Die Anschläge in Mumbai

Im Schlauchboot zum Massenmord

Für die Anschläge in Mumbai machen die indischen Behörden eine Gruppierung aus Pakistan verantwortlich. Dessen Regierung erwägt, Truppen an die Grenze zu verlegen.

Das 1871 eröffnete Café Leopold ist eine Institu­tion in Mumbai, besucht von Rucksackreisenden, indischen Teenagern, Geschäftsleuten und Angehörigen der lokalen Mafia. Hier starben am Mitt­wochabend der vorigen Woche die ersten Menschen. Fast 60 Stunden später, gegen acht Uhr am Sonntagmorgen, wurde im Hotel Taj Mahal der letzte Schuss abgefeuert. Etwa zehn Ziele traf der Terror, u.a. Krankenhäuser und ein jüdisches Kulturzentrum. Nach Angaben der New York Times wurden bei den koordinierten Attacken mindestens 188 Menschen getötet und einige hundert ver­letzt. Wie viele Attentäter an den Angriffen beteiligt waren und ob einigen vielleicht in dem Chaos doch die Flucht gelingen konnte, ist zurzeit noch nicht klar.

Zwischen zehn und 20 Terroristen brachen den indischen Behörden zufolge in der pakistanischen Metropole Karachi mit einem Boot in Richtung Gujarat auf. Den Ermittlern zufolge kaperten sie ein indisches Fischerboot, töteten drei der vier Besatzungsmitglieder und zwangen den Kapitän, Kurs auf Mumbai zu nehmen; vor der Küste schlitzten sie ihm die Kehle auf und stiegen auf zwei Schlauchboote um. Ob sie von Helfern aus Indien unterstützt wurden, ist noch ungeklärt.
In den Schlauchbooten fand die indische Po­lizei am Wochenende ein GPS-Gerät, in dem die Koordinaten für den Rückweg einprogrammiert waren. In unmittelbarer Umgebung des Hotels Taj Mahal wurden drei größere Sprengsätze gefunden und entschärft. Offenbar planten die Attentäter, in dem durch die Explosionen verursach­ten Chaos aus der Stadt zu entkommen.
Nach Angaben der indischen Polizei gehörten die Attentäter zu Lashkar-e-Taiba (LeT), einer Anfang der neunziger Jahre gegründeten islamis­tischen Gruppe. Die Indizien stützen diese Version, denn es gehört zur Strategie der LeT, den Tod zwar in Kauf zu nehmen, nicht jedoch fest ein­zuplanen. Die Organisation trat zum ersten Mal 1999 in Erscheinung, mit Maschinen­gewehren und Handgranaten bewaffnete Kämpfer stürmten ein Quartier indischer Grenzsoldaten und nahmen Geiseln. Seither griffen Kommandos der LeT wiederholt zivile und militärische Einrichtungen in Kaschmir an, meist nahmen sie Geiseln und hinterließen möglichst viele Tote.
Als performance propaganda charakterisiert die indische Tageszeitung The Hindu die Strategie der Gruppe, die eigenen Angaben zufolge Kontakte zu den Taliban und al-Qaida unterhält. Sie wurde im Jahr 2002 in Pakistan verboten, wird aber nach Angaben indischer Behörden weiterhin vom pakistanischen Geheimdienst ISI unterstützt.

Die Verantwortung für die Anschlagsserie in Mum­bai übernahm die bislang unbekannte Gruppierung Deccan-Hyderabad Mujahideen, die E-Mail wurde, der indischen Polizei zufolge, kurz vor dem Beginn der Angriffe in Pakistan abgeschickt. Auch der wohl einzige überlebende Attentäter, der 21jährige Ajmal Amir Kasab, sagte angeblich aus, dass die Gruppe in Pakistan ausgebildet wurde.
Vor wenigen Wochen veröffentlichte Human Rights Watch einen Bericht über Folterungen muslimischer Verdächtiger, die in Hyderabad nach Bombenattentaten im vorigen Jahr fest­genommen worden waren. Die Frage, ob die indische Polizei erwünschte Aussagen eventuell ­erpresste, wird in der aufgeheizten Atmosphäre freilich kaum gestellt. In Indien herrscht inzwischen weitgehend Einigkeit darüber, dass die Drahtzieher der Anschläge aus Pakistan stammen.
Seit der Wahl Asif Ali Zardaris zum Präsidenten Pakistans haben sich die Beziehungen zu Indien entspannt. Noch vier Tage vor den Anschlägen in Mumbai würdigten indische Medien Zardaris Angebot, künftig einen Ersteinsatz von Nuklearwaffen auszuschließen. Er sagte einen Tag nach den Attacken die Entsendung des pakistanischen Geheimdienstchefs nach Mumbai zu. Doch diese in Indien vielbeachtete Zusage musste Zardari bereits wenige Stunden später widerrufen. »Dies ist ein weiterer Beweis dafür, dass die demokratisch gewählte Regierung in Pakistan den ISI nicht unter Kontrolle hat«, kommentierte The Hindu.
Der ISI ermittelt nun in Kasabs Herkunftsort. Doch Indien habe »noch keine stichhaltigen Beweise für eine Verwicklung pakistanischer Gruppen vorgelegt«, sagte der pakistanische Außenminister Shah Mehmood Qureshi. Sein indischer Amtskollege Pranab Mukherjee hatte mit »ernsthaften Konsequenzen« gedroht, Pakistan erwog daraufhin die Verlegung von 100 000 Soldaten an die Grenze zu Indien. Eine militärische Eskala­tion ist jedoch wenig wahrscheinlich, denn das Risiko für die beiden Atommächte ist immens.
Der indische Premierminister Manmohan Singh kündigte jedoch an, die Bemühungen um einen Frieden mit Pakistan einer grundlegenden Revision zu unterziehen. Singh und die von der Kongress-Partei geführte Regierungskoalition der Uni­ted People Alliance stehen innenpolitisch unter großem Druck. Derzeit wird in einigen Bundesstaaten gewählt, im Mai steht die Wahl für das Parlament an. Die innere Sicherheit ist neben der ökonomischen Entwicklung ein zentrales Thema.

Seit Jahren kommt es in Indien immer wieder zu Bombenattentaten. Urheber sind meist islamistische Gruppen, aber auch von Separatisten und hindu-nationalistischen Terrorzellen gelegte Bomben haben in den vergangenen Monaten zahlreiche Menschenleben gekostet. In den Wochen vor den Anschlägen in Mumbai kam es in Indien zu einer Debatte um die Verwicklung hindu-nationalistischer Gruppen in terroristische Aktivitäten und die Rolle des Militärs. Kurz nach dem Bombenanschlag in Malegaon im September, bei dem fünf Menschen starben, wurden ein Mitglied der Frauenorganisation des Welthindu­rates VHP und Oberst Prasad Shrikant Purohit fest­genommen.
Die größte Oppositionspartei Indiens, die BJP (Indische Volkspartei), erklärte unmittelbar nach Bekanntwerden der Festnahmen kategorisch: »No Hindu can be a terrorist.« Der Regierungs­koalition warf die BJP Nachgiebigkeit im Umgang mit mus­limischen Terroristen vor. Die Beweise für die Verwicklung hindu-nationalistischer Gruppen, die der BJP nahe stehen, verdichteten sich jedoch immer mehr und drängten die Partei in die Defensive.
Bei den Attentaten von Mumbai besteht angesichts ihres antisemitischen und antiwestlichen Charakters kaum Zweifel an der Urheberschaft von Islamisten. Kurz nach dem Beginn der Attentatsserie sagte die BJP der Regierung zwar noch ihre Unterstützung zu. Doch schon am Donnerstag wurden die Attentate zum Wahlkampfthema, die BJP griff die Regierung an. Der schon seit Monaten für sein zögerliches Handeln gegenüber Terroristen kritisierte Innenminister Shivraj Patil übernahm am Sonntag schließlich die »mo­ralische Verantwortung« und trat zurück. Ob diese Geste ausreichen wird, ist fraglich. Beim ersten Wahlgang in Neu-Delhi am Wochenende der Anschläge lag die Beteiligung bei etwa 60 Prozent, wesentlich höher als bei den letzten Kommunalwahlen. Ergebnisse liegen aber noch nicht vor.
Der Erfolg der derzeitigen Strategie der BJP könnte allerdings auch ausbleiben, denn in der indischen Debatte ist vor allem der Wunsch nach »nationaler Einheit« vorherrschend. Sowohl in Medienkommentaren als auch bei öffentlichen Versammlungen wird immer wieder ein gemeinsames Vorgehen aller relevanten Parteien gefordert. Ungeachtet dessen meinte ein Sprecher der BJP in einer Fernsehdebatte am Sonntag: »Wir wurden nicht von Terroristen angegriffen, wir wurden von unserer eigenen Regierung at­tackiert!« Konkrete Vorschläge zur Reform der korrupten Polizei- und Geheimdienstbehörden hat bislang noch keine Partei präsentiert.