Vertreibung, Erika Steinbach und Angela Merkel

Die Vertreibung der Frau Steinbach

Eine Stätte, die die Vertreibung der Deutschen dokumentiert, ist längst beschlossene Sache. Nur über Erika Steinbachs Rolle wird noch gestritten. Angela Merkel muss sich entscheiden, ob sie die Polen oder den BdV verärgert.

»Was haben die Polen bloß gegen diese Frau?« fragt die Bild-Zeitung. Es gibt noch immer Ver­suche, die polnischen Vorbehalte gegen die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen (BdV), ­Erika Steinbach, als »neurotische Polemik« (taz) abzutun. Gleichzeit kommt aber auch hierzu­lande langsam die Tatsache an, dass Steinbach im Nachbarland nicht grundlos über alle po­litischen Lager hinweg als untragbar gilt. Die Süddeutsche Zeitung schrieb etwa, Steinbach habe sich ihren schlechten Ruf in Polen »selbst erarbeitet«.

Der Streit war nur eine Frage der Zeit. Im Dezember beschloss der Bundestag die Einrichtung der »Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung«, wie die seit Jahren umstrittene Erinnerungsstätte für Flucht und Vertreibung nun heißen soll. Die Große Koalition und die FDP feierten die gefundene Einigung. Die Haltung der polnischen Regierung, sich nicht an dem Projekt beteiligen zu wollen, es aber auch nicht weiter zu blockieren, wurde als »Konsens mit den Nachbarn« dargestellt. Nur ein wichtiger Punkt wurde ausgeklammert: die Frage, ob Erika Steinbach, Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen (BdV), in den Rat der Stiftung berufen werden soll oder nicht (Jungle World 36/08). Der BdV hatte schon im April 2008 beschlossen, Steinbach nominieren zu wollen, und die CDU/CSU unterstützte das. Die SPD war gegen Steinbach, ebenso die polnische Regierung. In Polen gilt Steinbach partei­übergreifend als »Symbol für alles, das der polnisch-deutschen Versöhnung schadet«, wie der unabhängige Sejm-Abgeordnete Pawel Zalewski es kürzlich im Fernsehsender tvn24 formulie­rte.
Dies scheint die Bundeskanzlerin unterschätzt zu haben. Angela Merkels Strategie bestand offensichtlich lange Zeit darin, das Problem auszusitzen. Sie schien darauf zu spekulieren, dass entweder die SPD irgendwann ihren Widerstand ­gegen Steinbach aufgeben würde oder die Union nach den Bundestagswahlen nicht mehr auf die Unterstützung der SPD angewiesen wäre.
Zum Ausbruch gebracht hat den Streit der Beauftragte der polnischen Regierung für internationale Beziehungen, Wladyslaw Bartoszewski. Nach einem vertraulichen Gespräch mit Merkel am 16. Februar gab er sich in einem Interview mit der polnischen Tageszeitung Dziennik zuversichtlich, dass sich die Bundesregierung der hohen Bedeutung der deutsch-polnischen Beziehungen bewusst sei – im Klartext: dass auch Merkel auf Steinbach verzichten werde. Um seine Haltung zu bekräftigen, fügte Bartoszewski hinzu: Sollte Steinbach als Mitglied des Stiftungsrates benannt werden, sei das so, »als wenn der Vatikan den Holocaust-Leugner Richard Williamson zu seinem Beauftragten für die Beziehungen zu Israel machen würde«. Für diesen Fall behalte sich die polnische Regierung die Absage einiger für das Jubiläumsjahr 2009 geplanter deutsch-polnischer Veranstaltungen vor.

»Polen erpresst die Bundesregierung«, überschrieb der BdV eine Presseerklärung und gab offiziell die Nominierung Steinbachs für den Stiftungsrat bekannt. Die Welt warf Bartoszewski vor, Steinbach in die Nähe von Holocaust-Leugnern zu rücken. Der »vertriebenenpolitische Sprecher« der Unionsfraktion, Jochen-Konrad Fromme, sprach von einer »unerhörten Diffamierung, die geeignet ist, den deutsch-polnischen Beziehungen nachhaltig zu schaden«. Die SPD-Kandidatin für das Bundespräsidentenamt, Gesine Schwan, erklärte hingegen: »Ich sehe nicht, dass Frau Steinbach in das Amt kommt.« Daraufhin zeigte Fromme, was er unter Versöhnung versteht und warf Schwan vor, »die Interessen von Warschau zu vertreten«.
Interessant war die Reaktion der Bundesregierung. Diese wollte die Nominierung des BdV noch nicht einmal offiziell zur Kenntnis nehmen. Stattdessen betonte Regierungssprecher Ulrich Wilhelm, dass die Entscheidung über die Zusammensetzung des Stiftungsrats beim Bundeskabinett liege. Der BdV könne lediglich Vorschläge machen, aber auch diese müssten zuvor von Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) angefordert werden. Dies werde jedoch »ohne Zeitdruck« geschehen.
In den folgenden Tagen geriet Merkel mit ihrer Verschleppungstaktik in die Kritik. Der Außenminister und SPD-Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier, derzeit in regem Austausch mit seinem polnischen Kollegen Sikorski, forderte von Merkel eine schnelle Entscheidung gegen Steinbach. Aber auch der Vorsitzende der FDP, Guido Westerwelle, im Falle einer schwarz-gelben Koa­lition nach der Bundestagswahl als Nachfolger Steinmeiers gehandelt, schloss sich der Kritik an. Mittlerweile ist die CSU die einzige Partei, die Steinbach noch offen unterstützt.
Damit hat sich die Situation seit Dezember deutlich verändert. Steinbachs Strategie, den (innenpolitischen) Widerstand gegen ihre Person zu überwinden, scheint gescheitert. Merkel steht vor der Entscheidung, entweder eine ernsthafte Belastung der deutsch-polnischen Beziehungen zu riskieren oder sich dem Vorwurf nationalistischer Wähler auszusetzen, den Forderungen aus Polen nachgegeben zu haben.
Die polnische Regierung kann sich offenbar auf informelle Absprachen berufen, deren Einhaltung sie nun fordert. Nach seinem Wahlsieg En­de 2007 setzte sich Premier Donald Tusk für eine deutliche Verbesserung der deutsch-polnischen Beziehungen ein. Dazu gehörte auch, die deutschen Pläne für ein Vertreibungszentrum nicht länger zu blockieren. Dafür wurde – wie es derzeit scheint – der polnischen Seite zugesichert, dass Steinbach keine offizielle Rolle in der Stiftung spielen wird. Gerade im Jubiläumsjahr »Deutschland 2009« ist die Bundesregierung um ein gutes Verhältnis zu Polen bemüht, und eine Verschlechterung würde derzeit – anders als zur Regierungszeit von Jaroslaw Kaczynski – eindeutig der deutschen Seite angelastet.

Einen erneuten Beweis für ihre Haltung lieferte Steinbach in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Dort warf sie Bartoszewski vor, »Amok« gelaufen zu sein, und Polen, im Nationalismus zu verharren und am »Selbstbild des lupenreinen Opferstaates« festzuhalten: »Wir haben uns in Deutschland mit den Untaten unseres Landes beschäftigt, das fehlt noch bei unserem Nachbarland«, sagte Steinbach und setzte so implizit die Verbrechen des Nationalsozialismus mit der Vertreibung der Deutschen gleich. Bei ihrer Rede zum »Tag der Heimat« im September hatte Steinbach sogar von »Vernichtungslagern« und einem »Völkermord« an den Deutschen gesprochen.
Aber es geht um weit mehr, als eine Personalie. In der Mitte Berlins eine Dokumentationsstätte zu errichten, welche die deutschen Opfer in den Vordergrund stellt und damit konzeptionell stark an das ursprünglich von Steinbach geforderte »Zentrum gegen Vertreibungen« angelehnt ist, wird in Deutschland kaum noch in Frage gestellt. Ebenso wenig wird der Umstand kritisiert, dass der BdV im entsprechenden Aufsichtsgremium so stark vertreten sein soll wie kein anderer Verband. Die gegenwärtige Debatte zeigt nicht mehr und nicht weniger, als dass Steinbach der Staatsräson geopfert werden könnte. Die »Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung« ist jedoch weit davon entfernt, dem Anspruch in ihrem Namen gerecht zu werden.