Krämer und Groschenzähle

Deutschland und Österreich befürchten eine allzu rasche EU-Erweiterung nach Osten. Vor allem Beitrittskandidat Polen ist enttäuscht

Im Hauptquartier der EU-Kommission in Brüssel herrschte reger Verkehr, als vergangene Woche die Außenminister von sechs EU-Beitrittskandidaten beim derzeitigen EU-Ratsvorsitzenden Wolfgang Schüssel vorstellig wurden. Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien, Estland und Zypern wollen endlich mit den Beitrittsverhandlungen beginnen. Mit jedem der Minister wurden Einzelgespräche geführt, anschließend absolvierte der intellektuell harmlose Schüssel ebenso harmlose Pressekonferenzen mit seinen Gästen. Tenor: Alles in Ordnung. Lächelnde Minister kamen, lächelnde Minister gingen. Doch hinter den Kulissen herrscht keineswegs Einigkeit.

Schon in den vergangenen Monaten wurden jene Mißverständnisse zwischen EU und Beitrittsbewerbern offensichtlich, die nun erst einmal mühselig ausgeräumt werden müssen. Die Bewerber meinten, ihre Verhandlungspositionen zu stärken, indem sie im Vorfeld der Gespräche ein beschleunigtes Tempo für die Erweiterung vorschlugen, was in Brüssel blankes Entsetzen hervorrief: Zwischen dem Jahr 2000 und 2002 wolle man die 15 EU-Staaten mit der eigenen Anwesenheit beehren. Besonders euphorisch war Polen, wo der ehemalige Vorsitzende des EU-Integrationskomitees seinen Posten räumen mußte, weil er öffentlich äußerte, daß es vor dem Jahr 2006 wohl nichts mit dem Beitritt werden würde.

Tatsächlich scheint der Termin zum Jahr 2002 reichlich optimistisch: Selbst die politisch und wirtschaftlich wesentlich besser vorbereiteten Staaten der letzten Erweiterungsrunde, Schweden, Finnland und Österreich, brauchten 18 Monate, um sich in die Union hineinzuverhandeln.

Bei den osteuropäischen Bewerbern liegt die Sache noch komplizierter: Tschechien, Ungarn, Slowenien und Estland haben noch nicht einmal 50 Prozent der EU-Rechtsvorschriften übernommen. Zypern wiederum gilt als Sonderfall, weil die EU darauf Wert legt, keine geteilte Insel in die Union aufzunehmen und andererseits eine Vereinigung Zyperns unter griechischer Vorherrschaft völlig unrealistisch erscheint.

Die Voraussetzungen der einzelnen Beitrittskandidaten sind derzeit noch sehr unterschiedlich: Polen hat sich wirtschaftlich gut entwickelt, es mangelt aber an der Übernahme von EU-Recht. Ebenso eifrig war Slowenien, allerdings steht dort der bisherige Verzicht auf eine Mehrwertsteuer dem Beitritt im Wege. Tschechien und Ungarn dagegen sind wirtschaftlich von Musterschülern zu Nachzüglern geworden. Estland hält sich bis jetzt noch am besten.

Der erste Teil der Beitrittsverhand-lungen wird relativ einfach zu bewältigen sein; Randthemen wie Medien und Telekommunikation sollten bis Jahres-ende abgehandelt werden können. Schwieriger wird es im nächsten Jahr: Dann stehen Themen wie Landwirtschaft, Regionalhilfen, Freizügigkeit und der gemeinsame Arbeitsmarkt auf dem Programm. Außerdem müssen die Kandidaten bis zur Aufnahme noch insgesamt 14 000 EU-Rechtsakte auf 80 000 Textseiten in ihre Rechtsprechung übernehmen.

Insbesondere Polen stand in den vergangenen zwei Wochen im Mittelpunkt der Bemühungen um eine EU-Expansion. Bundeskanzler Gerhard Schröder besuchte seinen Amtskollegen Jerzy Buzek, um mit ihm über gemeinsame Sprachregelungen in Sachen Beitritt zu beraten. Doch dabei prallten die polnische und die deutsche Seite aufeinander. Schröder verriet, er habe "nicht die Phantasie seines Amtsvorgängers, ein konkretes #Beitrittsdatum zu nennen". Helmut Kohl hyperventilierte regelmäßig bei dem Gedanken an einen EU-Beitritt Polens im Jahre 2000. Schon am Rande des informellen EU-Gipfels im österreichischen Pörtschach bremste Schröder allzu hohe Erwartungen der EU-Bewerber, indem er meinte, man solle sich keine Illusionen über einen raschen Beitritt machen.

Doch selbst wenn der Beitritt einmal geschafft ist, wird es lange dauern, bis Zusammenwächst, was laut Warschau auch zusammengehört. In einigen Bereichen besteht die EU auf langen Übergangszeiten. So soll die Freizügigkeit bei Arbeitskräften nicht sofort durchgesetzt werden. Dies vor allem mit Rücksicht auf die unmittelbar an die Neulinge grenzenden EU-Staaten Deutschland und Österreich, die schon jetzt vor einer riesigen Migrationswelle zittern. So wurden in Österreich Studien angefertigt, die wahre Horror-Szenarien zum Inhalt haben: Wenn die Übergangsfristen zu kurz wären und schon ab 2005 osteuropäische Arbeitskräfte ohne Beschränkung nach Österreich kommen könnten, würde die Arbeitslosenrate auf traumatische zwölf Prozent steigen. Wegen demographischer Änderungen würde aber eine Beschränkung bis zum Jahre 2011 reichen, denn dann benötigt Österreich wieder ausländische Arbeitskräfte.

Polens Präsident Aleksander Kwas-niewski hatte auf derartige Bedenken des österreichischen Bundeskanzlers Viktor Klima in Warschau in der Vorwoche eine überzeugende Antwort parat: Polens Wirtschaft floriere derartig gut, daß sich "das Migrationsproblem umkehren wird" und der polnische Arbeitsmarkt Gastarbeiter aus dem Westen anziehen werde. Schade nur, daß Kwasniewskis Prophezeiung von polnischen Wirtschaftsforschern tags darauf ins Reich der Phantasie verbannt wurde: Polens Wirtschaftsdaten für das Jahr 1999 sehen düster aus. Die Wachstumsprognose mußte von 6,1 Prozent im Juli auf fünf Prozent korrigiert werden.

Eine weitere Hürde für die Aufnahme in die Union ist die polnische Landwirtschaft. Trotz starken Drucks widersetzten sich die mit ihrer Scholle eng verbundenen polnischen Bauern 40 Jahre lang der Kollektivierung und bewirtschaften bis heute ihre kleinen Höfe. Jeder vierte Pole verdient sich seinen Lebensunterhalt mit der Landwirtschaft, nur sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts des Landes kommen aber aus dem Agrarsektor. Mit dem Beitritt werden den polnischen Bauern nur zwei Möglichkeiten bleiben: Entweder sie finden eine wirtschaftliche Nische, oder sie lassen sich im gemeinsamen Markt kollektivieren und schließen sich zu größeren Produktionseinheiten zusammen. Schließlich hat Brüssel keine Lust, mit ihren Subventionen eine unproduktive Agrarwirtschaft aufrechtzuerhalten. Das würde zuviel kosten: Laut Schätzungen rund 20 Milliarden Mark jährlich.

Um hier billiger wegzukommen, tritt die EU erstmal zur Selbstverjüngung an. Die "Agenda 2000" soll dazu dienen, die gemeinsame Agrarpolitik und besonders die Vergabe von Beihilfen neu zu regeln. Auch die Organisationsstruktur der Union muß neu erfunden werden: Bei den im Idealfall 21 Mitgliedern sind die derzeitigen Entscheidungsstrukturen vollkommen überfordert. Auch deshalb müssen die Brüder und Schwestern aus dem Osten erst einmal warten. Wenn die Bewerber einmal mitbekommen haben, daß die EU nicht bloß der politische und wirtschaftliche Gegenpol zur Lethargie der letzten 40 Jahre ist, könnte ein neues - psychologisches - Problem auftauchen.

Die EU könnte leicht Gefahr laufen, von den Beitrittswilligen als Verein der Krämerseelen und Groschenzähler entlarvt zu werden. Schließlich konzentriert sich besonders Polen darauf, das Recht einer Aufnahme einzuklagen und hier besonders Deutschland in die Pflicht zu nehmen. Polens Außenminister Bronislaw Geremek, ein ehemaliger Profi-Dissident und Denker, beginnt jetzt schon zu ahnen: "Deutschland ist verantwortlich für das 20. Jahrhundert. Das Problem ist, daß jetzt in allen Parteien eine Generation an die Macht kommt, die diese Verantwortung nicht mehr verspürt."