soll. Das rechte Bild stellt eine Forderung, wird aber vom linken auch kritisiert, manchmal sogar verworfen. Das hat mich darauf gebracht, mit zweistreifigen Arbeiten zu experimentieren, zuerst bei »Schnittstelle«, jetzt wieder bei »Ich glaubte Gefangene zu sehen«. Es geht um eine weiche Montage, bei der ein Bild nicht an die Stelle des anderen tritt, sondern das andere ergänzt, oder umwertet, gewichtet.

Hüser: Du bist 1999 mitten im Krieg aus den USA in die Bundesrepublik zurückgekehrt und wurdest in einer gewissen Art und Weise von einem anderen Film von dir wieder eingeholt, nämlich von »Bilder der Welt und Inschrift des Krieges«. Vieles von dem, was du da analysierst, stand plötzlich wieder auf der Tagesordnung. Anders gesagt: Du hast zehn Jahre früher den Film gemacht, den man zur Analyse dieser Situation gut hätte verwenden können. Wie siehst du diesen Film heute mit der Möglichkeit des Transatlantik-Shifts, der Farocki-Wahrnehmung des Krieges in den USA und hier? War die mediale Situation diesmal ein langweiliges Déjà-vu?

Farocki: 1990, beim Golf-Krieg, da kam es mir so vor, als sei mein Film dazu der Schlüssel. Ich rief auch Fernsehredakteure an und schickte ihnen die VHS - sie hätten nichts bezahlen müssen, die Rechte waren frei für »Bilder-Krieg«, der Fernseh-Kurzfassung von »Bilder der Welt und Inschrift des Krieges«.

Aber bevor die Redakteure die VHS angeschaut hatten, war der Krieg schon vorbei. Ich sage jetzt »Schlüssel«, als öffne sich eine Tür, zur Sache selbst oder ihrer Wahrheit. »Schlüssel« meine ich jetzt, so wie man die Taste »Open« drückt, um ein Dokument vor sich zu haben, nicht als Schlüssel zur Wahrheit. Ich glaube, dass der Golf-Krieg ein gutes Beispiel dafür ist, dass der Militär-Technik-Apparat eine eigene Dynamik hat und sich die Anlässe schafft, um in Aktion zu treten.

Aber im Falle des Kosovo-Krieges scheint mir das anders, ich glaube, da nutzt der Militärkomplex vielleicht die Gelegenheit, aber er scheint sie nicht sich verschafft zu haben. Interessant ist, dass der Golf-Krieg in den USA - und auch hier - fast gänzlich vergessen ist. Schon George Bush wurde nicht wieder gewählt, zwei Jahre nach seinem großen Sieg. Und heute erinnert sich kein Mensch daran, dass es den Krieg mal gegeben hat. Das liegt wohl weniger daran, dass man die Fernsehprogramme nicht mehr erinnert, weil es so viele gibt, sondern dass es keine Begriffe für diesen Krieg gibt, nichts, womit man ihn »verstehen«, wenigstens erinnern könnte - angesichts von 60 Sekunden-Clips startender Maschinen in Italien, irgendeines Bildes an den Gittern eines Lagers und eines Reporters, der sagt: »... und das war das, und ich bin der und der.« Nachrichten, die länger sind als drei Minuten, können sich die Sender schon gar nicht mehr leisten.

Hüser: Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass sich die Intellektuellen auf das große literarische Klima eingelassen haben. Für mich ist das Schweigen und Vergessen hier - es war ja unser erster Krieg, jetzt, wo sich serbischer Hufeisenplan, Good-Will-Rambouillet, Racak und die großen Massaker so langsam in Luft auflösen - fast noch skandalöser als das zu Kriegszeiten. Es sieht fast so aus, als ob wir in einen Angriffskrieg ohne internationales Mandat eingestiegen sind, nur damit die FAZ und die Bundesregierung mal ein Kriegstagebuch schreiben können. Und jetzt will keiner die Bücher lesen. Da ist es schon allein mit Blick auf die Funktion der Luftaufklärung in den Pressekonferenzen des Bundesverteidigungsprosaministers hilfreich, deinen Film wieder anzuschauen.

Farocki: In »Bilder der Welt« dachte ich, es sei gefährlich, dass die Erde für die Cruise Missiles genau vermessen wird. Ich griff in die Geschichte des Bildermachens und leitete her, dass man aufhebt, was man abbildet. Wie bei Poe: Das Bild gelingt und das Vorbild ist verdorben. Die Abbildung hebt auf. Das ist eine alte Erkenntnis, aber erst seit Hiroshima müssen wir fürchten, dass die Welt zum Modell gemacht wird, damit man sie auslöschen kann, oder dass aus der Modellierung die Auslöschung folgt. Als ich an »Bilder der Welt« arbeitete, waren die Bilder noch nicht zugänglich, die dann im Golf-Krieg diese gänzlich neue Kriegsberichterstattung ausmachten.

Hüser: In deinem nächsten Film wird Luftaufklärung in einem Zusammenhang mit Einkaufszentren stehen.

Farocki: In den letzten Monaten habe ich in den USA eine Recherche zu Malls gemacht, und wie sie entworfen und ausgeführt werden. Ich stieß auf ein Buch, das Studenten von Rem Koolhaas gemacht haben, »The Harvard Book of Shopping«. Da wird die These gewagt, viele High-Tech-Firmen, die für die Rüstung gearbeitet haben, würden jetzt High-Tech-Geräte für die Retail-Industrie machen, also etwa elektronische Landkarten, auf denen man die Kaufkraft für den Einzugsbereich eines projektierten Zentrums ablesen kann, economical heat, und ebenso gibt es einen Crime Predicter für eine bestimmte Nachbarschaft. Eine Konvergenz ist das, das Ziel ist nicht mehr der äußere Feind, vielmehr der Verbraucher. Sie führen auch das Beispiel an, dass der General, der im Golf-Krieg die Logistik gemacht hatte, dann zu Sears ging und den Konzern vor der Pleite rettete.

Hüser: Expandiert denn das Mall-Prinzip überhaupt? Ich dachte immer, es sei gesättigt. Das hört sich ja so an, als ob es eine verstärkte Mallisierung der amerikanischen Gesellschaft gäbe.

Farocki: Es gibt wohl eine Sättigung, aber die Investition von Geld und Energie hört nicht auf. Man baut eine neue Mall neben eine alte oder baut eine alte um. Vor hundert Jahren in Deutschland baute man überall Stadtkerne, mit Rathaus, Schule, Polizei, Kirche, Kriegerdenkmal, das sollte der Umgebung einen Impuls und eine Ausrichtung geben. Heute kann und soll dieser Impuls von einem Einkaufszentrum ausgehen, Bahnhöfe, Schwimmbäder, Fabrikhallen, alles wird zu Einkaufszentren zurzeit. Diese Zentren sollen »Erlebniswelten« sein, da wirkt eine totalisierende Vorstellung. So wie Hollywood gegenwärtig darauf aus ist, dass der Wunsch nach anderen Filmen, einem anderen Film, gar nicht mehr aufkommen kann.

Hüser: Stimmt das? So totalisierend sehe ich Hollywood nicht. Die Grenze zwischen Hollywood und Independent ist doch äußerst durchlässig: Filme wie »Buffalo 66«, »Short Cuts«, »Magnolia« erzählen ja durchaus wie ein anderer Film oder versuchen es zumindest. Da werden die Wünsche, von denen du sprichst, wach gehalten und bearbeitet. Schlimm sind die Vorstellungen im deutschen Spielfilm von dem, was ein richtiger amerikanischer Film sein soll. Was sich in Hollywood sogar fortsetzt: Die schlimmsten patriotischen Ami-Filme werden ja mittlerweile von Deutschen gedreht, die sich dort etablieren wollen. Und Hollywood antwortet darauf mit »Mars Attacks«.

Farocki: Der Krieg kam auch im Zusammenhang mit »Ich glaubte Gefangene zu sehen« in meinen Recherchen vor. Auch die Gefängnistechnik hat eine kriegerische Herkunft: elektronische Spürnasen, die die kleinste Menge von Drogen nachweisen können oder auch Augen-Scanner, die in Sekunden einen Menschen identifizieren können. Das wird das Ende einer ganzen Erzählung sein: dass ein Mensch mit dem anderen die Identität tauscht und so aus dem Gefängnis rauskommt. Ich dachte also an den Krieg, weil ich diese kleinen Technikfirmen besuchte. Der Krieg im Kosovo selbst war in den USA merkwürdig abwesend.

Das Gespräch wird in der nächsten Ausgabe fortgesetzt.