Amerikanische Einstellung

Notizen zu einem Film über Malls.

Von Januar bis Mai in den USA, seither in Deutschland, bereitet der Filmemacher Harun Farocki mit Hilfe von Rob Miotke, New York, Brett Simon, Oakland, und Stefan Pethke, Berlin, einen Film über Malls vor. Dieser Text faßt die bisherige Lektüre und Recherche zusammen.

ANYSITE ist eine elektronische Landkarte. Man gibt die gewünschten geographischen Daten ein, worauf ein Kartenausschnitt erscheint, der mit der Maus zu durchwandern ist. Klickt man eine Stelle an, hat man den Standpunkt für ein Geschäft gewählt, in unserem Falle eine Mall.

Nun werden die demographischen Daten der Umgebung verrechnet, es wird ersichtlich, wieviel Kaufkraft im Abstand von einer Meile oder auch 250 Meilen angesiedelt ist. Der Berechnung liegt auch zugrunde, welche Geschäftsangebote es schon gibt und welche Verkehrswege von den Anwohnern bevorzugt werden.

Es gibt in den USA schon rund 30 000 Malls, die einander Konkurrenz machen. Immobilienfirmen haben sich darauf spezialisiert, neue Standorte zu finden, sie überfliegen das Zielgebiet mit dem Hubschrauber. Elektronische Landkarten sind eine militärtechnische Entwicklung und wurden zuerst für die Steuerung von Marschflugkörpern benutzt.

STANDORTE. "Das periphere Einkaufszentrum genügt sich selbst, genau wie die moderne Siedlung oder der Gewerbepark. Es braucht kein Umfeld, in das es sich einbettet, es braucht gerade umgekehrt den Kontrast, das Strukturlose. Es ist der Ort der städtischen Fülle und Dichte in einer ereignisarmen Peripherie. Die Anreicherung mit lokalen Haftpunkten, der Versuch, auf ein Umfeld zu verweisen, wäre nur schädlich. Der Normalfall ist der im Gelände liegende Container oder eine Kette aneinandergereihter Container, umgeben von Parkplätzen und undefinierter Fläche. Von außen ist nichts zu sehen. Innen ist vollinszenierte Stadt." (Dieter Hoffmann-Axthelm)

CAP RISK ist eine andere elektronische Karte. Sie rechnet die demographischen Daten einer Nachbarschaft hoch, um Vorhersagen über die Kriminalität machen zu können (Crime Prediction). Es ist für Malls sehr wichtig, daß sie als "sicher" gelten, daß die hauptsächlich weiblichen Besucher dort weder ein Verbrechen fürchten noch Belästigungen erfahren, etwa von Bettlern.

AUSSEN. Wie schon die Kaufhäuser haben die Malls keinen Bedarf an Fenstern (die Wände beider Bautypen werden zur Ausstellung der Waren gebraucht), so daß es nichts Funktionelles gibt, das die Fassaden gliedern helfen könnte. Die (meist außerstädtischen) Malls in den USA werden mit dem Auto erreicht, deshalb ist das Bauwerk zumeist von mehrstöckigen Parkebenen umgeben. Der billige Baugrund spricht gegen unterirdischen Parkraum, den zudem viele Besucher fürchten.

Die größte Mall Nordamerikas, in Edmonton, ist von außen kaum abzubilden, nur eine Luftaufnahme kann sie gänzlich erfassen. (So erscheint sie auf Postkarten.)

Es fehlt den Malls das repetitive Element, das einzeln das Ganze repräsentieren könnte. Auch innerstädtische Malls wissen wenig mit der Fassade anzufangen, die sich bestenfalls stilistisch an die Bauformen der Umgebung anlehnt. Auch im Erdgeschoß, an einer belebten Straße, haben die Malls kaum je Schaufenster. Als gelte es, eine Wahl zu treffen: entweder die Straßenöffentlichkeit oder der Mall-Raum. (Vielleicht auch die Idee der Verlokkung, wie bei den Nachtlokalen, die sich dem Blick des Passanten verschließen.)

Und hat eine Mall eine besondere Außengestalt, so ist diese gänzlich äußerlich. Ein Stararchitekt wie Renzo Piano hat (so in Berlin) über die Innengestalt kein Wörtchen mitzureden. Das Innen bleibt den internen Ingenieur-Architekten der Betreiberfirma überlassen.

EINGANG. Malls haben kaum je einen eindrucksvollen Eingang. Auch das kann heißen, sie seien sich ihrer Anziehungskraft bewußt und wollten eben dies ausdrücken. Außerdem kommen die meisten Besucher durch die Hintereingänge von den Parkgaragen. Vor allem: Zu einem eindrucksvollen Eingang gehören Treppen. Und kaum etwas fürchtet der Einzelhandel mehr als Treppen, es heißt, jede Stufe, die zu steigen sei, koste zehn Prozent Umsatz.

SCHWELLE. Der österreichstämmige Mall-Pionier Victor Gruen wollte erreichen, daß die Besucher, kaum haben sie die Schwelle überschritten, in eine Art Trance fielen. Das ist der sogenannte Gruen-Effekt.

PEOPLE COUNTER. Video-Kameras überwachen die Eingänge, das Gerät wandelt menschliche Gestalten in Zahlen um. Wer benutzt zu welcher Zeit welchen Ein- oder Ausgang? Welche Besucher werden zu Käufern?

VERLANGSAMUNG. Wolfgang Preisser vermaß im Labor die Geschwindigkeit der Fußgänger, unter Einfluß des jeweiligen Bodenbelags. Er entwarf ein Regelwerk für den Fußgängerverkehr: Wie groß muß der Abstand von einem Besucher zum nächsten sein, beim Passieren, beim Überholen?

Eine Personendichte wird erstrebt, bei der weder der Eindruck von Enge noch Leere aufkommt. Für ideal gilt der Abstand, bei dem ein Besucher den nächsten vom Kopf bis etwas über die Knie ins Auge fassen kann, was in der Kinoterminologie "Amerikanische Einstellung" heißt.

WOHIN? Wer in der Wüste geradeaus gehen will, geht tatsächlich gegen den Uhrzeigersinn im Kreis, weil das rechte Bein stärker entwickelt ist. Wer eine Mall betritt, wendet sich fast immer zuerst nach rechts. Jeff Bing erklärt das damit, daß der heutige Fußgänger gänzlich von seinen Autogewohnheiten konditioniert werde. Wer mit dem Auto fährt, wird kaum je die Straßenseite wechseln, dementsprechend müssen die Angebote einer Stadt gelegen sein.

Auf dem Weg zur Arbeit hauptsächlich Frühstücks- und Lunchartikel und kleine Geschenke, die ein wichtiger Bestand des Bürolebens sind. Auf der Straßenseite, auf der man heimfährt, können die Kleidungs- und Lebensmittelgeschäfte gelegen sein. Ebenso müssen die Geschäfte in der Mall angeordnet sein, es muß ein Zusammenhang von Bedürfnis und Unterbedürfnis konstruiert werden.

BEFRAGUNG. Gilbram hat die folgende Form der Publikumsbefragung erdacht: Ein Beauftragter der Agentur spricht einen Mall-Besucher an und bittet, einen Dollar in Münzen zu wechseln. Es zeigt sich, daß zunächst die jungen Frauen am liebsten den jungen Frauen helfen und die alten Männer den alten Männern usf. Darüber hinaus hat die Umgebung einen Einfluß. Im Duft eines Bäckerladens sind doppelt so viele Probanden bereit, einen Geldschein zu wechseln. Dieses verdeckte Untersuchungsverfahren wird angewandt, die Teilambientes einer Mall zu evaluieren.

GILBRAM hat herausgefunden, daß der Geruch von Essen dem Absatz von Kleidung im Wege ist, der Geruch von Badeessenzen dagegen höchst förderlich sei. Malls versuchen unbedingt, ein, zwei Edel-Badeartikelgeschäfte anzusiedeln und subventionieren sie über die Miete. Überhaupt gilt es, nicht nur umsatzstarke, sondern auch attraktive Läden zu integrieren.

Der Tenant Mix gilt als eine Kunst, die Mall-Manager sind ständig dabei, ihre Mieter zu rekombinieren. Die Folge der Geschäfte in einer Mall folgt Regeln und transzendiert diese, wie bei der Speisefolge. Gilbran arbeitet als Berater für Malls, die eine negative Entwicklung nehmen. Sein erster Schritt ist oft, zunächst einmal ein paar Gerüste aufzustellen, damit das Bild der Änderung, des Relaunchings gegeben ist.

ZYKLEN. In Anlehnung an Oswald Spengler wendet Sylvia Berger-Stüßgen den Begriff des Lebenszyklus auf die Malls an: 1. Einführungsphase,

2. Wachstumsphase, 3. Reifephase,

4. Degenerierungsphase. Es bietet sich nur die Möglichkeit, die vierte Phase zu verlangsamen.

ERHEBUNG. Paco Underhill, der ebenfalls als Consultant arbeitet, hängt ein paar Kameras in Malls auf und schneidet über ein paar Tage mit. Im Zeitraffer werden die Besucherströme sichtbar, welche Stellen sie auslassen, wo sie zu schnell passieren, wo sie sich stauen, ohne ein Geschäft in Sichtweite zu haben. Die breiten Straßen, die durch die Malls geführt werden, sind deshalb fast immer mit Hindernissen gespickt: Palmkübel, Sitzgelegenheiten (so plaziert, daß man ein paar Geschäfte im Blick hat). Auch Teppiche oder die Farbgebung des Bodens soll den Passantenstrom stauen und umlenken.

NIEMANDSLAND. Seit etwa 5 000 Jahren gibt es Städte, und fast immer und überall war der Straßenraum jedem zugänglich. Im Florenz der Borgias wurde eine Brücke zum überbauten Fluchtweg der Fürstlichkeiten privatisiert. Seit den siebziger Jahren hat Minneapolis in der Innenstadt ein verzweigtes System von Skywalks, Verbindungsbrücken für die Fußgänger durch die gesamte Innenstadt. Sie sind privat und werden von einem ebenso privaten Dienst bewacht, der unansehnlichen Menschen und allen möglichen Störenfrieden den Zugang verwehrt. Seither sind alle, die über die öffentlichen Fußwege gehen, im Ruch der Asozialität. Auch die Malls mit ihrer synthetischen Urbanität erklären alles Gebiet außerhalb ihres Geltungsbereichs zum Niemandsland.

PALMEN. Fast alle Malls haben Pflanzen, wie ein künstliches Paradies. Viele Passanten berühren die Stämme der Palmen und sind erstaunt, eine wirkliche Palme zu fühlen. In Wahrheit berühren sie einen präparierten Stamm. Es gibt einen ganzen Gewerbezweig, der Baumstämme präpariert, so wie man Tiere ausstopft. Diesen scheinlebendigen Stämmen werden konservierte Äste aufgesteckt, die einen Stahldraht in sich haben, so daß man sie sich nach Wunsch zurechtbiegen kann.

KUPPEL. Kaum eine Mall ohne die Öffnung zu einer Halle, die eine Kuppel trägt und die Tageslicht einläßt. Eine Reverenz an das Pantheon in Rom, eine symbolische wie tatsächliche Verbindung von Himmel und Erde. Die Ordnung, die sich im Bau ausdrückte, so Richard Sennett, bedeutete: "Sieh und gehorche!", bei den Christen dann: "Sieh und glaube!"

ACHT SEKUNDEN braucht der durchschnittliche Passant, ein durchschnittlich großes Schaufenster zu passieren. In dieser Zeit muß es der Ausstellung gelingen, die Aufmerksamkeit des Vorbeigehenden auf sich zu ziehen. Deshalb muß der Laden schon mit seiner Fassade und seinen Schriftzügen eine Vorauswirkung erzielen. Tests werden unternommen, in welchem Winkel die Schriftzüge zum Betrachter stehen müssen. Wie soll die Schrift (Signage) einer Ladenstraße gestaltet sein: möglichst komplex oder möglichst kohärent? Laufbilder ziehen am Probanden vorbei, der später niederschreiben soll, welche Wörter er sich gemerkt hat.

LABORATORIUM. John Casti von der Universität Santa Fé hat einen Versuchs-Supermarkt im virtuellen Raum aufgebaut. Er erforscht vor allem das impulsive behaviour: Wie kommt es dazu, daß ein Kunde ungeplant einen Kauf tätigt? Das hat vor allem mit der Anordnung der Ware zu tun, wie ein Gegenstand beim Warten an der Kasse zum Kauf anreizt etc.

PLAZIERUNG. Die Plazierung einer bestimmten Ware in einem Regal ist eine Kunst wie der Tenant Mix, die Zusammenstellung der Mieter im Bauwerk. Kettenläden haben einen Spezialisten, der in einer Bildschirm-Simulation die Regale abrufen kann. Es gelten da viele Grundregeln, etwa, daß der Blick des Menschen von links nach rechts schweift und deshalb dort der teurere Artikel stehen sollte. Unter bestimmten Umständen kann eine Lücke anzeigen, daß eine Ware begehrt ist, unter anderen Umständen zeigt die übergroße Menge des gleichen Gegenstands dasselbe an. Die Plazierung wird zentral für ein paar Tausend Filialen geplant.

KLEVER KART ist ein "intelligenter" Einkaufswagen, so wie man von intelligenten Waffen spricht. Mit ihm wird jeder Supermarkt zur Forschungsstelle für konsumistisches Verhalten. Mittels des Klever Kart läßt sich von jedem Kunden feststellen, wo er mit dem Wagen stehenblieb, welche Waren er in den Wagen lud oder welche er wieder entfernte.

Es gibt bereits Warenlager, in denen mittels Telescanner jeder Gegenstand geortet werden kann, so leicht, als wäre er ungegenständlich und adressierbar wie eine Zeichenkonstellation im Computer. Der General, der im Golf-Krieg die Logistik organisierte, ging vor ein paar Jahren zum Versand- und Einzelhandelskonzern Sears. Auch die Firmen, die heute die avancierten elektronischen Verkaufssteuerungs-Apparate bauen, haben zuvor militärtechnische Entwicklungen betrieben.

BLICKE. Die Inneneinrichtung eines Ladens muß nach Joseph Weishar, einem Berater und Trainer, so beschaffen sein, daß sie den Blick des Eintretenden strukturiert. Der Blick muß auf eine Ausstellung in der Ladentiefe gezogen werden. Die Füße können dem nicht gleich folgen, sie werden woanders hin gelenkt. Jetzt hat der Kunde sein Ziel vergessen. Er fühlt sich verloren, und es soll ein Kaufakt sein, der ihm die Selbst-Sicherheit wiedergibt.

KATHEDRALEN. Es dauert mehrere Jahrhunderte, die Dome in Ulm oder Köln fertigzustellen. Die Zeit der Kaufhäuser währte etwa hundert Jahre. Die Malls sind heute, nach etwa dreißig Jahren, in der Krise. Sie werden von Factory Outlets, Category Killer-Shops und vom elektronischen Fernhandel bedrängt. Man hat die Frage gestellt, warum das Münster in Ulm ein vielfaches mehr an Platz bot, als die Stadt Einwohner hatte. Galt es, auch den Toten einen Platz bereitzuhalten?

Heute drängt sich die Erklärung auf, daß die Seitenschiffe bei schlechter Witterung als überdachter Marktplatz benutzt wurden. Im 19. Jahrhundert war es die Sexualität, die wiederentdeckt zur Erklärung fast jeder Frage zu taugen schien, die sich überhaupt stellen ließ. Heute ist an die Stelle der Sexualität der Einkaufstrieb getreten.