Die Ware okkupiert Ägypten

Das große Durcheinander

Die Freizeit des Nordens ist zur Arbeit des Südens geworden. Das Trojanische Pferd ist der Tourismus, und die Kamele heißen Bob Marley. So geht es in Ägypten zu.

Kairo im Ramadan-Monat. Im alten muslimischen Viertel herrscht eine merkwürdige Stille. Es ist kurz vor 17 Uhr, die Zeit des Sonnenuntergangs in Mekka, wenn das tägliche Fasten unterbrochen wird. Vor einer Stunde ist das übliche Straßenchaos weiter gewachsen. Abertausende von Hungrigen sind an den Ort der ersten Mahlzeit des Tages geeilt. Und wer keine Familie hat, zu der er sich setzen kann, wer zu den zahllosen Habenichtsen der ägyptischen Hauptstadt gehört, der sitzt jetzt an einer der vielen, von wohlhabenden Bürgern gesponserten »Tafeln der Barmherzigkeit«, die auf öffentlichen Plätzen, Gehwegen und in Gassen eingerichtet sind.

Das Essen steht schon auf dem Tisch, doch zuerst wird für das Wohl des Spenders gebetet. Der Ablauf des Rituals wird von dem aufgestellten Fernseher bestimmt. Um Punkt fünf Uhr stürzen sich die Hungernden (genau wie eine Milliarde Menschen weltweit) auf ihren Schmaus, wobei manche ihre Portion diskret in Plastiktüten einpacken. Es wird kaum ein Wort gewechselt: Nach fünf Minuten ist die Sache gegessen. Noch einmal stellt das Fernsehen fest, dass Allah der einzige Gott und Mohammed sein Prophet ist, dann macht man es sich gemütlich, Wasserpfeifen werden angezündet, jetzt kommt die Werbepause.

Zunächst erscheint eine schöne Dame auf dem Bildschirm, die mit dem neuen Ford-Modell durch die Wüste rast. Selbstverständlich trägt sie kein Kopftuch. Dann macht sich ein junger Kerl hübsch, steigt in sein Cabrio und holt seine Freundin ab. Mit dem rechten Arm auf ihrer Schulter, fährt er lässig zu einem Haus mit McDonald's-Leuchtschild auf dem Dach.

Keine Polizei erscheint, um das Paar anzuhalten, es nach den Personalien zu fragen, zum Revier zu bringen und dort mit einer zweijährigen Gefängnisstrafe wegen unehelicher Beziehung zu bedrohen. Im nächsten Werbespot versucht ein junger Mann, der schönen Nachbarin von gegenüber etwas zuzurufen, doch das Fenster wird von deren Mutter überwacht. Also greift er zu seinem Handy und gibt die Message »tonight dancing at 10« ein, welche von der Nachbarin, die auch ein Handy besitzt, hinter dem Rücken der Mutter lächelnd empfangen wird.

In den letzten Jahren hat sich die Zahl der Tafeln der Barmherzigkeit erhöht, genau wie die der Armen und das Unbehagen der Neureichen. Allein in Kairo wurden im diesjährigen Ramadan mehr als 1,5 Millionen kostenlose Essen ausgegeben. Eine Leistung des Islams, in areligiösen Kulturen lässt sich der Begriff Barmherzigkeit schwer übersetzen. Vergeblich hat die Regierung versucht, dieses Phänomen einzudämmen - dahinter wird eine Einflussnahme von Geschäftsleuten mit politischen Ambitionen gewittert. Mit genauso wenig Erfolg wie die islamischen Autoritäten, die versuchten, die Unterbrechung von religiösen Sendungen mit Werbespots zu verhindern.

Diesen Konflikt könnte man wie eine klassische Tragödie dargestellen: Die Hauptfigur, ein beliebiger Ägypter, wird von der Tradition, einem älteren Weib mit verschleiertem Antlitz, angesprochen. Sie verspricht ihm Zugehörigkeit, Nächstenliebe, soziale Sicherheit und Schutz vor allem Neuen und Fremden, verlangt dafür aber Gehorsam und Ergebung (die wortwörtliche Bedeutung von »Islam«). Dann betritt Werbung die Bühne, eine verführerische junge Frau. Sie verspricht eine Menge von Waren, sie verspricht Weltoffenheit und Anerkennung, vor allem aber macht sie ein Versprechen, das sich mit der Tradition nicht vereinbaren lässt: individuelle Freiheit. Wie es ausgeht, ist ungewiss. Der viel beschworene »Kampf der Kulturen« findet weiterhin statt - in den Köpfen der Einzelnen.

Liest man die Al-Ahram, eine Kairoer Zeitung mit englischer Ausgabe, sieht die Sache so aus: Schuld ist der Westen, der sowohl die lokale Ökonomie als auch die kulturelle Identität zerstöre. Die fremde Lebensweise wird als Folge des hegemonialen Welthandels zwangsweise importiert. Der Ökonom Galal Amin warnt davor, sämtliche Merkmale der Globalkultur anzunehmen und nennt »McDonald's, Cola, Fernsehsendungen und bestimmte Familien- und sexuelle Beziehungen« in einem Atemzug. Der Journalist Mohammed Awad beschuldigt das Fernsehen, die kulturelle Botschaft multinationaler Konzerne zu vermitteln, »die den Konsum vor die Produktion und den Einzelnen höher als die Gesellschaft stellt«.

Der Schriftsteller Mustapha Abdel-Ghani lamentiert darüber, dass »der Araber sich heute im Spiegel des Westens anschaut«. Ohne die Rückkopplung der westlichen Botschaft in zumindest einem Teil der Bevölkerung, wären solche Predigten nicht nötig. Lassen sich die Lebensformen, etwa was »bestimmte Familien- und sexuelle Beziehungen« angeht, wie ein beliebiges Produkt monopolistisch aufdrängen? Es wäre für einen Fremden hochnäsig, diese Fragen im ägyptischen Kontext beurteilen zu wollen.

Einerseits läuft das Anprangern von »archaischen« Traditionen - die Stellung der Frauen etwa - sehr schnell auf westlichen Werte-Imperialismus hinaus, andererseits ignoriert die westliche multikultuerell geprägte Achtung des »Andersseins« allzu leicht die schmerzhaften Widersprüche, die sich im individuellen Erleben abspielen. Doch eines kennen wir aus eigener Erfahrung: die zersetzende, doch unwiderstehliche Kraft der Warenwelt, jene Offenbarung einer persönlichen Emanzipation von Familien, religiösen und kulturellen Bindungen. In dieser Hinsicht ist Ägypten nur ein Schauplatz eines weltweiten Dramas, in dem die Rollen sich je nach sozialer Position unterscheiden.

»Nie würde ich eine ägyptische Frau heiraten«, spottet Ali. Wir sitzen in einem Nachtlokal im Stadtzentrum. Die Szenerie mutet wie die modische Kopie eines Originals an. Unter Beihilfe eines Synthesizers werden Um Kalsums Lieder von einem Sänger verschandelt, der vergebens versucht, seine dünne Stimme durch übertriebenes Echo zu kaschieren.

Währenddessen wedelt er demonstrativ mit den Geldscheinen, die ihm eine wenig anspruchsvolle Kundschaft zugesteckt hat. Im Alkoven amüsieren sich Kaufleute mit nicht gerade traditionell gekleideten Damen - russische Nutten. Lediglich eine Familie, die komplett erschienen ist, um hier ihren Ramadan-Ausflug zu feiern, scheint sich wirklich zu amüsieren. Die Frauen in Jeans und ohne Kopftuch versuchen sich im Bauchtanz, der noch jede erotische Schilderung eines Flaubert unterbietet. Ansonsten sitzen einsame Männer herum und trinken schweigsam Malventee. Alkohol wird nur gegen Vorlage eines ausländischen Passes verkauft.

Ali macht seinem generellen Unmut Luft. Er ist in der »City of the Dead« geboren, jenem riesigen Friedhof von Kairo, auf dem auch eine Million Menschen leben. Traditionsgemäß hat sich seine Familie für seinen älteren Bruder aufgeopfert. Der hat es geschafft aufzusteigen, er lehrt Ägyptologie in Europa, ist dort verheiratet und hat der Mutter eine Wohnung in einem Neubauviertel gekauft. Dagegen ist die Schwester mit Kind und Kegel im Friedhofshäuschen geblieben und opfert sich ihrerseits, wie Allah es will, für den ältesten Sohn.

Ali sitzt zwischen zwei Stühlen: Die westliche Gesellschaft ist ihm verschlossen, doch in der traditionellen Struktur erstickt er. Eine Familie will dieser einsame Wolf auf keinen Fall gründen, wie sollte er sie auch ernähren? So lebt er in Kairo als selbst ernannter Touristenbegleiter von der Hand in den Mund. Doch Ali hat sein irdisches Paradies entdeckt, und dahin will er auch wieder zurück: nach Dahab, wo Geld einfach zu machen ist, Bier und Whisky rund um die Uhr fließen und blonde Frauen im Bikini zum Greifen nahe sind. Wie in der Werbung.

Noch vor 15 Jahren bestand die Ortschaft Dahab lediglich aus einigen Palmen am Roten Meer und war lediglich eine Zwischenstation für die Beduinen. Dies hatte vor allem mit den politischen Zuständen auf dem Süd-Sinai zu tun. Nun herrscht Eldorado-Stimmung, Dahab hat sich rasant zu einer touristischen Kleinstadt entwickelt, die vom Überschuss an Kairoer Unternehmerlust profitiert. In einer Mischung aus Gastfreundlichkeit und Abzockerei steht Rucksackurlaubern und Tauchfreaks eine breites Unterhaltungsangebot- inklusive eines Irish Pub und eines chinesischen Restaurants - zur Verfügung.

Zwar wurde auch eine Moschee errichtet, doch der Ruf des Muezzin wird von den Radios am Strand übertönt, mit Botschaften wie »I want to have sex on the beach«. In Dahab ist alles cool. Wegen der bürokratischen Trägheit ist noch keine ordentliche Infrastruktur zustande gekommen, also bleiben vorläufig wohlhabende Ausflügler aus.

Der Tourismus spielt im sozialen Raum die Rolle, die die Werbung für die Phantasien hat. Da die Freizeit des Nordens zu einer wichtigen Arbeitsquelle des Südens geworden ist - eine seltsame Voraussetzung für interkulturellen Austausch -, sind Länder wie Ägypten verpflichtet, die Tourismusbranche zu entwickeln. Das geschieht nicht ohne faule Kompromisse: Zur Millenniumsfeier etwa wurde in der ganzen Welt für ein pompöses »Event« an den Pyramiden von Gizeh mit Light-Shows und Jean-Michel Jarre geworben. Prompt protestierten die religiösen Führer gegen die gottlose Verletzung des Fastenmonats. Also wurde beschlossen, die Feierlichkeiten unter ein generelles Alkoholverbot zu stellen, was wiederum die Partygäste mächtig ärgerte, da sie nicht mit Sekt anstoßen konnten. Doch trotz aller Unannehmlichkeiten muss die Show weitergehen.

Tourismus ist das Trojanische Pferd der Marktgesellschaft und schafft eine Angleichung, die sich ironischerweise unter dem Vorwand der Entdeckung des Anderen vollzieht - wer zu Hause den Begriff »kulturelle Identität« missachtet, reist gern, »um andere Kulturen zu entdecken«. Und, ob gewünscht oder nicht, die Freizeitpark-Werdung der Welt scheint unabänderlich zu sein. Stellen wir uns vor, eine Gemeinschaft hätte es endlich geschafft, eine ideale Stadt aufzubauen, wo sich die freie Utopie entfalten könnte. Würden die Staatsmächte Einsatztruppen hinschicken, um die Stadt platt zu machen, wie es einst den Münsterschen Täufern geschah?

Nein, das brauchen sie nicht mehr. Ein paar Seiten in einem Reiseführer, eine Charterlinie und bald wird sich das irdische Eden in ein weiteres Disneyland verwandelt haben. Es sei denn, die vorsichtigen Stadtbewohner hätten sich durch einen dicken antitouristischen Schutzwall mit bewaffneten Wächtern abgegrenzt. Angesichts ihrer Ziele - die freilich mit einer Utopie westlicher Prägung nicht vergleichbar sind - beging die Djamaa Islamiyia keinen Fehler, als sie 1998 in Luxor einen Haufen Touristen abknallte: Sie sind ihre Todfeinde.

Doch dieser Angriff trug nur zu einer Beschleunigung der Auflösung der traditonellen Gesellschaft bei. Von der auf den Anschlag folgenden Touristenflucht alarmiert, erinnerte sich der zuständige Minister daran, dass Ägypten nicht nur die Pyramiden anzubieten hat, sondern auch Stätten des Urchristentums. In den Dörfern, wo vor ausgerechnet 2000 Jahren - welch ein Glücksfall! - die Heilige Familie auf Urlaub geweilt haben soll, wurden Hotels errichtet. Wegen der medienwirksamen »Religionsvielfalt« werden sich nun muslimische Arbeitslose zu Christendienern bekehren müssen.

Doch so sehr die Dynamik des Tourismus von der euro-amerikanischen Sehnsucht nach Sonne, Natur und Tradition angetrieben wird, sie ist keineswegs ein einseitiger Prozess. Man könnte eher von einem symbolischem Tausch reden: Touristen reisen, um »Authentizität« und »Andersartigkeit« zu finden, und die Einheimischen haben gelernt, den Kunden nicht zu enttäuschen und liefern ihm seine eigene folkloristische Vorstellung der Authentizität.

Hingegen werden die Phantasien von Luxus und easy living, die sich die Armen von den reichen Ländern machen, von den Nichtstuern am Strand bestätigt. So entsteht eine gegenseitige Annäherung, die auf Trugbildern beruht, doch eine neue Wirklichkeit schafft. Die Arbeiter im Freizeitsektor sind meistens Traditionsflüchtlinge, die versuchen das Versprechen der Werbung zu verwirklichen.

Im Gegensatz zu Gastarbeitern leben sie unter den modernsten, also irrealen Bedingungen der postindustriell-hedonistischen Gesellschaft. Sie müssen sich sämtliche Merkmale der Werbung aneignen. Sie leben in einer Gegenwart, wo nichts Dauerhaftes bestehen kann, Freundschaften halten eine Woche oder zwei, dann fahren die Urlauber nach Hause und werden durch eine neue Ladung ersetzt, stets stehen sie in Konkurrenz zueinander, dabei sind sie guter Laune und der Unbekümmertheit verpflichtet. Doch so unbefriedigend dieser Zustand auch sein mag, für die meisten wäre eine Rückkehr zur traditionellen Lebensweise unvorstellbar. Sie haben von dem perversen Charme der Unverbundenheit gekostet.

Die Urbewohner einer 15 Kilometer von Dahab entfernten Hüttensiedlung sehen der Erweiterung der Freizeitzone bis zum Süd-Sinai mürrisch entgegen. Spottbillig hatten sie die Grundstücke in Dahab an Ägypter verpachtet, die sie nun für fettes Geld an weitere Eindringlinge weitervermieten. Sowohl unter israelischer als auch unter ägyptischer Verwaltung war den Beduinen bisher ein gewisses Maß an Selbstbestimmung auf der dürren Halbinsel gestattet gewesen. Doch die touristische Entwicklung empfinden sie als Vorwand einer erzwungenen Ägyptisierung, die sich mit alltäglichem Rassismus vollzieht. Hin und wieder werden sie bei Polizeirazzien durchsucht, entweder um Wehrdienstverweigerer oder Gras zu finden.

Doch so sehr sie die Kolonisation verfluchen, auch die Beduinen bleiben von den Verführungen der Warenwelt nicht ungerührt. Für den täglichen Verkehr haben schon lange Toyotas - infolge einer erfolgreichen Werbekampagne mit Diego Maradona - die Kamele ersetzt. Und die ehemalige Siedlung an der Oase haben sie verlassen, weil ihr Weg nicht befahrbar war. Die stolzen Wüstenschiffe, die immer noch nach tausendjähriger Tradition bedichtet werden, werden für Spazierritte an Autofahrer im Urlaub vermietet, und sie tragen Namen wie »Santana« oder »Bob Marley«.

Nach dem Trickle-down-Effekt dehnt sich die Freizeitökonomie Dahabs bis zum Beduinendorf aus. Dort können die Urlauber, die sich nach Natur und Ruhe sehnen, eine Hütte mieten und frischen Fisch essen. Das Geschäft mit den Touristen, das zwangsläufig nach dem individuellem Leistungsprinzip erfolgt, gefährdet den traditionellen, durch Knappheit erhaltenen Egalitarismus. Die Beduinen wissen, dass sie nun ums Überleben kämpfen. Abends am Feuer träumen waffengeile Männer von einer beduinischen Intifada, die die Ägypter aus dem Sinai vertreiben würde, doch dafür sind die Männer viel zu wenige - auch ein Grund, um den Brauch zu bewahren, wonach Männer nicht-beduinische Frauen heiraten dürfen, Frauen Nicht-Beduinen hingegen nicht. »Jede hinzugekommene Frau stärkt unsere Gemeinschaft, doch verließen uns unsere Töchter, würde unser Volk bald verschwinden.«

Mit solchen bevölkerungspolitischen Überlegungen hat die 16jährige Aischa nichts am Hut. Abends sitzt sie am Strand und blickt sehnsüchtig nach den fernen Lichtern von Dahab. Dort, in der verwestlichten Stadt, lebt ein Ägypter, in den sie verliebt ist.