Vom Fan auf Auswärtsfahrt zum Opfer der spanischen Justiz

Madrider Normalzustand

Santos Mirasierra wurde vom Fan auf Auswärtsfahrt
zum Opfer der spanischen Justiz. Nun ist der Franzose
nach zahlreichen Kampagnen wieder frei.

Seit dem 1. Oktober saß der Marseiller Fußballfan Santos Mirasierra in einem Madrider Gefängnis ein, nach­dem es beim Spiel zwischen Atlético Madrid und Olympique Marseille (OM) zu Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen war. Am Dienstag vergangener Woche kam er trotz einer zwischenzeitlichen Verurteilung zu dreieinhalb Jahren Haft über­raschend gegen Kaution frei. In ganz Europa hatten Fankurven zuvor Partei für Santos ergriffen.
Anfang Oktober war die Polizei kurz vor Beginn der Partie in den Gästeblock eingedrungen, um eine angeblich nazistische Zaunfahne der Gästefans zu entfernen, auf der ein Totenkopf mit Clownsmütze zu sehen ist. Und das, ob­wohl auf der anderen Seite die größte organisierte Fangruppierung der Heimmannschaft, »Frente Atlético«, seit Jahren den SS-Totenkopf als Fahnensymbol benutzt, was die Guardia Civil offenbar weniger stört. Genauso wenig wie die zeitweise bei Atlético zu sehenden Hakenkreuze und das kürzlich im Derby gegen Real Madrid stolz präsentierte Jörg-Haider-Gedächtnisbanner.
Während also eine erhebliche Zahl der Atlético-Ultras mehr oder weniger offen mit dem Faschismus sympathisiert, sind die Anhänger von Marseille seit Jahren für ihre multikulturelle, ausdrücklich antirassistische und eher links­lastige Fankultur bekannt. Man ist stolz darauf, die gerade in Südfrankreich sehr aktiven Rechts­radikalen des Jean-Marie Le Pen »erst aus dem Stadion und dann aus der Stadt« gejagt zu haben, wie es ein Gründungsmitglied der Marseiller Fangruppierung »Yankees« einst aus­drückte.
Umso fragwürdiger erscheint daher das vermeintlich antifaschistisch motivierte Vorgehen der spanischen Polizei, sowohl gegen die OM-Fans allgemein, wie auch gegen Santos Mirasierra im Besonderen, der in der Vergangenheit an diversen antirassistischen Kampagnen maß­geblich beteiligt war. Dieses Engagement führte sogar zu einem offiziellen Protest der von der Uefa und der Fifa unterstützten Kampagne »Football against racism in Europe« gegen seine Inhaftierung.
Während des Spiels hatten Atlético-Fans ihrem Hass freien Lauf gelassen und mehrere schwarze Spieler von Olympique mit rassistischen Gesängen beschimpft, während französische Medienvertreter afrikanischer Herkunft sogar auf der Pressetribüne von spanischen Kollegen beleidigt wurden. Schwerbehinderte Gästefans, die Plätze am Rand des Spielfelds hatten, wurden so lange verhöhnt, mit Bier übergossen und mit Gegenständen beworfen, dass sie schließlich in andere Bereiche des Stadions gebracht werden mussten.
Die spanischen Verantwortlichen unternahmen nichts gegen diese Ausschreitungen, im Gegenteil, die Polizei ging unterdessen mit enor­mer Brutalität gegen die Gästefans vor, wovon man sich auf Videoplattformen im Internet über­zeugen kann: Viele Marseille-Fans wurden von der Polizei verletzt, ein Anhänger wurde weiter verprügelt, während er bereits blutüberströmt war, einer 70jährigen Frau wurde eine Rippe gebrochen. Die Uefa machte Atlético für die rassistischen Sprechgesänge, die mangelnde Organisation und den unverhältnismäßigen Polizeieinsatz verantwortlich und verhängte zunächst zwei Spiele Platzsperre. Selbst der mexikanische Trainer der Madrilenen, Javier Aguirre, wur­de gesperrt, weil er Mathieu Valbuena, einen Spieler von OM, beschimpft hatte.
Die Platzsperre wiederum führte zu Protesten der spanischen Sport- und Boulevard­medien, die angesichts der französischen Uefa-Offiziellen und ihres Präsidenten, Michel Platini, von einer »French Connection« sprachen und nicht mit chauvinistischen Bemerkungen geizten. An­gesichts des entfachten Medienrummels fühlte sich sogar Spaniens Ministerpräsident José Zapatero dazu berufen, die Atlético-Fans zu verteidigen und zu versichern, er »stehe an der Seite des Vereins und der Polizei«: In der Folge wurde die Strafe in einem Revisionsverfahren auf ein Spiel vor verschlossenen Türen reduziert.
Der Rassismus in Spaniens Sportarenen wurde in den vergangenen Jahren immer wieder augenfällig: Barcelonas schwarzer Star Samuel Eto’o wurde 2006 in Saragossa wegen seiner Hautfarbe derart diffamiert, dass er den Schieds­richter um den Abbruch der Partie bat, wenn auch erfolglos. 2004 motivierte Spaniens Europameistertrainer Luis Aragonés seinen Spieler Antonio Reyes mit den Worten, er solle Thierry Henry zeigen, dass er besser sei, als dieser »Scheißschwarze«. Eine Entschuldigung lehnte er später ab. Im gleichen Jahr wurden bei einem Länderspiel gegen England die schwarzen Spieler der Gäste mit Affenlauten begrüßt, und im vergangenen Jahr wurde Formel-1-Weltmeister Lewis Hamilton beim spanischen Grand Prix mit rassistischen Sprechchören verhöhnt.
Die spanische Polizei ihrerseits geht immer wieder mit zum Teil brutaler Härte gegen auswärtige Fans vor. Davon können auch zahlreiche Anhänger des FC Bayern ein Lied singen, die im vergangenen Jahr zu einem Uefa-Cup-Match beim FC Getafe anreisten. Da es im Gäste­be­reich keine Toiletten gab, benutzten die Bayern-Fans einfach die WCs der angrenzenden Blöcke, was die spanische Polizei jedoch irgendwann mit massivem Schlagstockeinsatz zu verhindern such­te und dabei nach Augenzeugenberichten wahllos auf die Fans einprügelte, darunter auch auf deutsche Zivilpolizisten. Als Resultat kam es dann zu dem, was im Nachhinein gerne als »Randale« bezeichnet wird. Natürlich ist die Abfolge der Ereignisse nicht restlos aufzuklären, aber an einer Taktik der Deeskalation mangelt es den spanischen Ordnungskräften auch nach den Erfahrungen der Fanbeauftragten anderer deutscher Vereine offenbar grundsätzlich.
Im Fall Santos reihte sich auch nach dem unrühmlichen Polizeieinsatz eine Ungereimtheit an die nächste. Seine Verhaftung erfolgte nicht im Stadion, sondern unmittelbar vor der Heimfahrt an einem der Marseiller Busse. Gezielt wurde er allein von einem mobilen Einsatzkommando festgenommen und dann in Unter­su­chungs­haft gesteckt, was deshalb stutzig machen muss, weil man angesichts der Vorkommnisse Dutzende, wenn nicht Hunderte Atlético- und Marseille-Fans hätte verhaften müssen, wäre es tatsächlich um die lückenlose Aufklärung von Straftaten gegangen.
Auch das Urteil erscheint mehr als fragwürdig: Das Gericht konnte Santos keine der ihm zur Last gelegten Taten konkret nachweisen und sprach ihn in einem Anklagepunkt sogar frei. Dies hinderte die Richter jedoch nicht daran, wegen eines vermeintlichen Sitzschalenwurfes dennoch dreieinhalb Jahre Haft zu verhängen, weil Santos sich an eben jenem Stadionaufgang aufgehalten habe, von wo geworfen worden sein soll.
Damit erfährt das sprichwörtliche »Zur falschen Zeit am falschen Ort« eine ungeahnte Auf­wertung zu einer Maxime der Rechtsprechung. Seiner eigenen Urteilsbegründung folgend, hätte das Gericht den Angeklagten auch dann verurteilt, wenn er an besagtem Aufgang beruhigend auf andere Fans eingewirkt hätte. Der Anwalt der Verteidigung sagte in einer ersten Reaktion dann auch, das Urteil fuße auf Halluzinationen. OM-Präsident Pape Diouf griff die spanische Justiz ebenfalls frontal an: Das Urteil sei »absurd, unverständlich und jenseits von allem«, was man »in Europa überhaupt für möglich« gehalten habe. Santos sei ein »politischer Gefangener«, man werde nichts unversucht lassen, um ihn »den Klauen dessen zu entreißen, was ich nicht einmal wage, überhaupt als Justiz zu bezeichnen«.
Am Dienstag voriger Woche entschied die Ma­drider Justiz dann plötzlich, den verurteilten »Hooligan« trotz der hohen Haftstrafe bis zum Revisionsprozess gegen Kaution auf freien Fuß zu setzen. Der Verein zahlte die Kaution und schick­­te unter den Augen der spanischen Behörden einen Privatjet nach Madrid, um Santos auszufliegen und ihm de facto zur Flucht zu verhelfen, denn dass er zum Gerichtstermin nach Ma­drid zurückkehren wird, dürfte in etwa so wahrscheinlich sein wie eine Rückreise von »Marco« in die Türkei.
Santos, der nach der Landung unter anderem vom Marseiller Bürgermeister empfangen wurde, betonte in einer Stellungnahme, dass ihn die Brutalität der Polizei und die Hetzkampagne der spanischen Presse ein Leben lang begleiten würden. Er hoffe aber auch, dass sein Fall »eine Lektion« sein werde, dass man mithilfe von Solidarität und Mobilisierung der Öffentlichkeit »einen Sieg über die Repression« erlangen könne.
Tatsächlich dürfte der politische Druck nicht unwesentlich dazu beigetragen haben, dass man in Madrid das Problem Santos schnellstmög­lich loswerden wollte, nachdem man es geschafft hatte, die OM-Fans vor allem in den spanischen Medien zu einer Horde von Gewaltverbrechern abzustempeln. Auch deutsche Medien griffen begierig entsprechende Horrorgeschichten auf, wonach für jedes Jahr Gefängnis, zu dem Santos verurteilt wurde, ein spanischer Fan ermordet werden solle.
Aber auch ein anderes Phänomen war im Fall Santos zu beobachten: Wochenlang solidarisierten sich unzählige Fangruppierungen in ganz Europa mit dem Inhaftierten und protestierten mit »Liberté pour Santos«-Zaunfahnen und Sprechchören gegen seine Inhaftierung.
Anhänger von Fenerbahce Istanbul organisier­ten vor ihrem Spiel gegen den FC Porto sogar eine Demonstration unter diesem Motto. Während viele bürgerliche Medien also weiterhin nationalen Kategorien verhaftet bleiben und ohne Bedenken Menschen als Hooligans und Ge­walttäter stigmatisieren, haben die organisierten Fans längst erkannt, dass sie die Mobilisierung der Öffentlichkeit für ihre Anliegen und die Wahrnehmung ihrer Interessen nur gemeinsam und gesamteuropäisch in die Hand nehmen können. Andernfalls bestünde die Realität auch im Fall Santos wohl bis heute nur aus Polizeiberichten und medialen Verleumdungen.

Geändert: 19. Dezember 2008