Debatten des Popbetriebs

Zurück im Jammertal

Die Digitalisierung lässt immer mehr Musiker fragen, von was sie leben sollen, wenn sie keine Tonträger verkaufen.

Die Platte hat längst einen Sprung, und doch wird sie immer wieder aufgelegt. Die Platte hat den Titel: »Ist Pop am Ende?« Dieses Mal wird diese Frage im Hinblick auf die rasante Umgestaltung des Popbetriebs und die damit kurzgeschlossene Öffentlichkeit durch das Internet gestellt. Die Spex betreibt schon seit Monaten eine Reihe, in der die »Digitale Revolution« behandelt wird, und jetzt finden zu dem gleichen Thema innerhalb eines Monats in Berlin gleich drei Kongresse statt. Dort wird darüber gefachsimpelt, ob die komplette Umgestaltung des Musikmarktes durch das Internet, samt seiner Distributionswege und Diskussionsplattformen, Pop in seiner gerne als subversiv wahr genommenen Form auslaufen lässt oder ob da eben doch nur etwas neu gestaltet wird, das Möglichkeiten eröffnet, die man zum jetzigen Zeitpunkt vielleicht noch gar nicht richtig erkennen kann.

Auf allen drei Kongressen wird die Lage eher düster gesehen. Seit dem Aufkommen von MP3s verliert der physische Tonträger stark an Wertigkeit, nach kapitalistischer Logik damit auch an Bedeutung. Musik wird zur runtergeladenen Ramschware, Labels sterben, und Teilhaber am schrumpfenden Musikmarkt wissen nicht mehr, wie sie ihre Brötchen verdienen sollen, und machen deswegen bei der »Jägermeister-Rockliga« mit oder lassen sich vom Goethe-Institut durch die Gegend schaukeln.
Die eigene Musik nicht auch als Klingelton anzubieten, das leisten sich heute nur noch die Goldenen Zitronen, und die werden längst von den deutschen Theaterbühnen gesponsert. »Audio Poverty« heißt der Kongress, der sich im Februar im Berliner Haus der Kulturen der Welt damit beschäftigen wird, wie und ob man als Musiker, der weiterhin nicht bei jedem Scheiß mitmachen will, auch weiterhin ein Leben in Würde führen kann, auch wenn man nicht mehr allein vom Absatz der eigenen Musik zu leben vermag.

Die andere Frage, die sich durch die Digitalisierung im Musikbetrieb ergibt, jene nach der Öffentlichkeit, die sich mit Pop beschäftigt und die sich durch das Internet stark verändert hat, wurde bereits am vergangenen Wochenende im Berliner Hau diskutiert. »Dancing with myself« nannte sich der Kongress, in Anspielung auf die These, dass dank dem Internet Musik zwar grenzenlos verfügbar sei, ein Austausch über Gehörtes außerhalb des Cyberspace, der so genannte Tresentalk, aber immer schwieriger werde, weil jeder etwas anders höre, jeder nur noch mit sich selbst tanze. Außerdem ist das Archiv an toller, wichtiger, radikaler, grenzüberschreitender Musik längst unendlich groß.
Traumhafte Zustände könnte man meinen, und doch klagen alle darüber, wie langweilig und berechenbar der so genannte Popdiskurs geworden ist. Die Platte, auf die sich alle einigen können, der Künstlerentwurf, über den man streitet, als gäbe es nichts Wichtigeres, das alles gibt es zwar noch – etwa Antony oder Kanye West –, doch viel mehr ist man damit beschäftigt, die eigene Festplatte mit westafrikanischer Psychedelik aus den frühen Siebzigern oder den weirdesten Weird-Folkern aus den Wäldern Kanadas zu verstopfen. Und zwar jeder für sich. Eine echte Verarbeitung des Gehörten, ein Diskurs, der diesen Begriff auch verdient, findet kaum noch statt.

Die Situation ist also eigentlich paradox. Man hat so ziemlich alles erreicht, wovon man in den Achtzigern und Neunzigern noch träumte: Die Dominanz von Major-Labels ist zerschlagen, wer mag, kann seine Musik auch ganz ohne ein Label auf Myspace anbieten; die hegemoniale Verwaltung des Popwissens in Printmedien ist bedeutungslos geworden, weil man sich im Internet jede Platte bereits angehört haben kann, bevor diese die Redaktion überhaupt erreicht; Musik und damit Kultur kostet nichts mehr dank Soulseek; und doch befinden wir uns jetzt angeblich im Jammertal.
Die »elektronischen Lebensaspekte«, wie das die Zeitschrift De:Bug nennt, stehen plötzlich auf dem Prüfstand. Jahrelang hieß es, dass wir durch das Netz endlich das ganze System Musikmarkt neu gestalten können. Nun ist das geschehen, und plötzlich beginnt ein großes Wehklagen, weil der Popbetrieb das Gefühl hat, er schaffe sich langsam selbst ab. Komisch ist auch, dass das Problem teilweise genau in der Diktion beschrieben wird, mit der eine einfallslose Musikindustrie schon seit Jahren ihren Kopf aus der Schlinge ziehen möchte. Liebe Leute, so der ewige Appell von Universal und den paar anderen Übriggebliebenen, kauft wieder Tonträger, schätzt die Musik als Wert, für den ihr etwas bezahlt, rettet die Reste der alten Strukturen. Im Klartext: »Vinyl kaufen, nicht bei Amazon, sondern im Plattenladen um die Ecke«, schlägt Ekkehard Ehlers, einer der Mitveranstalter von »Audio Poverty«, vor.
Allerdings beschleicht einen das Gefühl, dieser ganze Phantomschmerz rund um Pop und seinen Bedeutungsverlust hat vor allem Menschen über 30 ergriffen. Bei »Dancing with myself« befand sich die halbe Garde aus dem Golden Age der Spex entweder auf dem Podium oder im Publikum, Mark Terkessidis nannte sich dann selbst auch nur halb ironisch eine »reitende Leiche«, und allen war klar, dass sie sich große Mühe geben mussten, jetzt nicht in Nostalgie und eine »früher war alles besser«-Leier zu verfallen.
Wer jung ist, hat die Probleme der Alten wahrscheinlich gar nicht mehr. Plattensammlung als Ausdruck der eigenen Identität und Distinktionsbemühung fällt weg; was eine CD einmal war, weiß von den Jungen bald gar niemand mehr, die Wände daheim sind weiß, alles sieht so schön aufgeräumt aus. Manchmal träume ich davon, dass es bei mir auch so wäre.