Die EU will sich in Bosnien stärker engagieren

Das bosnische Dilemma

Die EU kündigt ein stärkeres Engagement in Bosnien an, um einen Zerfall des Landes zu verhindern.

Für Rade Aleksic war es kein glücklicher Tag. Aber gefreut hat sich der Sportlehrer doch. Ende Oktober wurde in Novi Sad eine Straße nach seinem Sohn benannt. Der knapp 20jährige Srdjan Aleksic war am 21. Januar 1993 von vier Soldaten der serbischen Armee im Städtchen Trebinje in Bosnien-Herzegowina mit Gewehrkolben ins Koma geprügelt worden. Sechs Tage später erlag er seinen Verletzungen. Dabei war Srdjan Wehrpflich­tiger in derselben Armee wie seine Mörder. Sein Verbrechen war, dass er einen Jugendfreund beschützen wollte, als dieser angegriffen wurde, nur weil er ein Muslim ist.
»Mein Sohn hat einfach seine menschliche Auf­gabe erfüllt«, sagte Srdjans Vater bei der Beerdingung vor bald 16 Jahren, und das denkt er immer noch. Umso schmerzhafter ist es für ihn, dass bis heute in der Heimatstadt der Familie niemand an seinen Sohn erinnern will, sondern nur im weit entfernten Novi Sad. Trebinje liegt auf dem Territorium der Republika Srpksa, der serbischen Gebietsentität im ethnisch gespaltenen Bosnien-Herzegowina. Früher wohnten in der 36 000 Einwohner zählenden Stadt auch viele Muslime und Kroaten. Heute ist sie »ethnisch rein«. Eine Straße nach Srdjan Aleksic zu benennen, wäre hier eine Provokation.
Und das heute mehr als noch vor einigen Jahren. Denn die politischen Spannungen in Bosnien-Herzegowina wachsen erneut. Seit Monaten bedrohen sich führende serbische und muslimische Politiker gegenseitig und verstoßen dabei gegen die Grundlagen des Friedensvertrags von Dayton. Dieser beendete 1995 den dreijährigen Krieg, bei dem über 100 000 Menschen ermordet wurden. Entlang ethnischer Linien wurden eine »mus­limisch-kroatische Föderation« und eine »serbische Republik« auf dem bosnischen Gesamt­territorium eingerichtet. Internationale Truppen sorgen seither für die Einhaltung des Waffenstillstandes.
Hauptstreitpunkt sind heute die Beziehungen zwischen den beiden Gebieten, deren Repräsentanten in Sarajevo auch gemeinsame Institutionen bilden. Muslimische Politiker fordern mit Nachdruck die Auflösung der Serbischen Republik als eigenständige Entität. Besonders laut gebärdet sich dabei Haris Silajdzic von der Partei für Bosnien und Herzegowina. Für ihn ist die Serbische Republik auf einem »Genozid an den Muslimen« gegründet. Sie habe daher keine Existenzberechtigung.
Silajdzics Stimme hat Gewicht. Er ist der gewählte Vertreter der Muslime im Staatspräsidium, einem Gremium, dem auch ein Serbe und ein Kro­ate angehören. Anfang der neunziger Jahre war er ein enger Verbündeter von Alija Izetbegovic, dem muslimischen Kriegspräsidenten. Als früherer Student der Fächer Arabisch und Islamwissen­schaft an der Garyounis-Universität im lybischen Banghazi steht Silajdzic für eine enge Verbindung der bosnischen Muslime zur arabischen und islamischen Welt ein.
Auf der anderen Seite exponiert sich der amtierende Ministerpräsident der bosnischen Serben­republik, Milorad Dodik. Die Forderungen nach einer Auflösung der Serbenrepublik lehnt er empört als den Versuch der Muslime ab, über die Serben in Bosnien-Herzegowina zu bestimmen. Es handele sich um eine »Fortsetzung des Krieges« mit anderen Mitteln. Stattdessen baut Dodik seine Hauptstadt Banja Luka systematisch zum politischen und administrativen Gegenpol zu Sarajevo aus. Mit Unterstützung der serbischen Regierung versucht er, die bosnischen Serben so eng wie möglich mit dem Nachbarland Serbien zu verbinden.
Verschärft hat Dodik seine Rhetorik im Kontext der internationalen Verhandlungen um den völkerrechtlichen Status des Kosovo. Mehrmals kündigte er an, den Serben in Bosnien-Herzegowina könne nicht verweigert werden, was man den Kosovo-Albanern zugestanden habe. Zwar machte er seine Drohungen mit einem Unabhängigkeitsreferendum bisher nicht wahr. Aber Dodik hat deutlich gemacht, dass der Versuch der Auflösung der Serbischen Republik automatisch zu einer Spaltung Bosnien-Herzegowinas führen würde.

Mittlerweile hat sich die Lage so sehr zugespitzt, dass westliche Diplomaten beunruhigt sind. Die Initiative ging zunächst vom Slowaken Miroslav Lajcak aus, dem amtierenden »Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft« in Bosnien-Herzegowina. Der internationale Überwacher, der nach dem Dayton-Vertrag im Notfall auch gewählte Politiker absetzen darf, erklärte im September, die »Atmosphäre zwischen Sarajevo und Banja Luka« erinnere ihn an die »Beziehung zwischen Bratislava und Prag« kurz vor der Spaltung der Tschechoslowakei 1992.
Ende Oktober veröffentlichten dann mit Paddy Ashdown und Richard Holbrooke zwei führende westliche Bosnien-Diplomaten einen Brandbrief im Londoner Guardian. Unter dem Titel »Das bosnische Pulverfass« prophezeien sie einen »Kollaps«, falls die USA und die EU nicht »schnelle gemeinsame Aktionen« entfalteten. Der britische Berufsoffizier und Politiker Ashdown war von 2002 bis 2006 Hoher Repräsentant in Sarajevo. Holbrooke hat als Diplomat unter der Adminis­tration von Bill Clinton die Balkan-Politik der USA maßgeblich mitbestimmt. Derzeit hofft er auf ein neues Engagement unter Barack Obama.
Zumindest im EU-Parlament sind die Warnungen mitt­ler­weile angekommen. Nach der Ministerratssitzung am Montag vergangener Woche kündigten Außenpolitikkoordinator Javier Solana und Erweiterungskommissar Olli Rehn an, die EU wolle ihr Engagement verstärken. »Funktionale und effiziente« Staatsstrukturen sollen eta­bliert werden. Der geplante Abzug der noch 2 000 Soldaten zählenden Eufor-Truppen wurde verschoben. Gleichzeitig deuten die EU-Funktionäre an, dass »alle Instrumente, die zur Verfügung stehen«, in Erwägung gezogen würden. Diese Formulierung muss von bosnischen Politikern als Warnung vor einer Amtsenthebung durch den Hohen Repräsentanten verstanden werden.
Zumindest kurzfristig scheint der deutliche Wink Erfolg zu zeigen. Überraschend einigten sich in den vergangenen Tagen Spitzenpolitiker der drei größten Parteien darüber, gemeinsam an einer Verfassungsreform zu arbeiten, um das Land in Richtung EU zu bewegen. Aber in Bosnien-Herzegowina herrscht dennoch Skepsis. Denn ähnliche Verlautbarungen gab es auch in den vergangenen Jahren immer wieder.
Das bosnische Dilemma bleibt wohl weiter ungelöst. Es besteht zum einen darin, dass die im Krieg erzeugte ethnische Spaltung durch das internationale Konfliktmanagement institutionalisiert und territorialisiert wurde. So ist zwar Kontrolle möglich, aber keine Aussöhnung. Zum anderen besteht es in der Rolle der politischen Akteure, welche die durch Massenmord erzeugten Ängste ihrer Anhänger im Konkurrenzkampf um Macht und Ressourcen manipulativ einsetzen. Als Beschützer der jeweils eigenen Bevölkerungsgruppe getarnt, bereichern sie dabei ihr Funktionärsklientel. Eine Sonderkommission des Parlaments stellte bereits vor drei Jahren fest, dass von den damals 5,5 Milliarden Euro Hilfsgeldern zwei Milliarden »verschollen« sind.