Gott der Schaubühne

Vor 300 Jahren wurde der Theaterreformer Johann Christoph Gottsched geboren.

Ein frühreifer Junge: Schon mit 14 immatrikuliert sich Gottsched, protestantischer Pfarrerssohn wie so viele Dichter und Denker in dieser Zeit, an der Universität Königsberg, zunächst natürlich, um dort die »Gottesgelahrtheit« zu studieren. Aber bald kümmert er sich mehr um Philologie, Rhetorik und auch Poesie, liest alle großen Aufklärer, Leibniz, Locke, Thomasius, vor allem Christian Wolff. 1723 beendet er sein Studium und gibt erste Vorlesungen zur Rede- und Dichtkunst, muss aber bereits im folgenden Jahr vor den Werbern des preußischen Königs, die ihn mit Gewalt rekrutieren wollen, nach Leipzig fliehen.

Hier bringt er es nach einigen Jahren zum Professor und dank seines publizistischen Fleißes auch bald zu gewaltigem öffentlichen Einfluss. Er übersetzt philosophische Standardwerke wie Pierre Bayles »Dictionnaire historique et critique«, kommentiert Leibniz' »Theodicee« und ruft mit Die Vernünfftigen Tadlerinnen, später Der Biedermann moralische Wochenschriften ins Leben, Kopien der beliebten englischen moral weeklies, die eine relativ breite Leserschicht erreichen und mit aufklärerischem Gedankengut bekannt machen.

Diese Publikationen, noch mehr aber seine »Beyträge zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit« spielen eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung einer lesenden kritischen Öffentlichkeit. Was in den »Beyträgen« sukzessive zusammengetragen wurde, kompilierte Gottsched dann in seinem »Versuch einer kritischen Dichtkunst vor die Deutschen« (1729/30). Diese Schrift war die letzte einer Reihe von normativen Poetiken in Deutschland, ausgehend von Martin Opitz' »Buch von der deutschen Poeterey« (1624), die noch wirklich unmittelbar ins literarische Tagesgeschäft eingreifen und es maßgeblich beeinflussen konnte.

Der Titel verspricht ja auch so einiges, nämlich das: »Darinnen erstlich die allgemeinen Regeln der Poesie, hernach alle besonderen Gattungen der Gedichte (i.e. Dichtungen), abgehandelt und mit Exempeln erläutert werden, überall aber gezeiget wird: Daß das innere Wesen der Poesie in einer Nachahmung der Natur bestehe.« Gottsched greift auf den Mimesis-Begriff von Aristoteles zurück: Weil die Natur schön sei, müsse das Kunstwerk sie nachahmen. Da die Natur nun aber unwandelbaren und vor allem vernünftigen Gesetzen gehorche, so müssten auch der Kunst ebensolche Regeln zu Grunde liegen. Diese seien überindividuell, nicht vom Geschmack des Einzelnen abhängig, ästhetische Universalien mithin, die unsere Ratio nur aufzuspüren habe: Das Prinzip der Wahrscheinlichkeit etwa bekommt eine zentrale Stellung zugewiesen, das Unwahrscheinliche und Dunkle wird abgelehnt, weil es der Vernunft widerspricht.

Dichtung erscheint in Gottscheds Poetik als eine Art Handwerk, das im Prinzip für Jedermann erlernbar sei. Und er, der Zunftmeister, mit Verstand bis zu ihrem inneren Wesen vorgedrungen, kann dann auch ganz konkrete Anweisungen geben - z.B. wie man ein Trauerspiel zu verfertigen habe: »Der Poet wählet sich einen moralischen Lehrsatz, den er seinen Zuschauern auf eine sinnliche Art einprägen will. Dazu ersinnt er sich eine allgemeine Fabel, daraus die Wahrheit eines Satzes erhellet. Hiernächst suchet er in der Historie solche berühmte Leute, denen etwas ähnliches begegnet; und von diesen entlehnt er die Namen, für die Personen seiner Fabel; um derselben also ein Ansehen zu geben (...)«. Und so fort. Gottsched redet einer entschiedenen Wirkungsästhetik das Wort, die den Künstler einschwört auf die großen Paradigmen Vernunft und vor allem Tugend. Deshalb steht am Anfang der Poesieproduktion ein »moralischer Lehrsatz«, und deshalb wird auch der »Fabel« so viel Gewicht beigemessen, denn nur im Handlungsvollzug lässt sich ja die postulierte Tugendhaftigkeit vorführen und einüben.

Und um zu demonstrieren, wie so ein sittliches, vernünftiges, mithin seiner »Critischen Dichtkunst« gemäßes Kunstwerk auszusehen habe, hat er gleich im Anschluss ein »erstes regelrechtes deutsches Trauerspiel« nachgeliefert. Sein »Sterbender Cato« ist freilich nur ein papiernes, reichlich langweiliges Ideendrama, das den tragisch-heroischen Selbstmord des von Cäsar besiegten römischen Republikaners Cato Uticensis behandelt, vor allem das Problem der Illegitimität dieser Tat. Und es ist im Grunde auch nicht mehr als eine Bearbeitung: eine aus Cato-Dramen von Joseph Addison und Fran ç ois Deschamps mit »Kleister und Schere« - wie sein späterer Erzfeind Johann Jakob Bodmer spöttisch bemerkte - zusammengebastelte Übersetzungscollage. Aber immerhin - regelgerecht!

Um solche dem französischen Klassizismus nacheifernden Stücke auf die Bühne bringen und das Theater als Tugendanstalt im Sinne der Aufklärung nutzbar machen zu können, musste sich vorerst jedoch noch einiges an der herrschenden Theaterpraxis ändern. Noch bekam man, wie Gottsched zornig vermeldete, nur »schwülstige und mit Harlekins-Lustbarkeiten untermengte Haupt- und Staat-Actionen, lauter unnatürliche Romanstreiche und Liebesverwirrungen, lauter pöbelhafte Fratzen und Zoten« zu sehen.

Bei dem Versuch, die zeitgenössische Schaubühne zu reformieren, bringt er durchaus einigen Mut auf: Der angesehene Universitätsprofessor verbindet sich ganz gegen Sitte und Anstand mit einer wandernden Schauspieltruppe (um Friederike Caroline Neuber), lässt zunächst von ihr in einem öffentlichen Spektakel den Harlekin von der Bühne vertreiben - und ersetzt die episodischen Stehgreiftburesken durch ein straffes, durchkonstruiertes Theater antiken Zuschnitts.

Überdies stellt er progressiven Schauspieltruppen und Dramatikern mit der »Deutschen Schaubühne nach den Regeln und Exempeln der Alten« eine Beispielsammlung von Stücken zur Verfügung, die dann für die Entwicklung des deutschen Theaters von kaum zu unterschätzendem Einfluss ist. Sie enthält vornehmlich Übersetzungen, aber auch »Originalstücke»: Tragödien - die Königsgattung war augenscheinlich Chefsache! - neben einigen Lustspielen von seiner Frau Luise Adelgunde Victorie, genannt die Gottschedin, die im dramatischen Fach mehr Talent bewies als ihr Mann.

Anfang der vierziger Jahre des 18. Jahrhunderts steht Gottsched damit im Zenit seines Erfolgs. Er ist die absolute Autorität, der Praeceptor germaniae in allen Bereichen des literarischen Lebens. Dann allerdings kommen die »Schweizer« - Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger - und demontieren das Denkmal. Der Streit entbrennt an Miltons Bibelepos »Paradise Lost«, in dem ganz wider alle Wahrscheinlichkeit leibhaftige Engel auftreten. Das muss Gottsched provozieren, denn seiner Ansicht nach soll ja gerade die »gar zu hitzige Einbildungskraft (...) durch eine gesunde Vernunft gemäßiget« werden. Mit anderen Worten, er will nur reproduktive Einbildungskraft gelten lassen, Phantasie, die fest an die faktische Realität gekettet ist. Bodmer und Breitinger gehen da weiter, machen das Leibnizsche Theorem von den »möglichen Welten« poetologisch fruchtbar und ziehen einen Trennungsstrich zwischen historischer und poetischer Wahrheit: »denn was ist Dichten anders, als sich in der Phantasie neue Begriffe und Vorstellungen formieren, deren Originale nicht in der gegenwärtigen Welt der würcklichen Dinge, sondern in irgend einem andern möglichen Welt-Gebäude zu suchen sind«.

Die Schweizer emanzipieren die Phantasie und etablieren das Irrationale bzw. Wunderbare in der Dichtung - mehr noch, seine Vergegenwärtigung wird gerade zu ihrem Hauptzweck erklärt. Dieses die Kunst vom Joch der Vernunft befreiende Paradigma setzt sich schließlich durch, und Gottscheds Schule verliert mehr und mehr an Einfluss, wird schließlich marginalisiert und einfach altmodisch. Er selbst freilich hält dogmatisch an seiner Lehre fest. So erteilt er noch 1751, in der 4. Auflage der »Critischen Dichtkunst«, dem Wunderbaren halsstarrig eine Absage.

Lessing, der gerade alles daran setzt, sich die Position zu erschreiben, die Gottsched einst besetzte, kann ihn da schon nicht mehr recht ernst nehmen und nutzt jede sich ihm bietende Gelegenheit für ironische Anspielungen und Sottisen. Ihm ist er bloß noch »ein gewisser deutscher Kunstrichter, welcher den Tempel des Geschmacks nur mit seinen Schülern füllen will«. So ein Verdikt ist schlecht für den Nachruhm, und es hat dann auch fast hundert Jahre gedauert (bis zu Danzels Monographie »Gottsched und seine Zeit« von 1848), ehe Gottsched die historische Gerechtigkeit zuteil wurde, die er verdient.