Virtuality Bites

Die virtuelle Ökonomie als Überlebensstrategie: In Rußland haben
fiktive Tauschgeschäfte längst die reale Wertschöpfung abgelöst

Was macht ein Russe, der keine Ersparnisse hat und seit drei Monaten kein Gehalt mehr bekommt? Er kauft sich ein Auto. Willkommen in Rußland zu Zeiten der Krise: Die Geschäfte laufen wie geschmiert. Zum Beispiel für Gleb Brianski. Schon seit drei Monaten hat ihn sein Arbeitgeber nicht mehr bezahlt. Aber das ist gut so, denn Brianski möchte sein Geld erst dann, wenn er einen Weg gefunden hat, wie er es in Dollar ausgezahlt bekommen kann. Das ist zwar gesetzlich verboten, aber irgendeine Möglichkeit wird sich schon finden. Denn Rubel sind keine Alternative, solange ihr Kursverlauf einer Achterbahnfahrt gleicht.

Aber wie kommt er dann an sein Auto? Mit der Kreditkarte. Denn sein Freund hat Geld auf dem Konto einer Bank, die ihm nur 1 000 Rubel am Tag (etwa 80 Mark) auszahlen darf. Doch es gibt ja noch einen Autohändler, der dieser Bank Geld schuldet. Bei dem kann Brianskis Freund für ihn das Auto mit der Kreditkarte kaufen, der Preis wird mit seinem Guthaben verrechnet, und wenn sich Brianski mit seinem Arbeitgeber geeinigt hat, bekommt er von ihm den Kaufpreis sogar in wertvollen Dollar ausbezahlt. Das Autohaus schließlich ist einen Teil seiner Schulden los.

"Ich kann nicht gerade sagen, daß es ein Boom ist, aber immer mehr Unternehmen akzeptieren unsere Karten", freute sich noch vor einigen Wochen Sergej Mescherjakow, Sprecher der SBS-Agro-Bank, einem der größten russischen Geldhäuser, das inzwischen mit zwei anderen Banken fusioniert ist, um nicht pleite zu gehen. Für findige Privatpersonen und viele Unternehmen ist dieses Beispiel der in Rußland sprichwörtlichen Improvisationskunst eine Möglichkeit, in einem Land zurechtzukommen, in dem die Wirtschaft am Rande des Zusammenbruchs balanciert.

Für viele Wirtschaftswissenschaftler ist es lediglich der Versuch zu verschleiern, daß die Wirtschaft in Wahrheit längst kollabiert ist. Denn dazu dient auch diese neue Form des Tauschhandels, sozusagen eines Geschäfts aus dem Mittelalter, das mit der Technologie des 20. Jahrhunderts abgewickelt wird. Keiner dieser Vorgänge geht durch die Bücher, gegenseitige Schulden werden verrechnet, der Staat erhält keine Kopeke an Steuern und die Ineffizienz des Systems kommt nicht ans Licht.

Daß diese Methoden auch im großen Stil funktionieren, ist ein Erbe der maroden Planwirtschaft der Sowjetunion und der Art, in der sie privatisiert wurde. Vorsteher von großen und kleinen Kombinaten waren häufig gezwungen, ihre informellen Kontakte auszunutzen, um an Produkte zu gelangen, die sie weiterverarbeiten konnten - sei es Öl für ein Reifenwerk oder Knöpfe für die Bettwäschefabrik. Als die Betriebe dann aus staatlicher Hand entlassen wurden, gehörten ihre Chefs zu den ersten, die zugriffen. Schließlich wußten sie am besten, wie sie die Unternehmen weiterführen konnten, ohne sich dem Diktat der Profitabilität unterwerfen zu müssen: Durch den Austausch von Waren mit anderen verlustbringenden Betrieben erwecken sie den Anschein, daß ihre Produkte tatsächlich gebraucht werden. Vorläufige Gewinner sind alle Betriebsangestellten, denn sie können ihre Jobs behalten, statt in die Arbeitslosigkeit entlassen zu werden.

Doch die Beobachter der russischen Wirtschaft, seien es die berüchtigten "Harvard Boys"-Unternehmensberater aus dem Westen oder russische Volkswirte, sind sich einig: Irgendwann platzt die Seifenblase, und die Folge wird eine noch schlimmere Krise sein als die derzeitige. Allen voran die beiden Wirtschaftswissenschaftler Barry Ickes von der Pennsylvania State University und Clifford Gaddy vom Washingtoner Brookings-Institut, einem konservativen think tank. Sie prägten in einer Studie den Begriff der "Virtuellen Wirtschaft", die in Rußland einer tatsächlichen Wertschöpfung längst den Rang abgelaufen habe.

Vereinfacht ausgedrückt, produziert ein Unternehmen mit Rohstoffen im Wert von 1 000 Rubeln und Arbeit im Wert von 1 000 Rubeln Produkte, die auf einem normalen Markt nur 1 000 Rubel wert sind. Doch das ist nicht wichtig, denn dadurch, daß ohnehin kein Bargeld fließt, kann der Betrieb angeben, das Produkt sei sogar 3 000 Rubel wert, und jeweils ein Drittel als formale Zahlung an den Rohstofflieferanten und den Staat abliefern. Der kann mit diesen fiktiven "Zahlungen" eigentlich nichts anfangen, ist aber auch nicht in der Lage, Steuern in Form von Barzahlungen konsequent einzutreiben. Die Angestellten schließlich erhalten am Ende höchstens ein Drittel des Geldes, das ihnen zusteht - denn die Waren, die übrigbleiben, können ja de facto nur für 333 Rubel verkauft werden.

Überzeugend zeigen Ickes und Gaddy auf, wie im System der gegenseitigen Verschuldung am Ende alle verlieren: Die Unternehmen, weil sie nicht auf alle Zeiten mit Steuerstundungen verdeckt subventioniert werden können, der Staat, weil er ohne Einnahmen bei steigender Verschuldung zunehmend handlungsunfähig wird, und die Angestellten. Denn obwohl viele bisher in Lohn und Brot bleiben konnten, die nach westlichen Maßstäben von ihren Betrieben hätten entlassen werden müssen, bekommen sie auf der anderen Seite ohnehin längst keine Gehälter mehr, in manchen Firmen seit bis zu acht Monaten, und werden am Ende doch auf der Straße stehen. Denn es gibt nur eine Art, dieses System aufrechtzuerhalten: durch ständige Subventionierung.

Die wurde bisher einerseits dadurch gewährleistet, daß der Staat Steuerschulden hinnahm, andererseits durch Kredite aus dem Ausland. Und da in Rußland keine Schritte unternommen würden, die Wirtschaft tatsächlich zu reformieren, sollte der Westen sich nach Ansicht von Gaddy und Ickes weigern, weiterhin Geld in dieses Faß ohne Boden zu stecken. Denn das würde den Zusammenbruch nur verzögern.

In den letzten Monaten hat die Wirklichkeit den beiden recht gegeben und ihre Prognosen sogar noch übertroffen: Die russische Regierung war nicht in der Lage, wirksam Steuern einzutreiben, Betriebe wurden nicht modernisiert, Kredite platzten. Schließlich wurde das ausländische Kapital abgezogen, der Rubel stürzte in den Keller, die Inflation folgte auf dem Fuß. Und das, obwohl der Westen sich, wenn auch sehr zögerlich, zu weiteren Krediten entschlossen hatte.

Die stecken jetzt zum großen Teil in den Taschen westlicher Devisen-Spekulanten, doch Kasino-Kapitalismus hin oder her - es war der Zusammenbruch eines Marktes, der bereits monatelang am Tropf des IWF und ausländischer Staatskredite hing.

Nun sind sich auch die Geldgeber einiger denn je: Keine weiteren Kredite ohne eine tatsächliche Reform der Wirtschaft. Wie die aussehen soll, wissen sie zwar selber nicht genauer als früher. Aber an Tauschhandel per Kreditkarte haben sie bestimmt nicht gedacht.