Von Wölfen und Männern

Die »Moskauer Banditenmusik« ist das einzige gelungene Pop-Produkt der Jelzin-Ära.

Die Moskauer Taxifahrer zeichnen sich - wie überall in der Welt - durch Kompetenz aus: in Sachen Verkehrssicherheit, Fahrtrichtung und Musikgeschmack. Ausgestattet mit Anti-Radarfallen und Polizeifunk, bringen sie einen für ein paar Mark oder ein halbes russisches Monatsgehalt von einem Ende der Stadt zum anderen und unterhalten einen unterwegs mit wohlklingender Popmusik: postsowjetische Estrade, Disco- und Schlagerhits oder aber russische Banditenmusik. »Wenn du fährst, Lieder singst, hörst du den Motor / und er mit dir zusammen singt, das gibt dem Lied Geschwindigkeit / steuerst du so, verwelken die Blumen / Chauffieren ist genauso wie Stehlen, schnappen tun sie dich so & so«. Diese Musik ist nicht nur das einzig gelungene Produkt der Populärkultur, das die Jelzin-Ära hervorgebracht hat, sondern es passt zu ihr wie kein anderes.

Genau wie zu dem Taxifahrer, der sich von seinen Kollegen vor allem darin unterscheidet, dass er weder eine Lizenz hat noch ein Taxischild auf dem Dach. Er kutschiert einen in seinem Privatwagen, der Preis ist Verhandlungssache. Taxis mit Gebührenzähler trifft man nur vor Sehenswürdigkeiten, Touristenhotels oder dem Moskauer Flughafen. Und das ist das Erste, was der ausländische Tourist nach seiner Ankunft lernt, dass diese scheinbar richtigen Taxis alle zur »Mafia« gehören und die Fahrer unverschämte Preise verlangen. »Den ganzen Tag lang die bekannten Adressen / die Seele zusammengeschweißt mit dem Motor / schon wieder ist so ein dummer Kommersant bei mir gelandet / egal, Hauptsache der Deal klappt - zur Mafia sind heute alle übergelaufen / ob Hornochse, ob Bulle, sie gehören alle zur selben Bande.« Man könnte auch sagen: Alle sind irgendwie Verbrecher.

In der späten Sowjetunion gab es von Staats wegen keine Verbrechen und auch keine Lieder, die diese hätten besingen können. Kriminalität als Ausdruck gesellschaftlicher Widersprüche und kapitalistischen Verfalls galt als überwunden. Und dennoch gab es sie, die alte Verbrecherwelt, die nicht verfaulen wollte, und sie wurde in Filmen, Krimis und Reportagen thematisiert: Sie bestand vor allem aus gewalttätiger Bandenkriminalität und Wirtschaftsschiebereien. Da die Gründe nicht innerhalb der Gesellschaft liegen konnten, mussten andere gefunden werden, weswegen man die Handlungen entweder in frühere Umbruchszeiten, wie in die für ihre Gaunerwelt legendären Zwanziger oder in die unmittelbare Nachkriegszeit, am besten aber gleich ins kapitalistische Ausland, verlegte.

Für die Gegenwart der Breschnew-Zeit blieb nur die Personalisierung des Verbrechens: Schuld hatten die Familie, asoziale Verwandte und graue Paten oder aber schlicht eine nicht weiter rationalisierbare »kriminelle Energie« allzu individualistischer, etwas exotischer oder einfach kaputter Sowjetbürger. Aber auch für diese Relikte alter Zeiten bestand noch Hoffnung auf Besserung, denn ihnen gegenüber standen die unbeugsamen und volksnahen Experten aus Miliz und Justiz, an deren Wachsamkeit, Kompetenz und Effektivität kein Zweifel bestand.

Das war die Erfolgsgeschichte; in unzähligen Varianten wurde immer wieder erzählt, dass man sich zumindest im eigenen Land einigermaßen sicher vor Verbrechen fühlen konnte. Doch es gab da noch die andere, die verbotene und verdrängte Geschichte, die Gerüchte von den so genannten gesetzestreuen Ganoven, die nach alten ehrenhaften Verbrecher-Gesetzen handelten und sich von den Gefangenenlagern und Verbannungsorten Sibiriens aus im ganzen Land immer wieder neu organisierten. Sie besaßen ein ausgeklügeltes Zeichensystem, das von Körpertätowierungen bis zu einer eigenen Gaunersprache reichte. Und dann gab es noch den allmächtigen und überall mitmischenden Großen Bruder, den KGB. Dass sich diese Geschichten überhaupt als Gerüchte so weit verbreiteten, lag insbesondere an Stalin, der einen Großteil der Intelligenzija mit den Tschekisten und in den Lagern Sibiriens mit den »Gesetzestreuen« bekannt gemacht hatte.

Als man unter Gorbatschow über diese Geschichten offener sprechen durfte, war der Schrecken groß. Die alten Geschichten stellten sich als falsch heraus. Zum einen erfuhr man jetzt die »ganze Wahrheit«, die »ganz geheime Geschichte« über die blutigen Verbrechen des Kommunismus, über den grausamen Alltag im Gulag und den Terror des KGB. Zum anderen gab es die Alltagskriminalität, die es jahrzehntelang nicht geben konnte, auf einmal im Übermaß. So sah es zumindest aus, glaubte man den tagtäglichen Reportagen in der Zeitung und den allabendlichen Polizeiberichten im Fernsehen. Opfer von skrupellosen Diebstählen am hellichten Tage, brutalen Vergewaltigungen an wenig belebten Orten oder grausamen Morden in den eigenen vier Wänden konnte jede und jeder werden. Und je länger der Umbau der Gesellschaft andauerte und bald zu einem Zusammenbruch des sozialistischen Systems führte, desto schwieriger wurde es, zwischen einleuchtenden Gerüchten und unglaublicher Wahrheit, zwischen falschen Versprechen und richtigen Verbrechen, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Die Rede war von kaukasischen Banden, die sich die Moskauer Märkte aufteilten, von der korrupten Nomenklatura, die das Volkseigentum in privaten Reichtum umwandelte, oder dem gewandelten KGB, der wie immer irgendwie überall mitmischte. Für diese Unmöglichkeit, sich in den neuen Verhältnissen zurecht zu finden, fand sich bald ein neuer Begriff: »Mafia«. Die Mafia war alles, das nicht zu den Illusionen passte, die man sich von einem demokratisierten Sozialismus oder einem funktionierenden Kapitalismus gemacht hatte.

Moskau entwickelte sich in diesen Jahren zu einem Eldorado der zu Geld gekommenen »Neuen Russen« mit dubiosen Bars, Kasinos, ominösen Restaurants, geschlossenen Klubs und Saunen, in denen die businessmen ihren Reichtum genießen konnten, und Diskotheken, in denen ihre Kinder die neue nächtliche Freiheit tanzten. Während diese auch musikalisch unmittelbar an die Moden aus dem Westen anschlossen, fand sich für ihre Väter bald ein eigenes musikalisches Genre: das »Restaurant-Chanson«, das von Saufgelagen, Prostituierten und den guten, alten Zeiten des »gesetzestreuen« Banditentums handelte. Es nahm sowohl russisch-jüdische Folklore als auch Ballhaus- und Blues-Elemente auf. Und aus solchen Ganovenliedern entwickelte sich das, was man heute überall als »Banditenmusik« kaufen und konsumieren kann. Auf Compilations wie »Banditenmoskau«, »Für Herrn aus einflussreichen Verbrecherkreisen«, »Einfach fürs Leben. Drittes Treffen«, »Kerle und Weiber«, »Banditenkugel«, »Schicksal und Freiheit« oder »Für die, die dort sind« (in Gefangenschaft).

Dieses Genre besteht aus fröhlichen Sound-Arrangements, folkloristischen Synthesizer-Melodien, einem tanzbaren Beat und verruchten Frauen- und Männerstimmen, die von Kerlen und Weibern singen, die das Diebesschicksal ereilt hat: »Mit diesem Ganovenleben verbindet mich das Schicksal / meinen Vater hat man noch aus Anlass des Krieges geschlachtet / für die Diebessache, ja für die menschlichen Schicksale, Mama / muss vielleicht auch ich bald mein Leben lassen - so spielt das Schicksal eben / Du verzeih mir, meine liebe Mama / dass Dein Sohn nicht mehr zurückkehrt, nimmermehr.« Die zumeist männlichen Helden lieben und ehren ihre Mutter und folgen dem Vater, führen ein »Wolfsleben«, trauern der Kindheit nach und ertragen mit unerschütterlichem Pathos das ausgelassene Banditenleben genauso wie den harten Gefängnis- und Lageralltag.

Wie bei aller Popmusik sind die Motive begrenzt und die vorgestellte Welt einfach und verallgemeinerbar: Jeder ist ein einsamer Einzelkämpfer und die Menschen benehmen sich wie Hunde, Schakale, Wölfe. So bleibt nur, selber ein »grauer Wolf« zu werden und sich alleine oder im Rudel durch die Wildnis zu schlagen. Und entweder bringt einen die eigene oder eine fremde Bande auf Grund von Missverständnissen, Verrat oder Ruhmsucht um die Ecke, oder aber man wird geschnappt und landet in den Lagern Sibiriens: »Ach erste Frist, Du bist wie die erste Liebe, unvergesslich, unerwartet, unverständlich/ ohne Blumen, ohne überflüssige Worte, leicht wie zu einer Blutprobe hat man mich verhaftet. »

Doch es bleibt nicht bei der ersten Liebe, und oft ist die erste Verbannungsfrist auch die letzte und einzige und gilt fürs ganze Leben. Dann bleibt einem nur der Gedanke an die glückliche Kindheit, an das Luxusleben in Freiheit und an verflossene Lieben oder an die Einzige, die immer für einen da ist: die Mutter. Denn am Ende der Welt weiß man nie, ob die Frauen, denen man die ewigen Worte gesagt hat, tatsächlich treu auf einen warten.

Wenn die Mutter hingegen auf dem Sterbebett einen Brief an den Sohn schreibt mit der letzten Bitte, ihn noch einmal zu sehen, dann bricht der Mann in der Wattejacke aus, trifft unterwegs einen einsamen grauen Wolf, mit dem er sich, statt sich gegenseitig zu zerfetzen, darauf einigt, dass beide wilde Tiere seien, und auch der Verfolger hat die Mutter im Sinn, zehn Tage Heimurlaub sind die Belohnung, ein Gewehrlauf knackt, Patronenhülsen fallen in den Schnee, Blut fließt, ein letzter Blick zum leeren Himmel, nur ein Komet, als ob er bei der Mutter im Moskauer Umland lande, die soeben den Arm sinken lässt, in der Hand - das Foto des Sohnes.

Das ist melodramatischer Kitsch, aber selten ohne Ironie. So nennen sich die Künstler »Schura der Spanner«, »Marina die Menstruierende«, »Katja die Lustvolle« oder tragen die Nachnamen von in den letzten Jahren zu Tode gekommenen Paten.

Es ist eine tragisch liederliche Welt ohne Moral und ohne Gott, die da besungen wird, eine Welt der Männerfantasien, die zwar ohne den alltäglichen Rassismus und dieVerschwörungstheorien der Jelzin-Ära auskommt, wo aber auch Banditenehre und Mutterliebe nicht gegen das Wolfsschicksal ankommen. Hört man solche Geschichten nachts im Taxi auf den menschenleeren achtspurigen Straßen Moskaus, funktionieren sie wie Mamas Fabeln zum Einschlafen, vorgetragen in abgebrühtem Rotwelsch, und nehmen einem gleichzeitig die Kinderangst vor dem Schrecken, dass diese Geschichten stimmen könnten.