Mein traurigstes Musikstück

The Dark Side of the Mädchenzimmer

Weiße Weihnacht, wohlige Wärme am offenen Kaminfeuer, von dem ein besänftigendes Knackseln und Bratzeln ausgeht. Ein zarter Duft von Lebkuchen, Mandeln und kandierten Nüssen durchweht die perfekt temperierten und proper hergerichteten Räume. Strahlende Kindergesichter mit roten Bäckchen, die nicht weniger glänzen als die blankpolierten Christbaumkugeln. Die Familie oder die WG sitzt traut beisammen an gebügelten Tischdecken, um kalorienreiche Festtagsspeisen zu schlemmen und hernach riesige, teure, bunte Geschenke auszupacken. Und alle singen gemeinsam herzerwärmende Lieder, die einem die Freudentränen in die Augen treiben. Das muss nicht sein. Es ist an der Zeit, die Melancholie und Tristesse in Ihr hübsches, perfektes Puppenstubenleben zurückzubringen. Klaus Walter, Heiko Werning, Magnus Klaue, Felix Klopotek, Stefan Ripplinger, Maurice Summen, Ivo Bozic, Markus Ströhlein, Georg Seesslen und Thomas Blum schreiben über das traurigste Musikstück ihres Lebens. Hören Sie doch lieber da mal rein.

Der Drei-Zentner-Liebesbär
Das traurigste Musikstück meines Lebens kaufe ich mir in Kingston im Mai 1992. Die Redaktion einer Zeitschrift hat mich zusammen mit einem Fotografen hierhergeschickt. Für die große Sommertrend-Story. Dancehall-Reggae soll das heiße Ding werden diesen Sommer. Dazu hat die Zeitschrift eine »Medienkooperation« mit der Firma Intercord (R.I.P.) auf die Beine gestellt. Die bringt eine Compilation mit aktuellen Dancehall-Tracks heraus – Zusammenstellung und Linernotes von mir –, dazu die große Reportage in der Zeitschrift, und spätestens im August ist Dancehall größer als Jesus. So der Plan. Also zehn Tage Kingston, Hotel im Reservat der Weißen, Spesen und Platten kaufen auf Verlagskosten. Dazu Geld für Courtland, den findigen Kingstonian, der uns an Orte führt, die wir ohne ihn nie finden würden. Und wenn doch, würden wir nicht hineingelassen. Oder es erst gar nicht versuchen. So bringt uns Courtland Nacht für Nacht in die Dancehall. Mal ist die Dancehall ein Parkplatz vor einem Supermarkt, mal ein eingezäunter Hinterhof. Nie ist die Dancehall eine Halle. Gut in Erinnerung ist mir eine Dancehall auf einer hügeligen Wiese bei Vollmond. Dort sehe ich zum ersten Mal, wie der Selector (Plattenaufleger, DJ) eine zu zeitgenössisch perkussivem Ragga tobende Menge zur Raserei bringt, indem er »She’s out of my life« auflegt. Eine steinerweichende Langsamstballade von Michael Jackson auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Wie auf Kommando fallen sich (heterosexuelle) Paare in die Arme und reiben voller Inbrunst ihre Leiber aneinander. Nach drei Minuten ist Schluss, weiter mit Uptempo-Dancehall. Und dann ein Schuss. Ein Mann zieht seine Schusswaffe und feuert in die Luft. Man gewöhnt sich daran. Manchmal sollen dabei Menschen getroffen werden. Das habe ich nicht gesehen. Heißer als die Vollmondwiesen-Jacko-Revolver-Dancehall ist nur noch die Beach-Dancehall am Stadtrand von Kingston. Da haben die Leute von Anfang an wenig an, die Hitze beschleunigt. Für Gerald, den Fotografen, und mich fällt die Erfahrung ab, wie weiß man ist, allein am Strand unter lauter Jamaikanern.
Die Dancehall ist Umschlagsort von Neuigkeiten, Kontakthof, Sexanbahnung, Red Stripe, Ganja. Frauen rulen die Dancehall, sie reagieren auf den Dee-Jay (Toaster, Rapper) und den Selector, sie bestimmen, welche Platte einen rewind bekommt und welche nicht, sie beantworten die Texte, jubeln oder buhen, lassen ihre Körper kreisen, vor allem die fat girls, gepriesen in ungezählten jamaikanischen Songs, hier gelten andere körperpolitische Gesetze – skinny girls sind was für die Oberschicht. Fat girls in Hot Pants, Bikinis, G-Strings, whatcha see is whatcha get. Die Männer stehen meistens am Rand und schauen den Frauen zu. Gebraucht werden sie bei slow jams. Nicht vorher und nicht nachher habe ich ein derart enthusiastisches, ekstatisches, körperliches, intensives, direktes Agieren mit und Reagieren auf Musik erlebt.
Der Gipfel des Ausrastens, Kreischens, Forderns nach einem rewind ereignet sich Nacht für Nacht bei dem Track mit dem Gurgler mit den vielen B’s. Irgendein Bubbbu-Bamm-Bamm wird vom Dee-Jay angepriesen, spitze Schreie gellen in den Nachthimmel. Alle halbe Stunde wird der tune wiederholt (»Mördertune« ist das Wort bei deutschen Raggaphilen), immer auf Anfang, es wird geschossen, und die dicken Mädchen rasten aus, kreischen, zurück auf Anfang, bummbumm­bumm, dann der riddim, nix zu machen, wäre die Dancehall eine Halle, flöge das Dach weg (schriebe man im Rockjournalismus). Was für eine magische Nummer! Muss ich haben. Banton, so erfahre ich, heißt der Bubbbu-Bamm-Bamm, nie gehört. Ist aber der Hit der Saison, keine Frage.
Nachts Dancehall, tagsüber Recherche. Ver­abredung bei Penthouse, wichtiges Label, Cutty Ranks treffen, Lieblingstoaster. Cutty taucht nicht auf, aber Donovan Germaine, der Patriarch von Penthouse, bietet Banton an, den Bubbbu-Bamm-Bamm. Der sei gerade da, mit dem könne ich doch ein Interview … »hot new guy« …
Naja, den kenne ich nicht, sage ich. Ist das der mit diesem großartigen Hit, bei dem am Anfang geschossen wird? Ja, genau, Bubbbu-Bamm-Bamm. Auf seinem Hit klingt Bubbbu-Bamm-Bamm wie ein Drei-Zentner-Liebesbär, Barry White und Solomon Burke zeugen gemeinsam einen Bubbbu. Das Interview: Bubbbu ist nicht drei Zentner schwer, aber zwei Meter groß, höchs­tens 130 Pfund. Woher kommt die Tiefe in der Stimme? Hä, keine Ahnung.
Interview heißt: Ahnungsloser Schreiber from Gemany trifft unvorbereitetes Teenage-Baby-Schlaks. So unvorbereitet, dass Schlaks noch nicht mal rudimentär Erste-Welt-Englisch beherrscht, Bubbbu spricht rabiates Jamaican, guttural, schnell, unverständlich. Die Gründe dafür, dass er ständig seine weißen Zähne bleckt, bleiben unklar. Süß, der Bubbbu, aber was redet er da? Man kennt solche Szenen aus Texten von Weißen über ihre erste Begegnung mit Leuten wie Little Richard, Screaming Jay Hawkins, Rufus Thomas. Instinktsänger. Instinktneger. Onomatopoeten des Körpers. Die Zufallsbegegnung mit Bubbbu bringt nichts, außer einer Schieflage: Wann immer der Bubbbu-Bamm-Bamm-Hit die Dancehall zum Beben bringt, sehe ich die Barry-White-Solomon-Burke-Black-Buddha-Figur vor mir … ich muss mich aber korrigieren: Der ist blutjung, bohnenstangenlang. Egal, den Bubbbu-Bamm-Bamm-Hit habe ich auf 7-Inch, damit werde ich meine nächste Sendung eröffnen und den Leuten erzählen, wie unvergleichlich sagenhaft Musik in Jamaika funktioniert, was für eine unvergleichlich sagenhafte Bedeutung Musik in Jamaikas Dancehalls hat. Was für ein Geschenk, dass ich ausgerechnet zu der Zeit hierherkomme, als dieser Bubbbu-Bamm-Bamm-Hit so dermaßen bammt, so menschenzusammenbringendglücklichmachend. Mit dem Bubbbu-Voodoo-Zauber im Blut verlasse ich die Insel. Noch nicht ganz. Am Morgen vor der Abreise noch ein kurzes Gespräch mit einem Journalisten des Daily Gleaner. Dancehall ist großartig, ja, ja, diese Intensität, dieses Zeitungsersatzmäßige der Kommunikation, 30 The­sen auf einem riddim, oral culture, Überlieferung … edle Wilde auf der sonischen Höhe der Zeit. Bin ganz außer mir. Am Ende frage ich den Informanten nach dem Bubbbu-Bamm-Bamm-Hit. Supertune, klar, aber warum rasten sie alle dermaßen aus? Woher diese hysterische Begeisterung, wenn die Schüsse … und das gutturale Gurgeln? Woher das, was Joan Morgan im HipHop-Magazin Vibe so beschreibt: »Die Salutschüsse, die ›Boom bye bye‹ begleiten, drücken nicht nur eine Liebe für dieses Lied aus, sondern etwas, das tiefer liegt, letztlich wesentlich furchterregender: Diese Schüsse scheinen das Versprechen einer kulturellen Treue, Verbunden­heit darzustellen für einen Mann, der ›Fremden‹ nicht erlaubt hat, seine Moral zu korrumpieren.«
Ja, der fremdenresistente Bubbbu-Bamm-Bamm-Hit ist »Boom bye bye«, der Bubbbu-Bamm-Bamm-Mann ist Buju Banton. Die Schüsse in diesem Mördertune von einem tune gelten: Schwulen. »Faggots have to run or get a bullet in the head.«

PS: So wurde »Boom bye bye« das traurigste Musikstück meines Lebens.

Und es hört nicht auf. Sizzla, Beenie Man, Elephant Man folgen, triste Debatten, Ratlosigkeit, Statements wie das folgende. Nicht aus irgend­einem Fanzine, nein, hier spricht The ­Source, eine der wichtigen Stimmen im US-HipHop: »In Jamaika handelt es sich nicht mehr nur um einen Konflikt zwischen einem einzelnen Künstler (Buju) und der mächtigen Gay-Lobby (in den USA), sondern um einen Konflikt zwischen der jamaikanischen Gesellschaft, die intolerant ist gegenüber der ›gay orientation‹ und einer amerikanischen Gesellschaft, die darum kämpft, einen Platz zu finden für ihre schwule Bevölkerung. In den Augen der Dancehall-Gemeinde wäre eine Entschuldigung Bujus bei der Gay-Lobby ein Akt des Verrats gewesen, eine Kapitulation vor der imperialistischen Macht, die dem grimmig-stolzen jamaikanischen Volk einen unwillkommenen Lebensstil aufzuzwingen versucht.«
Da haben wir den Salat: Homophobie ist der neue Antiimperialismus.

Klaus Walter
Klaus Walter ist Radio-DJ bei HR3 (»Der Ball ist rund«, seit 1984, wird zum Jahresende eingestellt) und Byte.fm (»Was ist Musik«, seit 2008)

Gonna rise up
Ich glaube ja, dass Tracy Chapman nur deshalb so erfolgreich ist, weil links-alternative Frauen nun mal auch Musik zum Ficken brauchen. Gleich nachdem ich nach Berlin gezogen war, endete die erste Einladung zum abendlichen Besuch bei einer Kommilitonin mit »Talking about a Revolution«. Ihre Hand in meiner Hose – »Talking about a revolution, a whisper.« Hose weg, Hand im Einsatz: »Poor people gonna rise up / And get their share« – klampf, klampf, klampf, klampf – »Poor people gonna rise up / And take what’s theirs.« Zumindest ein Armer kam zu seinem Recht, in dieser Nacht und den folgenden Wochen, doch dann: »Finally the tables are starting to turn / Talking about a revolution.« Es blieb nicht beim Talking. »Yes, finally the tables are starting to turn / Talking about a revolution – oh no.« Und schon war ich wieder allein. So hatte ich das nicht gedacht, aber sie schon, zu verhandeln gab es nichts, ich stand vor der Tür.
Trost suchte ich bei einer Greenpeace-Aktivistin, die finden es immer gut, wenn man was mit Tieren macht, da hat man als Reptilienforscher gleich gute Karten. Wale wären vermutlich noch wirkungsvoller gewesen als meine Leguane, aber egal, ob es die Echsen waren oder einfach nur die Tatsache, dass sie, wie sie mir erzählte, die Faxen dicke hätte, bei jeder Aktion von den lieben Mitaktivisten immer nur angegraben zu werden, manchmal könnte man nämlich direkt glauben, denen wäre der Kampf ums Gute völlig wurscht, die würden da nur mitmachen, um sich besser an Frauen ranschmeißen zu können, eine Tatsache, die auch ich in höchstem Maße empörend fand, was mich zu der Versicherung veranlasste, dass, sollte ich mich jemals für irgendwas engagieren, ich das ganz bestimmt nur um der Sache willen täte und nicht aus irgendwelchen niederen Motiven, was sie offenbar total rührend fand. Jedenfalls dauerte es keine halbe Stunde, bis die Deckenleuchte aus- und der indirekte Strahler mit dem merkwürdigen lila Stoffpuschel angeschaltet, die Kerze entzündet und der CD-Player angestellt war. Bang wartete ich auf das, was kommen sollte, aber ich konnte erleichtert aufatmen, denn es kam Selbstgemischtes, dann kamen wir, dann kam doch noch »Talking about a Revolution«, dann kamen mir die Tränen, und abschließend kam ich in Erklärungsnot. Sie sagte, ich hätte da wohl noch einiges zu verarbeiten, ich sagte, Quatsch, bei Tracy Chapman kämen mir nun mal die Tränen, sie glaubte mir nicht. Es folgten freudlose Wochen.
Bei der nächsten Gelegenheit dachte ich selbst dran. Sie war zwar nicht bei Greenpeace, aber Vegetarierin, es drohte also erhöhte Tracy-Chapman-Gefahr. Als sie nach einer Weile meinte, wir könnten ein schönes Glas Wein trinken und doch etwas Musik auflegen, war ich alarmiert. »Äh – was hast du denn so da?«
»Och, vielleicht – Tracy Chapman?«
Das war einerseits eine gute Nachricht, wir würden also vögeln, andererseits war ich geistesgegenwärtig genug, um Probleme lieber gleich im Keim zu ersticken: »Och, haste nicht was anderes da?«
»Äh – wieso, findste die blöd?«
Das wäre vielleicht ein taktischer Fehler, so gut kannten wir uns schließlich noch nicht, wer weiß, wie wichtig ihr das war. Also versuchte ich die Flucht nach vorn, am besten irgendwas mit Frauensolidarität, Ex-Freundin kam ja nicht so gut, dann halt Schwester. Ich habe keine Schwester. Egal, wusste sie ja nicht. »Nee, gar nicht, ich find’ Tracy Chapman klasse. Aber das macht mich immer so traurig. Das war auch die Lieblingsplatte meiner Schwester, die vor zwei Jahren bei diesem Fahrradunfall – so ein rechtsabbiegender Laster, und irgendwie … «
»Oh.«
Sie sah mich mit großen Augen an. Verdammt, hoffentlich war das jetzt nicht ein bisschen zu dick aufgetragen. »Äh, ja, natürlich«, sagte sie erschrocken, »dann nehmen wir lieber was anderes.« Sie griff zielsicher in ihr Regal. »Hier!« Und ohne weiteres Zögern legte sie sie ein: BAP – »Vun drinne noh drusse«. Scheiße, zu hoch gepokert. Ausgerechnet bei »Do kanns zaubere« wurden wir koital. Die Sache stand von Beginn an unter keinem guten Stern.
Ich war sehr froh, als die nächste Affäre sich als Hardrock-Fan entpuppte. »Highway to hell« zum Beischlaf, das hat doch was.

Heiko Werning

Heiko Werning ist Vorleser bei den Brauseboys und der Reformbühne Heim & Welt, Reptilienredakteur, Liedermacher aus Leidenschaft und Froschbeschützer aus Notwendigkeit.

Loch im Bett
Die traurigsten und schönsten Dinge des Lebens können nicht existieren ohne eine Spur von Kitsch – zu wenig, um einfach peinlich zu sein, zu viel, um Gegenstand reflektierter Aneignung werden zu können. Große Erfolgsaussichten auf die Spitzenposition unter den traurigsten Liedern hat in diesem Sinne »Jesse« von Roberta Flack, die mit »Killing Me Softly« einen weiteren Trauerkloß-Hit gelandet hat, der freilich zu popu­lär und irgendwie auch zu lässig ist, um Chancen auf einen Platz unter den Top Ten musikalischer Depressiva zu haben. »Jesse« dagegen hat alles, was ein Lied braucht, um den Hörer im Genuss von Schmerz und Selbstmitleid versumpfen zu lassen: Das weibliche Ich ist offenbar schon vor langer Zeit von seinem Liebhaber verlassen worden und singt davon, wie es sich anfühlt, ein ganzes Restleben in der immer illusionäreren Erwartung von dessen Rückkehr zu verbringen. Handlungsgelähmt und zukunftsvergessen, aber stolz auf die eigene Treue, verzehrt es sich in einer zur betäubenden Gewohnheit gewordenen, diffusen Hoffnung, die sich allerdings in konkreten neurotischen Zwangshandlungen manifestiert: Jede Nacht lässt die Verlassene im Treppenhaus das Licht an, lauscht auf die Schritte des Heimkehrenden und führt ein nie versiegendes Zwiegespräch mit einem Phantom, für das sie bei jeder Mahlzeit den Tisch deckt. So erbärmlich sieht wohl tatsächlich der Alltag nicht weniger Menschen aus.
Gleichzeitig ist das Lied in das richtige Zwielicht von Genauigkeit und Allgemeinheit getaucht, um möglichst viele Hörer zu verführen, sich mit der geschilderten Situation zu identifizieren: Weder die Sprecherin noch der Adressat werden als soziale Personen entworfen, sondern bleiben Hüllen für ein allerdings vertrautes, präzise beschriebenes Gefühl. Assoziationen an die Mythologie (das »Penelope«-Syn­drom) tun ein übriges, um den Song als Darstellung einer existenziellen menschlichen Grund­erfahrung erscheinen zu lassen. Nicht dies aber macht das Lied so quälend und geradezu körperlich beengend, sondern die exakte Aufzählung der zu Todeszeichen erstarrten Einzelheiten eines alltäglichen Daseins, die allesamt nur noch an den nie verwundenen Verlust erinnern: das »Loch« im Bett, das Licht im Flur und die Zeugnisse eines gemeinsamen Lebens, die das Ich nicht als lebendigen Teil der eigenen Individuation begreifen kann, sondern als Fetische eines Glücks anhimmelt, mit dem es sich so stark identifiziert, dass es keine Veränderung, keine Zukunft mehr zu geben scheint. Dass eine Vergangenheit, an der man derart klebt, selbst recht eng und hoffnungsarm gewesen sein muss, kommt aus Perspektive des Liedes, das die dargestellten Gefühle mit süßlichen Streichermelodien affirmativ verdoppelt, nicht in den Blick. Auf diese Weise kann sich jeder darin wiederfinden, ohne gewahr werden zu müssen, dass der sehnsüchtige Fetischismus, den das Lied besingt, die verlorene Person erst recht, als Stellvertreter ihrer eigenen Besonderheit, jeglicher Individualität beraubt. Die letalen Folgen dieses Syndroms schildert aus männlicher Sicht Patricia High­smith in ihrem großartigen Roman »Der süße Wahn«, der weniger kostet als eine CD von Roberta Flack und nicht nur traurig, sondern klüger macht.

Magnus Klaue

Magnus Klaue ist Literaturwissenschaftler und lebt und arbeitet in Berlin.

Bereits Geschichte
Eine der größten Finten in Sachen Traurigkeit hat sich Neil Young geleistet. »Tonight’s the Night« (1973) gilt als sein schwärzestes Album, ein waidwunder Gesang über Drogentote und verrauchte Hippieträume. Und als Nullpunkt, als Youngs ganz persönliches »Ganz unten« gilt sein »Borrowed Tune«, ein Plagiat, eine Notlüge, ein einziges Scheitern. »I’m singing this bor­rowed tune / I took from the Rolling Stone /­Alone in this empty room / Too tired to write my own«. Aber wie trostreich, dass die Gesetze der Dialektik auch hier gelten: Wer so formvollendet seine eigene Ratlosigkeit ausstellt, der ist schon darüber hinweg. Die Zeilen aus dem »Borrowed Tune« erschüttern, weil sie erschüttern sollen – nicht weil sie aus dem tiefsten Inneren eines Verletzten kommen.
Eigentlich ist für mich damit die Frage nach dem »traurigsten Song« beantwortet: Es gibt ihn nicht, es kann ihn nicht geben. Traurigkeit ist ein direkter und unmittelbarer Gemütszustand. Sich vorzustellen, man könne ihn in so etwas hochgradig Vermitteltes wie Musik übersetzen, fällt schwer. Es gibt großartige, herz­ergreifende Trauermusik, Youngs »Tonight’s the Night«, Luigi Nonos »Il Canto Sospeso« (1956). Aber traurig macht einen diese Musik nicht. Im Gegenteil: Die Form der Darstellung ist bereits ein Sieg über den Schmerz.
Wirklich erschüttert war ich aber letztens beim bewussten Wiederhören des »Rauch-Haus-Songs« (1972). Das ist dieses legendäre Hausbesetzerlied von Ton, Steine, Scherben, so »wichtig«, dass es einen eigenen Wikipedia-Eintrag hat und man im Netz eine ausführliche Kommen­tierung des Textes findet. Es ist das Besondere an dem Song, dass er kein Agit-Prop-Stück ist, sondern fast schon wie eine Ballade klingt. Die Besetzung des Kreuzberger Betha­nien-Krankenhauses, genauer: des ehemaligen Schwesternwohnheims, seine Umbenennung in »Georg-von-Rauch-Haus« (nach dem erschossenen Genossen), die Razzia der Bullen am 19. April 1972 – das wird von Rio Reiser bereits als Vergangenheit verhandelt. Damit wird das Ereignis (wohl unfreiwillig) historisiert: Es ist passiert, es ist bereits Geschichte.
Obwohl der Refrain kämpferisch ist – jeder erinnert sich an das notorische »Ihr kriegt uns hier nicht raus/Das ist unser Haus« – und obwohl die damalige Besetzung des Bethanien kaum als Niederlage der Linken anzusehen ist, hat die Darstellung der Scherben etwas Verlorenes, Schiefes. Das liegt daran, dass Reiser als Chronist, als Erzähler und eben nicht als aktiver Kämpfer auftritt. Es ist, als ob er von einem Ereignis singt, das schon keinen direkten Kontakt mehr zur Wirklichkeit hat. Der Refrain wirkt wie ein Echo – ja, damals haben wir das noch gerufen: »Das ist unser Haus!« Untergründig kündet das Lied von einem Hochgefühl auf Pump, das sich allzu schnell als vergänglich herausstellen sollte. Aber die Illusionen von damals waren ja kein Selbstbetrug, sondern real! Und das hat mich dann so getroffen, dass mir zu meiner eigenen Überraschung wirklich zum Heulen war.

Felix Klopotek

Felix Klopotek lebt und arbeitet in Köln.

The Dark Side of the Mädchenzimmer

»Prince, Samenzieher Nummer Eins« hat der legendäre Malibu-Mailorder damals zu diesem Stück geschrieben. Der Malibu-Katalog aus Hamburg: die Versorgungsquelle für das Akne-Männchen in der Diaspora. Blues, Punkrock, Indiewindeln, Noize-Psych-Trash, Metal-Cross­over, Industrial-Funk, Booze-Balla-Balla-Hardcore-Jazz, HipHop usw.
Eine Fülle von Sound-Utensilien für die Burroughssche und Kerouacsche Beatnik-Werdung eines jungen Wilden: Wochenendwave, Wochen­endbilly, Wochenendpunk, Wochenendhasch, Wochenendbier und Wochenendacid. Eine lo­gis­tisch sehr gut organisierte, stark überemotionalisierte Welt des Aus- und Aufbruchs. Ich war jung, ich war stumpf, immer unterwegs und wusste: Da geht noch was.
Ganz anders erfuhr ich damals die Stimmung in den Mädchenzimmern: die Vorahnung einer Chill-Out-Lounge. Pastelltöne, getrocknete Rosen, Teesorten (verschiedene), auf dem geflickten Teppich sitzen in Prä-Yoga-Posen, Belletristik­regale, Postkartensammlungen (s/w), Düfte (fremd), Kerzen, Schneider-Kompaktanlagen (Vor­gänger einer ganzen I-Produkt-Welt) mit kopierten Tapes und Aufnahmen von The Doors, The Smiths, Gene Vincent, Madonna und Prince.
Ich erinnere mich aber auch an »The Dark Side of Mädchenzimmer«: ich auf der Matratze, das Mädchen am Schreibtisch. Aus den Boxen ertönen die Smiths. Sie spielt mit Scherbensplittern am Handgelenk. Schnitt. Schnitt. Noch ein Schnitt. Und Blut. Wie es aus den Handgelenken strömt. Nicht um sich wirklich umzubringen. Einfach so. Die gleiche Frau, mit der man ein paar Tage zuvor im schmutzigen Funk-Rhythmus von Prince gefickt hatte. So war sie, die Natur: launisch und immer für ein Unwetter gut. Der Weltschmerz des Eisprungs. Ich war Samen­spender, und als solcher war ich schon damals ein einfacher, schmerzbefreiter Fabrikarbeiter – in meinen Hodensäcken Fließbandarbeit, mein Fachgebiet: Dummheit.
Aber auch ich bekam langsam ein Gefühl für Melancholie, ein Gefühl für die sonderbaren Gefühlszustände, denen mit dionysischen Metho­den nicht mehr beizukommen war: Warm und kalt, geil und angewidert, dynamisch und träge zugleich. Die Mädchen erschienen mir unterdessen immer schöner, fremder und seltsamer. Sie trafen sich nun mit älteren Typen, die zwar genauso stumpf waren wie ich, aber wenigstens ein Auto und ein Bankkonto mit Dispo besaßen.
»Sometimes it snows in April« war das Lied, mit dem ich schließlich glaubte, die Melancholie des Eisprungs, den mikrokosmischen Urknall des Alltags, nachempfinden zu können. Für mich war dieses Gefühl aber nicht etwa Frau-Werdung, sondern reine Frau-Differenz, besser gesagt: Eine Frau differenzierte sich, ja distanzierte sich mal wieder von mir. Und dann war neben »Kiss« oder »Girls and Boys« nun mal eben auch »Some­times it snows in April« auf dem Prince-Album »Parade« versteckt. Eine verlustvolle Soul-Rockballade, und es war die erste Ballade, die ich samt Inhalt, mitsamt ihrer Poesie an mich ­heranließ. Dazu ich habe geweint. So wie ich später zu Curtis Mayfield und den Impressions geweint habe.
»Sometimes it snows in April« ist Soul-Musik. Und wenn man »Soul« mit »Gefühl« übersetzt, dann war es – wie soll ich sagen? – das erste »Musikstück Gefühl«, das ich erfuhr durch den gefühlten Verlust eines Menschen, den ich ja nie besitzen konnte, würde oder sollte.
Das Smiths-Girl von damals arbeitet heute übrigens als Sozialpädagogin.

Maurice Summen

Maurice Summen ist Familienvater, Musiker, Autor, ­Labelbetreiber und Gelegenheitsdepp.

Aufs Schafott

Die Engländer, Franzosen und Russen haben ihre Königinnen und Könige aufs Schafott geschickt, die Österreicher und die Deutschen müssen sich schon selbst hinbemühen. Franz Schubert spielt die Musik dazu. Das heißt dann gern »Andante con moto«, so im Klaviertrio Es-Dur oder, mit einigem Galgenhumor, in der »Großen Symphonie«. Im erschütternden »Domine Deus« der sechsten Messe liegen wir bereits unterm Fallbeil. Miserere nobis. Aber dieses Sich-Hinschleppen und Stöhnen, dieses Aufbegehren, Heulen und dann Resignieren, diese end­gültige Einsicht in den Tod, den jeder alleine stirbt, hört man am reinsten im ersten Satz der Klaviersonate in G-Dur. Allerdings nicht, wenn Grigorij Sokolow sie spielt.
Sokolow ist ein Mann ohne Makel, niemand beherrscht den Konzertflügel besser als er. Sein Schubert ist klar, flink, brillant. Leider lässt er mich kalt. Ich lege mir lieber Swjatoslaw Richter auf, der dieselbe Sonate, seine liebste von Schubert, dumpf, schleppend, gelegentlich unsicher spielt. Aber nun befinden wir uns auf dem Weg, dead man walking, und keine Erlösung wartet unser. In einem Film von Bruno Mainsaingeon sieht man Richter 1977 den ersten Satz spielen. Er starrt mit offenem Mund auf die Partitur, als ob da nicht Noten geschrieben stünden, die er seit 40 Jahren auswendig kennt, sondern Menetekel. Es ist, als ob er, hilflos, entsetzt, empört, einer Katastrophe ansichtig würde, dabei blickt er doch vielleicht nur in einen Spiegel.
Vor Richter war Schubert ein Komponist des Biedermeier, der liebliche Stücke für die Hausmusik geschrieben hat. Seine schneidenden, düsteren Seiten hat ihm erst dieser russische Pianist abgewonnen. Mein Freund Henrik sagt, bei Richters Schubert könne man die Toten ihren eigenen Tod beklagen hören.
Swjatoslaw Richter: Franz Schubert, Klaviersonate in G-Dur, D 894 (enthalten auf »Sviatoslav Richter In Concert. Beethoven/Schubert/Liszt. Historic Russian Archives«. Brilliant Classics)

Stefan Ripplinger

So cold in Alaska

Erst dachte ich, es läge daran, dass meine erste Freundin zu diesem Lied immer geweint hat. Aber das ist keine Erklärung. Denn sie hat schließ­­lich auch zu Morrissey, Siouxsie & The Banshees und zu den Einstürzenden Neubauten geweint, und zu Pink Floyd natürlich. Genau genommen hat sie »The Wall« rauf- und runtergeweint. Und zu den Gedichten von Else Lasker-Schüler selbstverständlich, und, na klar, im Kino, Stichwort: Betty Blue, und natürlich beim Nachdenken und Reden über den Film und über die Gedichte und Songs. Genau genommen hat sie nur zu Cat Stevens nicht geweint. Soweit ich mich erinnere. Aber zu »Caroline Says II« aka »Alaska« von Lou Reed, da hat sie besonders laut geweint – neben »Wish You Were Here« natürlich, aber dazu hat ja jeder geflennt.
Für mich war das alles recht befremdlich damals. Auch all diese schwarzen Klamotten und Kajalstifte. Ich war ja eher ein sonniges Gemüt. Wir waren jung, und obwohl sie jünger war, habe ich noch ein paar Jahre gebraucht, um so traurig zu werden wie sie. Eigentlich war es so: Als ich endlich genauso traurig war und meine Klamotten genauso schwarz waren, wur­de sie zunehmend ein sonnigeres Gemüt. Vermutlich ha­ben wir uns zu diesem Zweck damals gefunden.
Vor einiger Zeit habe ich nach langem mal wieder »Alaska« gehört. »But she’s not afraid to die, all her friends call her Alaska, when she takes speed, they laugh and ask her: What is in her mind?« Draußen war’s warm, drinnen fror es plötzlich. »She put her fist through the window pane, it was such a funny feeling.« Schwermütig und schleppend die Melodie, brüchig die Stimme von Lou Reed, die dünne, aber klassische Instrumentierung; und dann natürlich der Text: ein Komplettdurchgang durch alle Stichwörter, die eine jugendliche Borderlinerin oder einen pubertierenden Existenzialisten in die flatternde Seele treffen. Drogen, Gewalt, Augenschminke, Angst, Tod, gefühltes Unverständ­nis, Selbstverletzung. Im Grunde könnte es heute die Hymne der Emos sein. Das Lied behandelt ganz offensichtlich die Gefühlswelt vor dem Erwachsenwerden. Anders gesagt: pathetisch-larmoyanter Postpubertätskitsch.
Als ich mir das so überlegte, schämte ich mich ein wenig dafür, das Lied heute noch zu mögen. Vielleicht ist es aber ja gar nicht das Lied, das mich heute traurig macht. Vielleicht ist es eher die traurige Erkenntnis, dass die Gefühlswelt mit den Jahren weniger existenziell, weniger tief geworden ist. Dass man so selten noch weint. Dass man am Leben nicht mehr ver­zweifelt, obwohl es einem objektiv betrachtet heute deutlich schlechter geht als damals. Dass alle Welt von Erderwärmung faselt, während es immer eisiger wird da draußen in der Welt. Und dass, je weniger Wege uns offen stehen, wir umso gelassener werden. Kurz: dass wir kom­plett verrückt sind.
Nun rief ich meine Ex-Freundin an und erzähl­te ihr von der Begegnung mit unserem alten Lied. Hm, sagte sie, ja, zu »Wish you were here«, da habe sie wohl mal geweint, sie erinnere sich, aber »Alaska«? Von Lou Reed sei das? Hm, da wisse sie gar nicht so recht, wovon ich da spräche. Nach dem Telefonat habe ich dann erst mal die Heizung aufgedreht. It’s so cold in Alaska.

Ivo Bozic

Schwarz

Die Menschen weinen ja aus den verschiedensten Gründen und mit ganz unterschiedlicher Intensität. Manche überkommt z.B. die Erinnerung an früher: Schön war’s, aber vorbei ist’s eben. Da kann man nichts machen, außer wehmütig bis wohlig zurückzudenken, den einen oder anderen Schnaps zu kippen und die eine oder andere Träne zu vergießen. Wird schon wieder.
Es kann einem selbstverständlich auch übler ergehen. Weithin bekannt und gefürchtet in dieser Hinsicht: das Verlassenwerden. Da vergießt man meist nicht nur Tränen, sondern gleich Rotz und Wasser, tagelang, wochenlang, unter Umständen monatelang. Die tröstliche Einsicht, dass es in genügender Zahl hübsche Menschen unter der Sonne gibt, dringt nur sehr langsam ins Bewusstsein vor. Aber auch in diesem Fall gilt, und das sei Ihnen, sollten Sie sich gerade jetzt in der misslichen Lage befinden, an dieser Stelle versichert: Wird schon wieder.
Diese Formen der Traurigkeit wurden hinreichend vertont. Emo lebt ausschließlich von der Melancholie. Und wer die Worte »break my heart« bei Google eingibt, erzielt etwa vier Millionen Treffer, von denen eine unüberschaubare Zahl auf Songs verweist. Eine ganz andere Traurigkeit – oder um es treffender zu sagen: Trauer – befördert Krzysztof Pendereckis »Threnos – Den Opfern von Hiroshima«. Im Vergleich zu diesen etwa neun Minuten Musik erklingt in anderen Stücken höchstens ein wenig Trauer süß-sauer.
Was er da geschrieben hatte, wurde dem pol­­nischen Komponisten selbst wohl erst allmählich klar. »Es existierte nur in meiner Vorstellung, in einer sehr abstrakten Form«, berichtet er über die Zeit, in der er »Threnos« auch nur auf dem Papier kannte. Nachdem er eine Aufführung gehört hatte, sagte er: »Ich war überwältigt von der emotionalen Aufgeladenheit des Werks. Ich suchte nach Assoziationen und am Ende beschloss ich, es den Opfern von Hiroshima zu widmen.«
Der Tag, an dem über Hiroshima die Atombombe abgeworfen wurde, gehört zweifellos zu den traurigen in der Weltgeschichte. Dass Penderecki eine so konkrete Assoziation zu seinem Stück fand, ist dennoch erstaunlich. Denn für das, was die Instrumente freisetzen, fehlen die Worte. Auch mit den passenden Bildern wird es schwer. Nun ja, die vollständige Abwesenheit von Farbe träfe es vielleicht annähernd. Eine Farbe? Das wäre dann: schwarz, pechschwarz.
So brechen die Streicher – vergessen Sie bitte Dur, Moll und auch die herkömmlichen Halbton-Intervalle – über einen herein und sorgen für niederschmetternde und unerträglich traurige neun Minuten, die gemeinerweise auch überhaupt nicht von Momenten der Erlösung oder Katharsis gemildert werden. Nach dem Stück kehrt zwar Ruhe ein, die aber mit dem Wort »To­tenstille« besser umschrieben ist. Beschädigt und versehrt kommt man sich vor, und allzu schnell will man »Threnos« auch nicht wieder hören.
Während andere traurige Stücke aber ihre Wir­kung meist nicht ohne die Verbindung zur Lebensgeschichte des Hörers entfalten können (»Das lief immer, als es mir echt schlecht ging«), kommt »Threnos« ohne diesen Firlefanz aus. Machen Sie doch einen Selbstversuch, am besten an einem Tag, an dem Sie gute Laune haben: Hören Sie sich »Threnos« in einigermaßen stattlicher Lautstärke an. Ohne zumindest ein Gefühl der Beklemmung zu empfinden, wer­den Sie nicht davonkommen.

Markus Ströhlein

Kein Daheim

Es gibt Musik, die eine traurige Stimmung erzeugt oder verstärkt, Musik, die an traurige Mo­mente erinnert und zu traurigen Anlässen gespielt wird, und schließlich Musik, die von Trauer handelt. Was aber ist traurige Musik? (Musik, die nicht wegen oder für etwas, sondern in sich selber traurig ist?)
In einem seiner Sketche spielt der bayerische Komiker Karl Valentin einen Zither-Musiker, der an einer einfachen Melodie – ich glaube, sie hieß »Liebesperlen« – existenziell scheitert. Er kriegt nämlich einfach keinen Schluss hin, sondern ist dazu verdammt, eine Phrase endlos zu wiederholen, weil der letzte Ton eben kei­nen Schlusspunkt bildet. Der Vorhang senkt sich, und als er wieder aufgeht, spielt der Mu­siker immer noch dasselbe Stück, in der Zwi­schen­zeit ist ihm ein langer Bart gewachsen. »Ich find’ nicht mehr heim«, jammert er, und so spielt er und spielt er. Traurige Musik ist Musik, die nicht mehr heimfindet.
Kraftwerks »Autobahn« ist eine Musik, die sich nicht einbildet heimzufinden. Kraftwerk ver­banden damals, zum ersten Mal, die elektro­nische Musik des Zustands mit der Erzählung ­eines Rock-Songs. Diese Verbindung ist wie ­geschaffen für die musikalische Trauer (man kann nur von einem Zustand erzählen, vom Ausdehnen oder Zusammenziehen). Gerade hatten sie sich den Moog angeschafft, mit dem sie die Verkehrsgeräusche bearbeiteten und seriell re-komponierten, die sie zuvor mit dem Tonband bei einer Autobahnfahrt aufgenommen hatten. Es ist klar, dass diese Fahrt nirgendwohin führt und dass es unterwegs nichts zu sehen gibt. Die Sache an sich, die Bewegung und ihre Geräusche übernehmen das Zentrum der Wahr­nehmung. Die Worte regredieren zu einer Art Kinderreim. Das meiste, was dann im Elektro-Pop kam, war falsch; entweder die falsche Musik oder die falsche Erzählung. »Autobahn« ist dagegen immer noch unterwegs und nirgendwo angekommen.
Zweifellos ist »Autobahn« eine Affirmation der Technologie, gegen das Hippietum (der anti-technologischen Idioten, die sich nichts daraus machen, die Autobahn als Anhalter zu benutzen), der Beginn der (musikalischen) Verwandlung in die Maschine. Roboter, denke ich, lieben die traurigste Musik (denn sie haben ja kein Daheim).
»Autobahn« ist viel trauriger als das Stück »Road to Nowhere« von den Talking Heads, das den Zustand, nicht mehr heimzufinden (oder gar nicht zu wissen, was das sein könnte), höchs­tens beschreibt, wenngleich auf ziemlich sarkastisch-geniale Art, aber Byrne verabschiedet sich doch mit einer sanften Coda, einem Echo. Er kommt vielleicht nirgendwo an.
Das Stück »Autobahn« entstand zu einer Zeit, als eine Autobahn in Deutschland das Schlimms­te war, was man sich vorstellen kann. Hitler hat die Autobahnen gebaut, und immer noch denkt man sich das Hochgefühl der Nazis mit; nie bekommt eine deutsche Autobahn die freie Melancholie eines US-amerikanischen Highways. Nie kann sie wieder jung werden. Die Auto­bahnen sind zu groß und zu alt für das kleine Land. Es ist schon traurig, wenn man (musikalisch) überhaupt eine Autobahn sieht, und der seltsame Trance-Zustand, die Mischung von Ödnis und Rausch, ist in allem das Gegenteil von Heimat. Ortloser Ort, Musik des Verschwindens. So trauert in »Autobahn« die Form über den Inhalt und der Inhalt über den Gegenstand, und alles auch wieder zurück. Natürlich könnte man statt »traurig« auch »komisch« sagen. Aber das ist ja nur dasselbe andersherum. Trau­rige Musik ist immer auch komische Musik.

Georg Seesslen

Georg Seeßlen ist Kritiker und weiß aus einem früheren Leben noch, wie man mit einer Gitarre und einem Mikro umgeht.

Täuschungsempfindlich
18 Jahre, ein schönes Alter. Tanzen, Lachen, Hop­sassa. »Hit that perfect beat, boy.« Das Tschackbumm-Prinzip. Es macht das jugendliche Leicht­sinnsdasein aufregender, schneller, praller. Bronski Beat. Kein Gedanke wird verschwendet an die grauenvolle Zeit, die die CDU auf Plakaten in schönfärberischer Absicht »die Zukunft« nennt. DJ Rentenversicherung is noch lange nicht in the house.
Und da, inmitten der schwäbischen Kleinstadt­tristesse, das größte Kunstwerk Gottes: meine Freundin. Mit Betonung auf meine. Sie sieht aus wie Bo Derek in »Ten – Die Traumfrau«, nur bekleideter. Ihre goldfarbenen Korkenzieherlocken duften nach grünem Apfel-Shampoo, dessen Geruch ich gierig inhaliere. Von über­irdi­scher Schönheit sind ihre Gesichtszüge. Eine tiefe, innige Liebe verbindet uns, wie die Welt sie noch nicht erlebt hat. Romeo und Julia, Werther und Lotte, Rick Blaine und Ilsa Lund, Sid und Nancy, Richard Burton und Liz Taylor. All das: Kinderkacke im Vergleich zu uns beiden.
Wir, meine Freundin und ich: Wolke Sieben, Love Story, Ganzheit, prästabilierte Harmonie, Identitäterä, phantastisch funktionierendes Intimsystem, sozusagen die idealtypische Ausprägung einer »wechselseitigen Komplettannahme im Modus der Höchstrelevanz« (Peter Fuchs). Das Leben ist eine nie endende Kutschfahrt, während der Zuckerwatte gegessen wird und von ferne und überhaupt von überall her Glöcklein klingeln.
Während wir hingebungsvoll Wange an Wange Blues tanzen, spielen sie unser Lied: »When I stand here taking every breath with you, ooh /You’re the only one who really knew me at all.« (Phil Collins) Und das Beste: Ich habe sie schon zweieinhalb Wochen. Das ist sehr lange. Die Liebe ist eine Himmelsmacht. Meine göttinnengleiche Freundin.
Das war sie bis gestern abend. Bis 21 Uhr 17, um genau zu sein. Da teilte sie mir, um einen geschäftsmäßigen Ton bemüht, achtlos ins Tele­fon nuschelnd, mit, dass sie mich »immer noch gerne mag«. Ich sei »eigentlich schon in Ordnung«, sie habe sich »das mit uns« aber mittlerweile »anders überlegt«. Unsere meiner bisherigen Wahrnehmung zufolge alles überstrahlende Liebe sei gar keine: »Es steckt viel Gu­tes in dir, aber weißt du, wir haben uns auseinanderentwickelt. Ich denke, ich brauche im Moment jemanden, mit dem ich meine Widersprüche besser ausleben kann. Ich denke, wir müssen beide unsere eigenen Erfahrungen im Leben machen.« Hoppla. Moment mal: »How can you just walk away from me/When all I can do is watch you leave?« So war das nicht abgesprochen.
Am nächsten Abend gelingt es mir, sie zwischen anderen auf der Tanzfläche zu erspähen, wo sie gerade auf ihre Art ihre Widersprüche mit jemandem auslebt. Ein schmieriger Unhold bemächtigt sich gerade allem Anschein nach ihrer, seine teigigen Pranken wandern forschend über ihren Rücken, während sie ihn verliebt anstarrt.
Und dabei erklingt höhnischerweise unser Lied: »So take a look at me now / ’Cause there’s just an empty space / And there’s nothing left to remind me / Just a memory of your face.«
»Dem Gekränkten, Zurückgesetzten geht etwas auf, so grell wie heftige Schmerzen den eige­nen Leib beleuchten. (…) der Liebe verlor, weiß von allen sich verlassen, darum verschmäht er den Trost. In der Sinnlosigkeit des Entzuges bekommt er das Unwahre aller bloß individuellen Erfüllung zu spüren.« (Adorno) Oder, um es, weitaus treffender und präziser, mit den Worten von »Sabine«, einer Internet-Userin, zu ­sagen: »Des is voll scheiße, des Lied, weil ich immer heulen muss, oh Gott, des is so der Hammer.«
Die Schlussfolgerung lautete seinerzeit: Liebe ist also gar keine Himmelsmacht, wie ich glaubte, sondern »wie Geld oder Macht ein so genanntes Steuerungsmedium, das die Chance auf das Eintreffen unwahrscheinlicher Sinnzumutungen steigert. Überraschend ist dabei jedoch, dass Intimsysteme auf dem paradoxen, komplexen und sehr täuschungsempfindlichen Medium Liebe basieren.« (Wikipedia) Quod erat demonstrandum.

Thomas Blum