Unmut in Uniform

Von john ross

In Mexiko protestieren unzufriedene Soldaten gegen die Militärjustiz

Eine halbe Hundertschaft Soldaten der mexikanischen Armee marschiert über die Prachtstraße Paseo de la Reforma in Mexiko-Stadt. Passanten fragen sich, welches patriotische Fest denn heute wieder gefeiert werde. Doch das selbsternannte "Vaterländische Kommando zur Bewußtseinsbildung des Volkes" (CPCP) begeht kein heroisches Datum. Im Gegenteil: Die Soldaten protestieren gegen die Militärjustiz, die ihrer Meinung nach die Menschenrechte verletzt.

Solch ein Protest - er fand im Dezember statt - ist selten unter den 180 000 Mitgliedern der mexikanischen Streitkräfte. Unmittelbar nach dem Aufmarsch verließ der Anführer der rebellischen Soldaten, Oberstleutnant Hildegardo Bacilio Gomez, aus Furcht vor Repressalien das Land. Man vermutet ihn in Venezuela, wo er mit Hugo Chavez, Ex-Putschist und seit wenigen Tagen gewählter Präsident, Kontakt aufgenommen haben soll

Die 50 Soldaten sagen, sie sprächen im Namen von etwa 1 500 Militärgefangenen, die wegen Verbrechen wie Befehlsverweigerung oder Ungehorsam hinter Gittern säßen. In der mexikanischen Militärjustiz dominiere der Dienstgrad, jegliches Abweichlertum unterliege schwerer Bestrafung, beklagen sich die Soldaten, die für einen miserablen Sold tagaus, tagein Dienst tun. Einige verdienen kaum 75 US-Dollar monatlich. Die ungewöhnliche Demonstration der CPCP sei nur der Anfang, erklärt Gomez. Unzufriedenheit und fehlende Disziplin in der Truppe gehöre mittlerweile zum Alltag.

Das mexikanische Militär trägt seine internen Konflikte normalerweise nicht in der Öffentlichkeit. Seit mehr als 60 Jahren hat es sich nicht gegen die zivile Regierung erhoben. Doch der politische Preis dafür ist hoch: Die Streitkräfte versagen der zivilen Macht jegliche Einmischung in ihre internen Angelegenheiten. Die Generäle erwiesen jedem Präsidenten Loyalität, meist aber nur, weil dieser ihnen wiederum freie Hand ließ.

Präsident Ernesto Zedillo sah sich angesichts der neuen Guerillatätigkeit im Land gezwungen, seinen Truppen in den drei südmexikanischen Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca und Guerrero weitgehende Autonomie einzuräumen. Ein Drittel aller Soldaten befindet sich zur Zeit dort. Die Erfolge der Zapatisten und die Proteste in Folge der sozialen Krise haben das militärische Profil verhärtet und den Einfluß der Armee auf die Landespolitik erhöht. Obwohl Zedillo durch die Verfassung Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist, entschieden bislang die Militärs, wo und wie die US-amerikanischen Waffen, die in den vergangenen Jahren für mehrere Milliarden Dollar gekauft wurden, eingesetzt werden.

Eine Schwäche der Armee ist jedoch die Drogenbekämpfung. Neun hohe Militärs sitzen zur Zeit lange Haftstrafen wegen Verwicklungen in Drogengeschäfte ab, und die Korruption in der Militärspitze hat zu öffentlichen Diskussionen über militärische Fragen geführt - das traditionelle Schweigen zu diesem Thema scheint beendet. Auch häufen sich Klagen über Menschenrechtsverletzungen seitens des Militärs. Der 30. Jahrestag des "Massakers von Tlatelolco" - im Vorfeld der Olympischen Spiele 1968 starben Hunderte Studenten während einer Demonstration in Mexiko-Stadt im Kugelhagel - hat die Institution erneut ins Augenmerk der Öffentlichkeit gerückt.

Die Demonstration des "Vaterländischen Kommandos" ist freilich nicht die erste Unmutsäußerung innerhalb der Truppe. Bereits 1993 wurde der General José Francisco Gallardo festgenommen. Er hatte die Militärjustiz kritisiert und einen Ombudsmann für die unteren Dienstgrade gefordert. Nach fünf Jahren Untersuchungshaft wurde er nun zu 28 Jahren Haft wegen "Diebstahl von Futter aus einem militärischen Pferdestall" verurteilt. amnesty international hat Gallardo zum "Gefangenen aus Gewissensgründen" erklärt, und die Interamerikanische Menschenrechtskommission fordert, Gallardo müsse freigelassen werden und wegen der unrechtmäßigen Verurteilung eine Haftentschädigung erhalten.

Sowohl Gallardo als auch Gomez bestehen darauf, daß die Militärjustiz selektiv handele. Soldaten, die Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung begingen, könnten praktisch immer mit Straffreiheit rechnen. Kein einziger Offizier sei beispielsweise 1994 für die Hinrichtung von drei pro-zapatistischen Dorfältesten in Chiapas zur Rechenschaft gezogen worden. Auch die Vergewaltigung dreier Tzeltalfrauen sowie eine Reihe weiterer Verbrechen seien ungestraft geblieben.

Der Zwist der Streitkräfte spiegelt sich bereits in der Parteipolitik wider. Die Regierungspartei PRI (Partei der institutionalisierten Revolution) bezichtigte unlängst die Mitte-Links-Opposition der PRD (Partei der demokratischen Revolution), sie spalte die Armee und fördere den Ungehorsam in der Truppe. Auch wenn die Forderungen der Militärrebellen und der PRD übereinstimmen, sitzen die Wurzeln des Streits doch tiefer: Viele Offiziere stellen die Nation über die Globalisierung und beklagen, die seit über 60 Jahren regierende PRI verliere die Ziele der Revolution aus den Augen.

Die Nähe vieler Militärs zur PRD hat darüber hinaus personelle Gründe. PRD-Ikone Cuauhtemoc Cardenas, Bürgermeister von Mexiko-Stadt, ist der Sohn des populären Revolutionsgenerals und ehemaligen Präsidenten Lazaro Cardenas (1934 bis 1940). Das macht ihn im Jahr 2000 zum einzigen Präsidentschaftskandidaten mit militärischem Bezug.

Cardenas, der 1988 nur wegen eines Wahlbetrugs der PRI nicht zum Präsident gewählt wurde, siegte damals klar in den Wahlkreisen innerhalb und rund um die Kasernen. Sein Vater Lazaro Cardenas war der Prototyp eines populistischen lateinamerikanischen Militärführers. Personen wie er prägten die Geschichte ihrer Länder in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch in Ecuador, Guatemala, Panama und Peru hatten fortschrittliche Militärregime über Jahre hinweg die Macht inne. Der ehemalige Oberstleutnant Hugo Chavez in Venezuela ist lediglich die jüngste Erscheinung dieses Phänomens.

Auch wenn Chavez inzwischen jegliche Verbindung zu Gomez verneint hat, ist doch offensichtlich, daß die beiden Militärs viele Gemeinsamkeiten teilen. "Teile der Streitkräfte tendieren dazu, die Initiative zu übernehmen, wenn - wie derzeit in Venezuela und Mexiko - die politischen Institutionen geschwächt scheinen", meint der konservative Publizist José Antonio Crespo.