6. Jewish Film Festival

Fragment und Identität

Beim 6. Jewish Film Festival in Berlin stehen die dokumentarischen Arbeiten im Vordergrund.

In den großen historischen Zeitläufen die eigene Identität zu fixieren, mag ein hypothetisches Unterfangen sein. Religiöse, kulturelle und nationale Zugehörigkeiten - ob in Israel, den Vereingten Staaten oder anderswo - überlagern sich, sind widersprüchlich oder ergänzen einander. Wo die Verfolgung und der Genozid an den europäischen Juden und Jüdinnen fast alle Spuren ausgelöscht haben, ist die genealogisch-historische Recherche oft der einzige Weg, eine individuelle Perspektive auf jüdische Geschichte und Gegenwart zu finden.

Für die einsam in Paris lebende Régine (Liliane Rovère) in Emmanuel Finkiels »Voyages« (Frankreich 1999) ist das Auftauchen eines alten Mannes, der behauptet, ihr Vater zu sein, ein lähmender Eingriff in ihr Leben. Hatte sie doch - selbst bereits jenseits der sechzig - ein Leben lang geglaubt, ihr Vater sei in einem deutschen Konzentrationslager umgekommen. Wer aber ist dieser freundlich blickende alte Herr Graneck (Nathan Cogan) aus Litauen, dessen Gesichtszüge Régine verstohlen mit den spärlichen Hinweisen auf ihre jüdische Familie - ein paar verwischte Fotos, die sie wie Tarotkarten vor sich auf den Tisch legt - vergleicht. Welche Rolle wird er in ihrem Leben spielen? Und ist ihre misstrauische Suche nach Gemeinsamkeiten nicht bloße Anmaßung? Müsste sie es nicht besser wissen? Trotz aller Zweifel lädt sie Tochter und Enkelkinder zum gemeinsamen Essen mit dem Mann ein - und für einen Moment der Wahlverwandtschaft sind alle Fragen nach seiner Identität nebensächlich geworden.

Emmanuel Finkiels in drei Episoden erzählter Film steht für die im Untertitel des 6. Jewish Film Festivals proklamierten »Visionen, Utopien, Realitäten«. Schwerpunkte der Berliner Veranstaltung sind die Rekonstruktion des jüdischen Lebens und der Kultur vor der Shoa, die Situation insbesondere russischer Immigranten in Israel und damit auch der Wandel orthodoxer Traditionen.

In den beiden anderen, lose miteinander verbundenen Teilen von »Voyages« sind es wiederum zwei Frauen, die auf je unterschiedliche Weise mit ihrer jüdischen Identität umgehen. Auf der einen Seite die in Israel lebende Französin Riwka (Shulamit Adar), die auf einer Bus-Tour mit einer betagten Reisegruppe nach Warschau und Auschwitz mit ihren traumatischen Erinnerungen konfrontiert ist und das Geräusch von Zügen und das Gebell von Hunden zu hören glaubt - andererseits - im letzen Teil - die aus Russland ausgewanderte 80jährige Vera (Esther Gorintin), die jeden Israeli, den sie anspricht, hoffnungsvoll, aber vergeblich »sprechen Sie jiddisch?« fragt. Auch hier stellen Fotografien die Verbindung zur Vergangenheit her. In dem Moment, als der erschöpften Reisenden bei ihrer Odyssee kreuz und quer durch das quirlige Tel Aviv die Fotos aus der Hand gleiten und verloren zu gehen drohen, trifft sie auf jemanden, der ihre Sprache spricht.

Anders als die Momentaufnahmen des oft reportageartig wirkenden Spielfilms von Finkiel bestehen die beiden Filme des Ungarn Péter Forgács vollständig aus historischem Filmmaterial. Neben »The Danube Exodus«, der auf den privaten Aufnahmen eines Schiffkapitäns basiert, der 1939 auf zwei Schiffen 900 ungarische Juden nach Österreich brachte, ist vor allem »The Maelstrom - A Family Chronicle« (beide Filme 1998) als ein außerordentlich präzises Zeitdokument hervorzuheben. Der Dokumentarfilm ist aus den Amateur-Schmalfilm-Aufnahmen des jüdischen Niederländers Max Peereboom zusammengeschnitten. Von 1933 bis 1942 filmte der älteste Sohn einer Amsterdamer Familie - von Forgács wie ein Familienalbum mit Hinweisen auf Eltern, Geschwister und die Verlobte beschriftet und mit historischen Eckdaten versehen - die gemeinsamen Reisen, Familienfeste, seine Arbeit fürs holländische Rote Kreuz und für den Zeitungverlag des Vaters, oder den Geburtstag der Königin Wilhelmina. So entsteht ein exemplarisches Bild des zunehmend reglementierten Alltagslebens einer holländischen jüdischen Familie, die nach der Besetzung durch die Deutschen in Mai 1940 und die antijüdische Gesetzgebung gezielt aus Öffentlichkeit und Berufsleben verdrängt und schließlich per Zwangumsiedlung ins Judenviertel verbracht wurde. Auch hier noch - die Familie sitzt schon auf gepackten Koffern - filmt Peereboom weiter, bis zum Tag vor der Deportation nach Auschwitz. Nur der jüngste Bruder überlebte.

Durch rote und blaue Farbfilter strukturierte Forgács die tonlosen Aufnahmen. Eine eigens komponierte Filmmusik (Tibor Szemö), von niederländischen Nazis gedrehte Aufnahmen der Aufmärsche, Privatfotos von Seyss-Inquart, dem Oberbefehlshaber der NS-Besatzer, beim Tennis mit Himmler, sowie heimlich gemachte Bilder von Verhaftungen und Deportationen vertreiben dabei jede noch so ferne Assoziation an ein Homemovie.

Die politische Situation in Israel kurz vor dem Wahlsieg von Ehud Barak über Benjamin Netanjahu und die neue politische Bedeutung, die den russischen Immigranten seitdem zukommt, umreißt der Dokumentarfilm »Moscow on the Mediterranean« (Israel 1999) von Yeud Levanon im rasanten Stil einer TV-Live-Reportage. Zweisprachig, weil viele Immigranten dank siebzig russischsprachiger Zeitungen und einer Million Einwanderer im letzten Jahrzehnt auch ohne perfektes Hebräisch auskommen, beginnt der Film im Dörfchen Bnei Ayish, das seit den Fünfzigern traditionell von jemenitischen Immigranten bewohnt wurde. Nun ändern sich die Mehrheitsverhältnisse, womöglich auch bei den Regionalwahlen.

Eine Straße trennt heute Little Russia vom jemenitischen Wohnbezirk, besonders die erste Einwanderer-Generation grenzt sich ab. Und beide Gruppen pflegen - gelegentlich auch ironisch - ihre Klischees über »die Anderen«. Die Russen seien autoritätshörig, sagen die einen. Die hingegen kontern, der typische Israeli sei ein Müßiggänger ohne Ehrgeiz, sei im Grunde immer noch ein Basarhändler. Wieder andere reproduzieren die Vorurteile über die rückständigen Ostjuden. Ohne besondere Parteinahme bildet Levanon die Strömungen im »zionistischen Meltingpot«, wie ihn die »russische« Politikerin Larissa Gershtein apostrophiert, ab. Gleichzeitig bemerkt sie selbstbewusst, dies sei das einzige Land, wo sie sich als Teil der Mehrheit fühlen könne und sogar einen gewissen Nationalstolz empfinde.

Einen Film bespielsweise zur Situation russischer jüdischer Einwanderer in der Bundesrepublik sucht man vergebens, wie überhaupt das Film-Programm auch in diesem Jahr Filme aus hiesiger Produktion mit jüdischer Thematik vermissen lässt. Einzige Ausnahme ist der Dokumentarfilm von Jörg Süßenbach und Klaus Sander, »Weintraub Syncopators - Bis ans Ende der Welt«, über eine deutsche Jazzband der zwanziger und dreißiger Jahre.

In Essen, mitten im Ruhr-Melting-Pott, verbrachte die heute in Jerusalem lebende Universitätsprofessorin, Feministin und Friedensaktivistin Alice Shalvi ihre Kindheit. Als sie sieben war, 1934, floh die Familie nach England, später ging sie als Jung-Zionistin nach Israel. Der Dokumentarfilm »Rites of Passage« (Israel 1999) von Paula Weinmann-Kelman reflektiert in Interview-Takes und Aufnahmen des öffentlichen und privaten Alltags die Stationen der Biografie Shalvis - Shakespeare-Expertin, Mutter von sechs Kindern, Professorin an der Hebrew University und Leiterin einer religiösen Mädchenschule. Heute setzt sich Shalvi für das weibliche Rabbinat ein und engagiert sich gemeinsam mit palästinensischen Frauen wie Hanan Ashravi für den Friedensprozess. »Jeder Bar Mitzvah-Knabe wird zur Thora-Rolle gerufen«, sagt sie, »und ich musste 40 Jahre warten, bis ich das erste Mal als Ehrengast dieses Ritual tun durfte«.

6. Jewish Film Festival, Berlin, Arsenal 1, Filmhaus am Potsdamer Platz. Bis 21. Juni