Hindu-Nationalisten gehen in Indien gegen Pärchen vor

Rosa Slips für die Sittenwächter

In vielen indischen Städten gehen hindu-nationalistische Gruppierungen brutal gegen »unsittliches Verhalten« vor. Vor allem Pärchen, die sich in der Öffentlichkeit zeigen, oder Frauen, die in Kneipen gehen, werden von den selbsternannten »Hütern der indischen Kultur« angegriffen. Einige Studenten versuchen nun, sich gegen den Moralterror zu wehren.

Sie hatten dem Valentinstag den Krieg erklärt. Die Hindu-Nationalisten in Hyderabad wollten aus dem 14. Februar eine Art Judgment Day machen, doch dazu kam es nicht. Ihre Kampagne zum »Erhalt der indischen Kultur« in Hyderabad endete ohne die im Vorfeld angekündigten Un­terbindungen »unmoralischer Handlungen« in der Öffentlichkeit und ohne die Zwangsverhei­ratung junger Paare, die es wagten, sich am Valentinstag zusammen in der Öffentlichkeit zu zeigen. Lediglich ein paar Grußkarten mit roten Herzchen konnten die etwa 50 Anhänger der hindu-nationalistischen Gruppe Barjang Dal im pulsierenden Geschäftsviertel Kothi in Hyderabad zerreissen, bevor die Polizei die lärmende Menge in Busse beförderte und für den Rest des Tages in Gewahrsam nahm.
Seit Ende Januar wird in Indien über »das moralische Fundament der Nation und die Eck­pfeiler der Kultur« diskutiert. Ausgelöst wurde die Debatte durch ein Amateurvideo, das von den meisten nationalen Nachrichtensendern ausgestrahlt wurde. Die Aufnahmen zeigen eine Gruppe von Männern, die in eine Kneipe stürmen, junge Frauen hinauszerren und sie misshandeln. Immer wieder schlagen die Anhänger der bis dahin relativ unbekannten Gruppierung Sri Ram Sena auf die Besucherinnen des Lokals ein, zerren sie zu Boden und treten auf sie ein. Ort des Geschehens: Mangalore im Bundesstaat Karnataka.
»Wir verurteilen die Kneipenkultur, und wir ­respektieren Frauen«, kommentierte der Sri Ram Sena-Sprecher Pramod Muthalik die brutale Ak­tion. Zwar entschuldigte er sich für das »harsche Vorgehen« der eigenen Anhänger, aber die Maßnahme sei »zum Schutz der Frauen und unserer Hindu-Kultur« notwendig gewesen.
Übergriffe von selbsternannten Hütern der Moral sowie von regulären Polizisten werden in in­dischen Tageszeitungen immer wieder erwähnt, in der Regel aber als Randnotizen. Dieses Mal aber löste die dokumentierte Brutalität der Hindu-Nationalisten eine Welle der Empörung aus. Einige Beobachter sprechen sogar offen von einer »Talibanisierung« der Verhältnisse im südindischen Bundesstaat
Die Gewalt extremistischer Gruppen in Karnataka nimmt seit dem Wahlsieg der hindu-nationalistischen BJP im Mai vergangenen Jahres kontinuierlich zu. So wurden Studentenpartys eben­so angegriffen wie ein Schulbus, der hinduistische und muslimische Schülerinnen und Schüler auf einer Klassenreise fahren sollte. Immer wieder verprügeln Hindu-Nationalisten junge Männer und Frauen, die spazieren gehen oder sich im Bus unterhalten.
Angesichts des zunehmenden öffentlichen Drucks nach der Attacke in Mangalore kam der Ministerpräsident von Karnataka, B.S. Yeddyurappa, um eine Stellungnahme nicht umhin. Wie in anderen Fällen politischer Gewalt durch hindu-nationalistische Gruppen verurteilte der BJP-Sprecher zwar die »Exzesse«, verortete die Ur­sache des Konflikts aber in vermeintlichen »un­indischen Traditionen«, womit das Verhalten von »Muslimen, Christen, selbstbewussten Frauen« gemeint ist. So kritisierte Yeddyurappa auch diesmal pflichtbewusst das Vorgehen der Sri Ram Sena, nur um unmittelbar danach fest­zustellen, dass es höchste Zeit sei, »entschieden gegen die unmoralische Kneipenkultur vorzugehen«.

Am Valentinstag trinken Padmaja und ihr Freund Suresh einen Kaffee in der Barista-Filiale in ­Hyderabads modernem Suburb Hitec City. Beide sind Anfang zwanzig und haben sich an der Uni kennengelernt. »Die BJP und die anderen Gruppen haben ihre Meinung, und ich habe meine. Das ist auch kein Problem für mich, solange diese Hindu-Nationalisten nicht gewalttätig werden«, kommentiert Padmaja die Vorfälle.
Die gegenwärtige Kampagne hat auch bei den beiden angehenden Software-Entwicklern Wirkung gezeigt. »Hier im Stadtteil mache ich mir keine Sorgen, vor allem nicht in Cafés und Einkaufszentren. Aber in die Altstadt oder in Parks würde ich heute nicht gehen«, sagt Padmaja. »Generell können wir uns zusammen frei bewegen und gemeinsam ausgehen«, fügt ihr Freund Suresh hinzu. Ihre Familien bezeichnen die beiden zwar als »liberal«, von ihrer Beziehung erzählen sie zuhause jedoch lieber nichts.
Aktionen zum »Erhalt der kulturellen Identität« am Valentinstag finden bereits seit vielen Jahren in Indien statt. Dabei wird die Gewalt der Hindu-Nationalisten immer wieder von Anhängern ­einiger muslimischer Gruppen unterstützt, die ihrerseits gegen vermeintliche »Symbole der westlichen Kultur« vorgehen. Dieses Jahr aber galt die volle Aufmerksamkeit den hindu-nationalistischen Gruppen, vor allem der Sri Ram Sena, deren Aktionsradius sich derzeit auf Karnataka beschränkt. Die Jugendorganisation des Welt-Hindu-Rates VHP, die Barjang Dal, ist dagegen in fast allen Bundesstaaten vertreten, auch in Hyderabad, der Hauptstadt Andhra Pradeshs.
Hier veröffentlichte die Gruppe einen Tag vor dem 14. Februar eine Kontaktnummer für Journalisten. Die Agenda der Gruppe skizziert der Ansprechpartner der Barjang Dal am Telefon mit wenigen Worten: »Warum sollten wir den Valentinstag feiern? Dafür gibt es keine wissenschaft­liche Grundlage! Diese westliche Kultur ist schlecht für die Frauen und gegen unsere Tradition gerichtet. Wir in Hindustan haben die beste Kultur der Welt!« Die Stimme wirkt ungeduldig und aufgebracht. Seinen Namen will er nicht nennen. Am Ende des Gesprächs nennt er noch einen Treffpunkt für den Valentinstag und legt auf. Zu einem Treffen kam es aber nicht. Für die meisten Barjang Dal-Aktivisten endete der Tag frühzei­­tig in der Zelle. Auch in Karnataka nahm die Polizei nach Angaben der Times of India 350 Hindu-Aktivisten in Gewahrsam.
In mehreren Städten Indiens kam es dennoch zu Vorfällen. Junge Pärchen wurden auseinandergetrieben, Valentinstagsfeiern gestürmt, Blumenstände attackiert. Anders als in Hyderabad unterstützten Polizisten die hindu-nationalistischen Gruppen in etlichen Städten und verhaf­teten bereitwillig junge Pärchen, die händchenhaltend spazieren gingen. In mehreren Städten gab es Verletzte und sogar erzwungene Heiratszeremonien in Tempeln.
»Ich denke, die meisten Inder lehnen die extreme Gewalt von Sri Ram Sena und anderen Gruppen ab. Aber gleichzeitig empfinden viele eine gewisse Sympathie für solche Aktionen«, sagt Rajeev. Der 21jährige Jurastudent verbringt den Valentinstag am Ufer des großen Sees in der Stadtmitte. Auf der Promenade tummeln sich normalerweise an Wochenenden Hunderte Pärchen, die allerwenigsten trauen sich jedoch, sich offen als solche zu zeigen. Am Valentinstag ist es hier auffällig leer. Rajeev ist einer der Ini­tiatoren der Pink-Chaddi-Kampagne.
Sie wurde nach dem Angriff auf die Frauen in Mangalore von einigen Studenten initiiert, die zunächst eine Gruppe auf Facebook einrichteten. »Seit der Gründung Anfang Februar hat unsere Gruppe ›Consortium of Pub-Going, Loose and Forward Women‹ 31 888 Mitglieder gewinnen können«, erzählt Rajeev. »Die Kampagne ruft dazu auf, dem Chef der Sri Ram Sena rosa Unterwäsche zu schicken und massenhaft in Kneipen zu strömen. Wir wollen provozieren, aber gleichzeitig ist uns das Anliegen sehr ernst.« Die kürzlich gegründeten Protestgruppen, die aus Sorge vor Angriffen kaum öffentlich auftreten, werden hauptsächlich von Frauen und Männern aus der gebildeten Mittelschicht getragen.
»Den Hindu-Nationalisten geht es nicht primär um indische und westliche Kultur. Sie wollen einfach nicht akzeptieren, dass Frauen sich ihre Freiheiten nehmen«, meint Preeti bei einem Spaziergang mit Rajeev am Seeufer entlang. Ein Liebespaar sind die beiden Jurastudenten zwar nicht, dennoch ziehen sie viele Blicke auf sich. »Natürlich erlebe ich ständig eve-teasing. Unangenehme Blicke, obszöne Bemerkungen, und, vor allem in Bussen, immer wieder landen Hände auf meinem Hintern«, erzählt Preeti. Das sei Alltag für sie sowie für viele ihrer Freundinnen.
Eve-teasing hat sich in Indien als allgemeine Bezeichnung für sexuelle Belästigungen verbaler und körperlicher Art etabliert. Und gerade das virulente Problem der tagtäglichen Übergriffe auf junge Frauen dient Hindu-Nationalisten als Argument, gegen die sogenannte Kneipenkultur zu agitieren. Dabei geht es jedoch in erster Linie nicht um die Wahrung der eigenen Traditionen sondern primär um die Furcht vor der Veränderung bestehender Macht- und Geschlechterverhältnisse. Die unterschiedlichen Ausprägungen des Hindu-Nationalismus formulieren zwar teilweise regressive Antworten auf vermeintliche Herausforderungen der Moderne. Eine originär antimoderne Bewegung stellen die Saffran-Glaubenskrieger trotz ihres kulturalistischen Verständnisses aber nicht dar. Denn Rauchen, Alkohol und westliche Kleidung identifizieren sie als Resultat des »verkommenen westlichen Einflusses« nur, wenn es um Frauen geht.
Ihr Diskurs reflektiert eine anhaltende Ver­unsicherung weiter Teile der indischen Gesellschaft, vor allem der indischen Männer. Die zunehmen­de Urbanisierung und Modernisierung der Arbeitsverhältnisse hat in den vergangenen Jahren zu gravierenden Veränderungen der sozialen Verhältnisse geführt. Die Konfrontation mit anderen kulturellen Normen und Werten durch mediale Einflüsse und durch Migration führte wiederum zu Reflexionen der eigenen Kultur und Lebensweise, die sowohl in öffentlichen Debatten als auch im familiären Rahmen stattfinden.
Einige Gesetze sorgten in den vergangenen Jahrzehnten für Verbesserungen der Situation der Frauen. Zumindest auf dem Papier. Nach wie vor sind aber Orte, an denen sich Frauen ohne Sorge vor Belästigungen bewegen können, eher die Ausnahme. Ihre Präsenz im öffentlichen Leben ist immer noch begrenzt. Zwar wird Frauen, die sich gegen die patricharchalen Strukturen wehren, zunehmend Aufmerksamkeit entgegengebracht. Aber meistens gelten Frauen in Indien nach wie vor als »Bewahrerinnen der Traditionen« der patriarchalen Gesellschaft.
Viele Mädchen werden auf ihre Rolle als Ehefrauen von der Kindheit an vorbereitet. Mit männlichen Verwandten oder gar Unbekannten zu sprechen gilt als »unzüchtig« ebenso wie zu schnelles Gehen, lautes Lachen oder Gestikulieren. Ein schüchternes Auftreten steht für Tugendhaftigkeit und einen guten Charakter. Verschiedene Hindu-Mythen werden im patriarchalen Diskurs dieser Rollenzuschreibung zugrunde gelegt und von fast allen Strömungen des Hinduismus geteilt, die die indische Ge­sellschaft maßgeblich prägen. Propagiert wird zum Beispiel, dass Frauen ihren Ehemännern strikte sexuelle Treue erweisen und ihre eigenen Bedürfnisse dem Wohlergehen des Mannes und dessen Familie unterordnen. In einem der wichtigsten indischen Epen, dem »Mahabharata«, formuliert die Göttin Uma den Verhaltenskodex für indische Frauen. Darin heißt es unter anderem: »Der Ehemann ist der Gott der Frau. Die Unterwerfung ist die Pflicht der Frau, es ist ihre Buße.« Auch der Mythos der »angeborenen Unreinheit« der Frau, der auch in den monotheis­tischen Religionen vorkommt, prägt in Indien das soziale Verhalten. So dürfen menstruie­rende Frauen weder in die eigene Küche noch in den Tempel, geschweige denn ihrem Ehemann zu nahe kommen. Gleichzeitig speist sich aus dieser »Unreinheit« in der Vorstellung vie­­ler gläubigen Hindus eine besondere göttliche Kraft, die sogenannte sakti. »Weil Frauen diese Kraft haben, können sie vergöttlichte Heilerinnen, starke Politikerinnen wie Indira Gandhi oder mutige Bandenführerinnen wie Phoolan Devi sein«, stellt Axel Michaels fest, Hinduismus-­Forscher von der Universität Heidelberg. »Eine Frau in Indien kann das Spannungsfeld zwischen Erniedrigung und Überhöhung kaum verlassen«, sagt er.

Mitten im chaotischen Verkehr Hyderabads analysiert der Taxifahrer Suhas die Situation denkbar eindeutig: »In unserer Kultur gehen die Frauen zum Tempel und sind ansonsten zuhause.« Auf dem Weg zu dem Durgan Cherru Park legt der Endzwanziger mit dem dichten Schnurrbart seine Position zur Valentinstag-Problematik dar. Die Gewalt von Sri Ram Sena und anderen Extremisten lehnt er zwar ab. Aber Frauen, die in Kneipen gehen und Alkohol trinken? Alleine der Gedanke beunruhigt den gläubigen Hindu sichtlich. Was aber versteht er unter »züchtigem Verhalten in der Öffentlichkeit«? Der Fahrer ist unentschlossen. »Liebe ist nichts Falsches«, meint Suhas spontan. Nach längerem Überlegen wechselt er schließlich das Thema.
Genau wie der Taxifahrer scheint sich auch die Exekutive Indiens nicht ganz klar darüber zu sein, wie »unzüchtiges Verhalten in der Öffentlichkeit« zu definieren sei. Ein entsprechendes Gesetz des Indian Penal Code lässt viel Spielraum für Interpretationen. An der eigenständigen Auslegung des Gesetzes durch moralisch motivierte Polizisten werden vermutlich auch entsprechende Urteile des Obersten Verfassungsgerichts nichts ändern. Anfang Februar wurde beispielsweise ein verheiratetes Paar freigesprochen, das wegen »Küssens in der Öffentlichkeit« angeklagt worden war.
Gewöhnlich ist der Durgan Cherru Park in Hyderabad ein beliebter Treffpunkt für junge Paare. Am Valentinstag werden wegen befürchteter Übergriffe aber nur Familien mit Kind und Männer ohne Begleitung von der Security hereingelassen.
Im Gegensatz zu den Parks sind die Kneipen und Clubs Hyderabads am Abend des 14. Februar gut gefüllt. In dem angesagten »Fusion 9« sorgen gedämpfte Beleuchtung und Elektro-Beats für eine entspannte Atmosphäre. Frauen mit einem Drink in der Hand werden hier nicht schräg angeschaut. Preeti hat es sich mit einem Campari auf einer Couch bequem gemacht. »Natürlich ist das hier nur für einen kleinen Teil der Inderinnen möglich. Aber ich hoffe, dass unsere Aktion zu mehr persönlichen Freiheiten für Frauen und Mädchen führt. In den Städten und in den Dörfern.«
Von den Designer-Sofas dieser Lounges bis in die Hütten des ländlichen Indiens ist es jedoch ein langer Weg. Aber auch dort gibt es immer mehr Frauen, die gegen die patriarchalen Strukturen aufbegehren. Doch es sind vor allem Männer, die über Normen und Werte debattieren. Es geht um Macht, Privilegien und identitäre Bedrohungen für Millionen indische Männer. Deren Mehrheit betrachtet Frauenkörper nach wie vor als ein zu kontrollierendes Territorium. In diesem Punkt besteht damit traute Einigkeit zwischen Hindus und Muslimen in Indien. Aber auch in Sachen Geschlechterverhältnisse gilt: Verallgemeinernde Aussagen werden der komplexen Wirklichkeit nicht gerecht. Die unterschiedlichsten Menschen untergraben in Indien tagtäglich die bestehenden Machtverhältnisse ­zwischen Männern und Frauen. In den Dörfern, in den Slums und auch in den Clubs. Tiefgrei­fende Veränderungen verspricht das zwar nicht, ebenso wenig aber die Beibehaltung des Status quo. Von den ausgehfreudigen Studentinnen könnte tatsächlich ein Impuls in andere Teile der Gesellschaft aus­gehen. Preeti geht zumindest erstmal tanzen. Zu Hindi-Pop und US-amerikanischen Rap.