Nackt bis auf die Knochen

Ob Wild Billy Childish musiziert, malt, dichtet oder Romane schreibt - es geht schnell und ist dreckig.

Auf dem Buchrücken der deutschen Ausgabe von Billy Childishs zweitem Roman "Junger Mann ohne Kleider" steht geschrieben: "Billy Childish ist eines dieser raren dauerhaft attraktiven Konstantbeispiele, bei denen das Immer-wieder-auf-ein-erprobtes-Pferd-aufsitzen nicht zum Lahm-Werden desselben führt." Und nur wenige haben ihren Gaul so kompromisslos eingeritten wie Wild Billy Childish. "Konstanz" ist ein netter Euphemismus für die Art und Weise, in der er seit mittlerweile über zwanzig Jahren seine Artefakte heraushaut. Für ein Album benötigt Childish gerade mal zwei Tage, für ein Bild ganze 45 Minuten. Macht insgesamt über 80 Alben, 1 800 Bilder (Holzschnitte und Ölgemälde) und 30 Gedichtbände. Solch ein Arbeitspensum hebt die Vermarktungsmechanismen der Kulturindustrie durch schiere Quantität aus den Angeln. Und Childish selbst trägt möglichst wenig dazu bei, etwas Ordnung in das hochkomprimierte Chaos zu bringen. Seit Jahren verweigert er MTV und dem nme rigoros Interviews. Der letzte aufrechte Punk: Kurt Cobain war einer seiner größten Fans.

Denn alles begann wie immer mit Punkrock, damals 1977. Billy war ein Kind der Arbeiterklasse, einer, der schon als Teenager sein Brot auf der Werft seiner Heimatstadt Chatham, Grafschaft Kent, verdiente. Und das verpflichtet. Noch Mitte der Achtziger rezitierte er lieber vor streikenden Bergarbeitern aus seinen Gedichten, als sich zu World Aid ins Wembley-Stadion sperren zu lassen. Ein hoffnungsloser Romantiker. Seine Platten nahm er in der Küche oder im Gartenhäuschen auf und veröffentlichte sie über sein Label Hangman. Der Soundtrack zur ersten Kleinstadt-Rebellion war parasitärer Garagepunk mit Dreck unter den Fingernägeln, mehr geprügelt als gespielt, aus der Seele gerissen und jede Nacht tausend Tode gestorben, ein Bluesbastard, versetzt mit Riot-Soul, Sixties-Trash und kaputtem R'n'B.

Childish ist ein Mann fürs Grobe, aber verletzlich wie Frankensteins Monster - und stur wie ein Esel. Seine Arbeiten umkreisen die Themen Verfall, Tod, sexuelle Perversion, Neurosen und Zynismus wie in einem Perpetuum Mobile. Besonders plastisch wird der Punk-Gestus in seinen Holzschnitten: grob geschnitzte Schattenspiele kantiger Silhouetten, mehr Ausdruck als Bildnis, in das Material gehauen wie ein primitives Drei-Akkorde-Riff, brutaler Expressionismus zwischen van Gogh und Edvard Munch. In 1 800 Variationen. Seine Ex-Freundin Tracey Emin, seit Charles Saatchis Marketing-Feldzug "Sensations" einer der notorischen britischen Shooting-Stars und momentan mit besten Aussichten auf den in England heiß begehrten Turner-Preis, warf Childish kürzlich sogar vor, er sei ausgebrannt: "You're stuck, stuck, stuck!"

Und der ruft gleich eine ganz neue Kunstrichtung aus. Die "Stuckists" sehen sich als Gegenbewegung zur BritArt, wie Damien Hirsts Formaldehyd-Haie und das Zelt von Tracey Emin mit den eingestickten Namen all ihrer Liebhaber - unter denen sich auch ein Stephen Hamper befindet: Childishs bürgerlicher Name. Childish ist also wieder auf Gegenkurs: Forever Punk! Die Verkündung ihres Dogma-ähnlichen Manifests fiel zeitlich - wie durch ein Wunder! - mit der Eröffnung von Saatchis "Neurotic Realism"-Ausstellung zusammen. Und die Second-Hand-Neurosen der Saatchi-Show untermauerten nur die Vorwürfe der Stuckisten. Deren "Stuckism"-Ausstellung verursachte auch einigen Wirbel, und diesmal ließ es sich Childish nicht nehmen, der Presse seine Meinung kundzutun. Regression als Anti-Prinzip zum hippen Elitarismus der Saatchi-Zöglinge! Poesie mit groben Stichen! Und ruppiger Minimalismus als neues Schönheitsideal!

So liest sich Childishs Lebenswerk, und "Junger Mann ohne Kleider" spielt diese rotzige "Fuck off!"-Haltung in allen Facetten aus. Dabei galt Childish bisher als unübersetzbar, weil seine Prosa neben einem starken sprachlichen Lokalkolorit noch ein weiteres Problem barg: Der Mann ist Legastheniker und schützte dieses Manko bisher vor Eingriffen wie ein eingetragenes Warenzeichen. Sein Roman-Debüt "The Fault" (1995) und "Notebooks of a Naked Youth" waren die ersten Childish-Texte überhaupt, die durch ein Lektorat gingen. Trotzdem liest sich das, was schließlich veröffentlicht wurde, immer noch wie ein zusammengefieberter Tagtraum; das selbstreflexive Tagebuch-Protokoll eines Schizophrenen im fortgeschrittenen Stadium, mit immer wieder aufblitzenden Momenten ernüchternder Klarheit. Skizzen einer Autobiografie, die keine sein will. Grob wie seine Holzschnitte, von denen er elf exklusiv für die deutsche Ausgabe anfertigte.

Das fängt bei der Begrüßung an: "Mein Name ist übrigens nicht von Belang, und ich werde ihn nicht preisgeben." Kurz darauf: "Tatsächlich heiße ich Loveday, aber das ist ihre Sache, ob sie das glauben wollen oder nicht." Und zwischendurch: "Alles was sie wissen müssen ist, (...) dass ich keine Brüder und Schwestern habe, mit Ausnahme eines Bruders." Solche Widersprüchlichkeiten durchziehen die gesamte Leidensgeschichte Lovedays, entpuppen sich aber erst mit fortschreitender Erzählung als ernst zu nehmende Wahrnehmungsstörung. Lovedays Paranoia hat drei Ursachen: eine verkorkste Kindheit unter dem Regime eines jähzornigen Vaters, eine 7 000 Jahre alte Moorleiche, die ihn durch die Straßen Chathams verfolgt, und ein Aknebefall, der der Realisierung seiner sexuellen Obsessionen alles andere als förderlich ist. Manchmal sitzt er in seiner Wohnung und ritzt mit einem Messer seine Eiterbeulen an, um sich seiner Verunreinigungen zumindest kurzzeitig zu entledigen. "Ehrlich gesagt bin ich der Meinung, dass das Spielen mit alten, vereiterten Wunden der einzige Weg ist, wie ein arroganter junger Mann zu sich selbst finden kann." Come to Clearasil-Country, wo ein Mann noch Mann sein kann.

Auf seinen anderen Selbstfindungstrips ist er weit weniger erfolgreich. Mit dem Schreiben klappt's schon länger nicht mehr, und sein sexuelles Verlangen projiziert er unglücklicherweise auf das Schulmädchen Kursty (oder doch nur ihre roten Schuhe?), die mit den wirren Annäherungsversuchen wenig anfangen kann und ihn schließlich in einer grotesken Nacht-und-Nebel-Aktion für immer fortschickt. Daraufhin versucht Loveday, ihre Seele auf der Reeperbahn zu retten. Oder zumindest seinen Schwanz ruhig zu stellen, der mit seinen Masturbationsexzessen längst nicht mehr zu befriedigen ist. In Hamburg bewegt sich die Elendsspirale aber erst richtig nach unten. Sexpapst Rene, ein alternder Reeperbahn-Lude, der ihn auf einen Schnaps einlädt, gibt als Ersatzvater auch keine gute Figur ab. Wahn und Realität verschmelzen zu einer unauflöslichen Einheit, und die Gosse saugt den letzten Rest seiner Selbstachtung auf. Um zu überprüfen, ob er noch lebt, hält er seine Hand über eine Feuerzeugflamme oder lässt sich einen Galgen tätowieren. Da wirkt es fast wie eine Erlösung, wenn er am Ende für einige Sekunden die klare Hamburger Morgenluft atmen kann. Aber auch diese Hoffnung trügt.

"Junger Mann ohne Kleider" lebt mehr vom Stil als davon, eine zusammenhängende Geschichte zu erzählen. Ein Psychogramm von William Loveday lag weniger im Interesse Childishs als der Prozess des langsamen psychischen und physischen Verfalls mit all seinen Begleiterscheinungen: Misanthropie, Hass, Wut, abrupte Wechselbäder aus Verachtung und Mitgefühl, Selbstmitleid, Verletzlichkeit und Selbstzerstörung. Insofern ist Childish also immer noch stuck. Es gibt nichts zu verstehen, alles ist purer Ausdruck. Entweder es packt dich - oder er lässt dich im Regen stehen. So ist das mit dem Punkrock.

Wild Billy Childish: Junger Mann ohne Kleider. Maas Verlag. Berlin 1999, 246 S., DM 28