Werden die Evangelikalen McCain wählen?

Ausgerechnet Alaska

Die weißen Evangelikalen verhalfen George W. Bush zu einer zweiten Amtszeit. Doch der Kandidat John McCain ist unter den rechten Evangelikalen nicht sonderlich beliebt.

Sie wirkt, als sei sie einem patriotischen Kitschgemälde von Norman Rockwell entsprungen, wie die archetypische american mum. Sie ist die ideale Reizfigur für amerikanische Liberale, die genüsslich ihre Häme über die mit einem Schneemobilchampion verheiratete fünffache Mutter gießen: Sarah Palin, Vizekandidatin des republikanischen Präsidentschaftskandidaten John McCain.

Die Nominierung der nahezu unbekannten evan­gelikalen Gouverneurin von Alaska galt Ende August als spektakulärer Coup. McCains running mate schien wie geschaffen für die Rekrutierung der Bodentruppen der christlichen Rechten im Wahlkampf der Grand Old Party der Republikaner. Geprägt von ihrer einstigen Kirche, der kulturkämpferischen Assemblies of God, ist Palin bestens vertraut mit buchstabengetreuer Bibelauslegung und den apokalyptischen Prophezeiungen eines nahenden Armageddon. Sie gilt als Vertreterin des berüchtigten Wertekanons der christlichen Rechten, die sich gegen Abtreibung und Evolutionslehre und für das Schulgebet und privaten Waffenbesitz ausspricht.
Doch Palin sorgte mit peinlichen Interviews, unbeholfen wirkenden Auftritten im Fernsehen und aus Spendengeldern zusammengestellter Garderobe für einigen Unmut – auch im konservativen Lager. Ronald Reagans einstige Reden­schreiberin Peggy Noonan zweifelte im Wall Street Journal an Palins Eignung für das Amt und bezeichnete den provinziellen Stil der Gouverneurin als »Symptom und Ausdruck einer neuen Vulgarisierung der amerikanischen Politik«. George W. Bushs ehemaliger Berater David Frum polemisierte in einem Interview, Palin sei ein »fataler Krebs in der Republikanischen Partei«.

Seit Beginn der Ära Reagan existiert ein rechts­evangelikales Spektrum, das einen wichtigen Stamm der G.O.P. bildet und die amerikanischen cultural wars anführt. Doch die alte Reagan-Koalition aus Fiskalkonservativen, militärischen Falken und traditionellen Christen droht am Ende der Ära von George W. Bush auseinanderzubrechen. Im republikanischen Wahlkampf treten die politischen Veränderungen im evangelikalen Lager deutlich hervor.
Der vor den Primaries bereits abgeschriebene, finanziell in arge Nöte geratene und schließlich wiederauferstandene McCain sah sich zu Beginn seiner Kampagne gezwungen, auf Distanz zu Unterstützern aus dem wahlentscheidenden evangelikalen Lager zu gehen. So hatte der texanische Fernsehprediger und Gründer der Christians United for Israel, Reverend John Hagee, mit aggressiven antikatholischen Ausfällen für Aufsehen gesorgt und den Holocaust als Teil von Gottes Plan zur Ansiedelung der Juden in Palästina bezeichnet.

Das Verhältnis McCains zu den Führungsfiguren der christlichen Rechten ist traditionell angespannt. Bereits im Vorwahlkampf 2000 wandte sich der damalige Konkurrent von George W. Bush gegen den strikt antiliberalen Fernsehprediger Pat Robertson von der fundamentalistischen Christian Coalition und den 2007 verstorbenen Reverend Jerry Falwell, Gründer des legendären Moral Majority Movement, weil diese einen fatalen Einfluss auf die G.O.P. hätten.
Für die Kampagne 2008 aber brauchte McCain den geistlichen Beistand prominenter Evangelikaler, um die Parteirechte, die seine Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten nicht begrüßte, weiter an die Republikaner zu binden. Der Radio-Talkmaster Rush Limbaugh kündigte beispielsweise nach dem Parteivotum für McCain an, eventuell für Hillary Clinton zu stimmen. Auf dieses extrem rechte Milieu der G.O.P hatte Palins Nominierung allerdings den gewünschten stabilisierenden Effekt.
Über die parteiinterne Befriedung hinaus war die Allianz mit den Repräsentanten der evangelikalen Rechten Ausdruck wahlstrategischer Notwendigkeiten. Die rund 65 Millionen weißen Evangelikalen sind für den Wahlerfolg jedes republikanischen Kandidaten unverzichtbar. Jede vierte Wahlstimme wird diesem Lager zugerechnet. 2004 sicherten rund 78 Prozent der weißen Evangelikalen Präsident George W. Bush eine zweite Amtszeit.
Die Befürchtungen, wonach die Vereinigten Staaten mit ihrer säkularen Verfassung weiter auf dem Weg in eine Theokratie seien, wurden mit Palins Nominierung bestätigt: ein antiliberaler Staat, in dem auch außerhalb vom spöttisch »Jesusland« genannten Mittleren Westen verhindert werden soll, dass Larry und Sam jemals feierlich getraut werden können. Wenn man aber die vorhandenen reaktionären Tendenzen dramatisiert, die sich an der Berufung des erzkonservativen Richters Samuel Alito an den Supreme Court zeigen, analysiert man die realen Kräfteverhältnisse in den USA falsch und verkennt die Heterogenität des evangelikalen Lagers.
So gab sich Palin in der Fernsehdebatte mit ihrem demokratischen Konkurrenten Joe Biden in der Frage der Homo-Ehe oder des vom Menschen verursachten Klimawandels angesichts der Agenda der religiösen Rechten eher handzahm. Die liberale Tradition in den Vereinigten Staaten sowie progressive Gegengewichte verhindern allzu forsche konservative Offensiven. Geeinigt werden die rechten Kulturkämpfer in den Reihen der Evangelikalen schließlich durch ein gemeinsames Feindbild: Barack Hussein Obama und dessen steuerpolitischen »Sozialismus«, der nicht nur hart arbeitende Durchschnittsamerikaner wie »Joe, den Klempner« kalt enteignen würde.

In den schwarzen evangelikalen Gemeinden, in denen etwa acht Prozent der amerikanischen Bevölkerung versammelt sind, herrschen andere Ansichten in Fragen der Sozialpolitik. Hier ist man gegen die politische Auffassung der Mehrheit der weißen evangelikalen Rechten. Wie in den von hispanischen Zuwanderern revitalisierten katholischen Gemeinden herrscht in den schwarzen Gemeinden eine »wohlfahrtsstaatliche« Tradition, die sich gegen das marktradikale Credo vom Survival of the fittest richtet, welches der weiße evangelikale Mainstream vertritt, ein Erbe der protestantischen Arbeitsethik.
Im ausklingenden Wahlkampf repräsentiert Sarah Palin das alte Lager erzkonservativer Christen, deren Werten allerdings auch unter George W. Bush nur partiell entsprochen wurde. Doch nicht nur in afroamerikanischen Gemeinden regt sich zunehmend Widerspruch gegen die traditionelle evangelikale Rechte, die seit dem Tod von Jerry Falwell und dem Rückzug ihres bekanntesten Predigers Billy Graham personell neu zusammenfinden muss. Unter dem Titel »The Evangelical Manifesto« werben gemäßigte Evangelikale wie Joel Hunter von der in Florida ansässigen Kirche Northland Church für eine politische Neuorientierung. Themen wie Klimaschutz, interreligiöser Dialog und humanere Einwanderungsgesetze stehen im Mittelpunkt dieser Fraktion, welche die cultural wars beenden will. Nicht ohne Wirkung: Hunter sprach das Schlussgebet auf dem Konvent der Demokraten in Denver – kurz nachdem Barack Obama seine an religiöser Rhetorik geschulte Rede vom Wandel gehalten hatte.
Am Ende der Ära Bush formieren sich die Kräfte in den Reihen der G.O.P. und unter ihren evangelikalen Wählern neu. Trotz der Propaganda der religiösen Rechten erhält Obama nach Angaben des Pew Research Center kurz vor der Wahl Zuspruch von immerhin 24 Prozent der weißen Evangelikalen. Auch wenn in der Wahlkabine traditionelle Bindungen wirksam werden, waren seit der Kandidatur Jimmy Carters die Chancen für Demokraten nie wieder so gut.