Neue Dokumente im Fall Bavaud

Grüezi, Herr Reichskriminaldirektor!

Der Schweizer Maurice Bavaud versuchte 1938, Hitler zu töten, und wurde dafür 1941 in Deutschland hingerichtet. "Ganz in der Ordnung", fanden Schweizer Behörden, wenn solche Leute ihre "gebührende Strafe" erhielten. Und deswegen nahm die eidgenössische Bundespolizei der Gestapo auch ein bißchen Arbeit ab.

Vor ein paar Wochen sind im Schweizerischen Bundesarchiv neue Akten zugänglich geworden, über deren Bedeutung noch diskutiert werden muß, die aber nahelegen, daß die Zusammenarbeit der Schweizer Bundespolizei mit der Gestapo in Nazideutschland wesentlich weiter ging und reibungsloser funktionierte, als man bisher dachte oder zu denken veranlaßt war. Die neuen Dokumente betreffen den Schweizer Bürger Maurice Bavaud aus Neuch‰tel, der im Mai 1941 in Berlin-Plötzensee geköpft worden ist, sowie seinen französischen Schulfreund aus dem katholischen Internat Saint-Ilan in Nordwestfrankreich, Marcel Gerbohay, dessen Hinrichtung im April 1943 stattfand, ebenfalls in Plötzensee und auf dem Schafott.

Aus den bisher unveröffentlichten Akten geht hervor, daß die Bundespolizei im Frühjahr 1940 in Sachen Bavaud und Gerbohay ermittelte und ihre Resultate im Juli 1940 der Gestapo übersandte - mit den besten Empfehlungen aus Bern an die nationalsozialistische Mörderpolizei bzw. mit der Formulierung: "Genehmigen Sie, Herr Reichskriminaldirektor, die Versicherung unserer vorzüglichen Hochachtung" -, dies zu einem Zeitpunkt, als Bavaud bereits in der Todeszelle saß und seine Familie in Neuch‰tel weder von der genauen Anklage noch von der Verurteilung etwas wußte.

Maurice Bavaud hatte im Herbst 1938 einige erstaunliche Versuche unternommen, den deutschen "Führer" und Reichskanzler Adolf Hitler zu töten. Obwohl er kein Deutsch sprach, war er nach Deutschland gefahren und dem Diktator zuerst nach Berlin, dann nach Berchtesgaden und nach München hinterhergereist, mit einer geladenen

kleinen Pistole und einem gefälschten Empfehlungsschreiben in der Tasche. Er wurde zwar nie zu Hitler vorgelassen, doch in München kam er am 9.November 1938 immerhin so nahe an ihn heran, daß er vielleicht hätte schießen können, wenn er eine bessere Waffe besessen, wenn er sich als Pazifist aufs Erschießen von Diktatoren besser verstanden oder wenn er auch nur mehr Glück gehabt hätte.

So jedenfalls sah es die Gestapo, so sah es Hitler selber, und so sah es der nationalsozialistische Volksgerichtshof in Berlin, der das Todesurteil gegen Bavaud am 18.Dezember 1939 fällte.

Die Geschichte Maurice Bavauds wurde schon einige Male erzählt. Jedesmal etwas anders. Es gibt mehrere Bücher über Bavaud: von Rolf Hochhuth ("Tell 38", 1979), von Niklaus Meienberg ("Es ist kalt in Brandenburg. Ein Hitler-Attentäter", 1980) und von Klaus Urner ("Der Schweizer Hitler-Attentäter. Drei Studien zum Widerstand und seinen Grenzbereichen", 1980). Es gibt auch einen Film, den Villi Hermann, Niklaus Meienberg und Hans Stürm gemeinsam drehten ("Es ist kalt in Brandenburg [Hitler töten]", 1980). Einzelne Autoren dieser Bücher und des Filmes haben sich vor zwanzig Jahren befehdet und einander unredliche oder ideologisch einseitige Arbeitsweisen vorgeworfen. Klaus Urner zum Beispiel richtete solche Vorwürfe gegen Hochhuth, Meienberg, Stürm und Hermann; Niklaus Meienberg wiederum richtete ähnliche Vorwürfe gegen Urner.

Die noch lebenden vier Geschwister von Maurice Bavaud sind auf Klaus Urner seither sehr schlecht zu sprechen, denn Urner vertrat damals in seinem ausführlich recherchierten Buch die Ansicht, Bavaud sei eigentlich gar kein politischer Attentäter gewesen, sondern ein Verrückter, der als Marionette seines ebenfalls verrückten Mitschülers Marcel Gerbohay handelte, den er für einen Verwandten des letzten russischen Zaren gehalten habe. Nach dieser Theorie, die sich immerhin auf gleich lautende Angaben Bavauds und später Gerbohays in Gestapo-Verhören stützt, wollte Gerbohay den "Führer" umbringen lassen, weil dieser nach dem Münchner Abkommen 1938 "in seiner großen Friedensliebe" nicht sofort in die Sowjetunion einmarschiert war, um dort den Kommunismus und das Judentum zu vernichten.

Niklaus Meienberg dagegen berief sich in seinem Buch wie im Film, statt auf die Verhör-Akten der Gestapo mehr auf die Aussagen Bavauds im Prozeß vor dem Volksgerichtshof am 18.Dezember 1939: In jener Verhandlung ließ der Schweizer Priesterschüler nach mehr als einem Jahr Einzelhaft laut Gerichtsprotokoll "alle diese Mystifikationen fallen" und erklärte, er habe den Plan, Adolf Hitler zu töten, "allein aus sich selbst heraus gefaßt". Die "Persönlichkeit des Führers und Reichskanzlers", sagte Bavaud, halte er "für eine Gefahr für die Menschheit, vor allem auch für die Schweiz, deren Unabhängigkeit der Führer bedrohe. Vor allem aber seien kirchliche Gründe für seine Tat bestimmend gewesen; denn in Deutschland würden die katholische Kirche und die katholischen Organisationen unterdrückt und er habe daher geglaubt, mit seiner geplanten Tat der Menschheit und der gesamten Christenheit einen Dienst zu erweisen."

Niklaus Meienberg war nach seinen, mit Hermann und Stürm angestellten, ebenfalls ausführlichen Recherchen der Meinung, Maurice Bavaud sei durchaus bei Sinnen gewesen, nichts deute auf eine krankhafte geistige Störung hin. Zwar verband ihn mit Marcel Gerbohay eine intensive Schülerfreundschaft, zwar durchlebte Gerbohay im Internat Saint-Ilan immer wieder Krisen und litt an Somnambulismus; nachts im Traum sprach er scheinbar russisch, und tatsächlich hatte er eine Zeitlang behauptet, er sei ein Nachkomme des Zaren (nach der Besetzung Frankreichs soll er sich auch als illegitimer Sohn General de Gaulles ausgegeben haben). Doch Bavaud sei nicht so einfältig gewesen, glaubte Meienberg, daß er aufgrund der Schimäre eines anderen und in blindem, ferngesteuertem Gehorsam - wie Arnold Schwarzenegger als "Terminator" quasi - nach Deutschland gereist wäre, zumal er ja dann vor Gericht plötzlich sehr rationale, auch heute noch leicht nachvollziehbare und eigenständige Motive für die Ermordung Hitlers angeben konnte.

Den Geschwistern Maurice Bavauds gefiel dieses Bild des Attentäters natürlich besser als jenes, das Urner zeichnete und das, wie sie heute noch detailreich erzählen, ganz und gar den erinnerten Charakterzügen des Bruders widerspricht. Dennoch, als Maurice Bavaud ein paar Monate nach der Verurteilung glaubte, am nächsten Tag hingerichtet zu werden, kam er in einem von der Gestapo dann zurückbehaltenen Abschiedsbrief an seine Familie auf die Geschichte mit dem Auftraggeber zu sprechen und gab sich, wie zu Beginn der Verhöre durch die Gestapo, als Gehilfe eines weitaus wichtigeren Mannes aus, wobei er erst jetzt überhaupt den Namen und angeblichen Titel seines Meisters nannte (Gerbohay alias Großfürst Dimitri von Romanov-Holstein-Gottrop) und in den sofort wieder einsetzenden Verhören auch einige Zeugen in der Schweiz erwähnte, die über Marcel Gerbohay aus gemeinsamer Internatszeit Auskunft geben könnten.

Hier setzte die Zusammenarbeit der Schweizerischen Bundesanwaltschaft mit der Gestapo ein: Die Hinrichtung in Plötzensee wurde sistiert, Maurice Bavaud, der vielleicht wie sein Vater in Neuch‰tel hoffte, daß ihn die Schweizer Behörden doch noch retten könnten, erhielt einen Aufschub. Ein gewisser Reichskriminaldirektor Müller verfaßte am 3. April 1940 in Berlin einen Brief nach Bern, der in dem jetzt zugänglichen Bundesanwaltschafts-Dossier enthalten ist: "Sehr geehrter Herr Oberst!

Wie Ihnen bereits bekannt, wurde der Schweizer Staatsangehörige Maurice Bavaud, 15.1.16 in Neuch‰tel geboren, am 18.12.39 vom Volksgerichtshof wegen Verbrechens gegen ¤ 5 Ziff. 1 der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat vom 28.3.33 (RGBI. I.S. 83) zum Tode verurteilt. Dem Urteil liegt folgender Tatbestand zugrunde: Bavaud ist im Ermittlungsverfahren und in der Hauptverhandlung überführt und hat auch gestanden, am 9. und 11.11.38 in München es unternommen zu haben, den Führer und Kanzler des Deutschen Reiches zu töten. In beiden Fällen ist die Vollendung der Tat durch äußere, von Bavauds Willen unabhängige und ihm höchst unerwünschte Umstände verhindert worden."

Wie gesagt, die Familie in Neuch‰tel war über das Todesurteil gegen Maurice Bavaud noch nicht informiert, sie wußte nur von seiner Inhaftierung wegen irgend einem politischen Delikt. Der Familie Bavaud - sein Vater war Postbeamter, seine Mutter betrieb einen Lebensmittel-Laden - wurde das Urteil vom Eidgenössischen Politischen Departement EPD, dem heutigen EDA, seit Anfang des Jahres in lügenhaften Briefen verheimlicht, weil man befürchtete, daß die Angelegenheit in die Öffentlichkeit gelangen und allfällige Zeitungsberichte das Reich verärgern könnten.

Der Schweizer Gesandte in Berlin, Minister Hans Frölicher, weigerte sich, für den Häftling nachhaltig zu intervenieren, dessen Absichten dieser Gesandte in einem internen Schreiben als "verabscheuungswürdig" bezeichnete. Im Januar 1940 empfahl Frölicher den deutschen Behörden zwar beiläufig, die Exekution nicht zu vollstrecken, aber ein formelles Begnadigungsgesuch wollte er nicht stellen. Die Deutschen konnten mit gutem Grund darauf vertrauen, daß die Schweiz gegen eine Hinrichtung nie protestieren würde.

Am 3.April schrieb Reichskriminaldirektor Müller in seinem Brief weiter: "Trotz seines umfassenden Geständnisses hat sich Bavaud über die Gründe, die ihn zur Tat veranlaßt haben, nicht klar und erschöpfend geäußert. Erst unter dem Eindruck der gegen ihn verhängten Todesstrafe hat er seine bisherigen Aussagen ergänzt und über das Motiv und die wahren Gründe zur Tat wie folgt ausgesagt (...) "

Bei diesem Reichskriminaldirektor, so ist zu vermuten, handelte es sich um Heinrich Müller, den Chef des Amtes IV (Gestapo) im Reichssicherheitshauptamt in Berlin, den sogenannten Gestapo-Müller, der letztmalig am 29.April 1945 im Führerbunker Adolf Hitlers gesehen wurde und danach spurlos verschwand. Wer der "sehr geehrte Herr Oberst" in Bern gewesen ist, läßt sich nicht mit letzter Bestimmtheit sagen; mag sein, daß es sich um den Chef der Bundesanwaltschaft persönlich handelte, Franz Stämpfli, welcher 1945 nicht verschwunden ist, sondern bis 1948 im Amt verblieb, das er schon 1916 angetreten hatte. Jedenfalls landete das Schreiben aus Berlin auf den Schreibtischen der Bundesanwaltschaft, die nun in allen Details und über sechs Seiten hinweg jene Geschichte vom russischen Zarensprößling Gerbohay erfuhr, wie sie heute auch in der Literatur überliefert ist, und welche alsbald daranging, diese Geschichte zu überprüfen.

Denn obwohl in Berlin zwar "stärkste Bedenken" dagegen bestanden, daß "die Auslassungen des Bavaud der Wahrheit entsprechen", richtete die Gestapo an die Bundesanwaltschaft doch das Ersuchen, acht in der Schweiz wohnhafte Mitschüler Bavauds und Gerbohays über diese Angelegenheit zu befragen und, "falls angängig", "über das Ergebnis nach hier Mitteilung zu machen".

Gestapo-Müller grüßte nicht mit "Heil Hitler", sondern schrieb für einmal "Ihr sehr ergebener". Ein anderer Herr Müller, Inspektor des Polizeidienstes der Bundesanwaltschaft, begab sich einen Monat später nach Freiburg, nach Biel und nach Neuch‰tel und befragte dort jene Mitschüler von Bavaud oder Gerbohay, die er auftreiben konnte: Louis B., Alexandre D. und Emanuel D. - Am 5.Juni 1940 formulierte Bupo-Inspektor Müller einen Rapport, der zehn Schreibmaschinenseiten umfaßte.

Am 16.Juli 1940 schrieb die Schweizerische Bundesanwaltschaft nach Berlin:
"Herr Reichskriminaldirektor, Bezugnehmend auf Ihre Anfrage vom 3. April 1940 betreffend den am 18.12.39 vom Volksgerichtshof wegen Verbrechens gegen ¤ 5 Ziff. 1 der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze von Volk und Staat vom 28.2.33 zum Tode verurteilten Bavaud Maurice Alfred, (Sohn; St.K.) des Alfred und der Helene Bertha geb. Steiner, geb. 15.1.1916 in Neuch‰tel, von Bottens VD, beehren wir uns, Ihnen in der Anlage einen Bericht (im Doppel) zu übermitteln als Resultat der Nachforschungen unseres Polizeidienstes.

Genehmigen Sie, Herr Reichskriminaldirektor, die Versicherung unserer vorzüglichen Hochachtung".

Die Familie Bavaud in Neuch‰tel hatte mittlerweile vom Todesurteil erfahren: Nicht durch die Schweizer Behörden, sondern von Maurice selber, der es ihnen jetzt plötzlich mitteilen durfte. In einem Expreß-Brief vom 10.Juni 1940 hatte der Vater, Alfred Bavaud, das EPD noch einmal flehentlich gebeten, in Berlin zu intervenieren, er konnte den Diplomaten sogar die Adresse des Berliner Anwaltes von Maurice Bavaud angeben, der vor dem Volksgerichtshof den tollkühnen Mut besessen hatte, einen Freispruch zu fordern, weil Bavaud das Attentat nur vorbereitet, aber nicht wirklich versucht habe. Der Anwalt ist in der Folge aus seiner Standesorganisation ausgeschlossen worden, die Schweizer Gesandtschaft hat ihn nie kontaktiert. Auch von den Ermittlungen der Bundespolizei erfuhr Vater Bavaud, wahrscheinlich durch einen der verhörten Zeugen, und er fragte den Chef der Abteilung für Äußeres im EPD, Minister Pierre Bonna, nach den Resultaten der Untersuchung; eine Antwort ist nicht überliefert.

Inzwischen saßen in der Schweiz aber neun Saboteure in militärischer Untersuchungshaft, die in deutschem Auftrag Mitte Juni 1940 einige Schweizer Flugplätze hätten sprengen sollen und vor der Ausführung ihres Auftrags verhaftet wurden. Man überlegte im EPD, ob man diese Leute, statt ihnen den Prozeß zu machen, nicht austauschen könnte: zum Beispiel gegen Maurice Bavaud. In einer anderen Sache hatte der Armeeauditor nämlich eingewilligt, solche militärgerichtlichen Verfahren einzustellen und die Beschuldigten auszuweisen. Doch nicht bei den Saboteuren: Aus einem Dossier, das der Forschung Anfang der achtziger Jahre eben-falls unbekannt war, ein Brief des Bundesanwalts Stämpfli vom 23.September 1940:

"Die Bundesanwaltschaft empfiehlt deshalb, in gänzlicher Unterstützung des Armeeauditors und des Militärdepartementes, die ungesäumte Beendigung des Militärstrafverfahrens (gegen die Saboteure; St. K.). Gleichzeitig legen wir nahe, vom Gedanken eines allfälligen Austausches mit deutscherseits verhafteten oder abgeurteilten Schweizern abzukommen. Insoweit läßt sich heute jedenfalls bestimmt das sagen, daß die vom Politischen Departement genannten Fälle nicht zu interessieren vermögen, was der Armeeauditor bereits mit Recht geltend macht."

Aus dem entsprechenden Brief des Armeeauditors (Vorsitzender des Schweizer Militärgerichts):

"Schließlich frage ich mich, ob es im Interesse unserer eigenen Sicherheit empfehlenswert ist, höchst zweifelhaften Elementen schweizerischer Nationalität, die sich in Deutschland gravierender Verfehlungen schuldig gemacht haben, zur Straflosigkeit zu verhelfen. Es ist m. E. ganz in der Ordnung, daß diese Leute die ihnen gebührende Strafe in Deutschland verbüßen. Viel weniger haben wir ein Interesse daran, schweizerische Kommunisten zu repatriieren."

Mit den Kommunisten war unter anderen der sozialdemokratische Kreuzlinger Metallarbeiter Ernst Bärtschi gemeint, der bis Mai 1938 im Auftrag der deutschen Exil-Gewerkschaften Flüchtlinge aus Konstanz über die Grenze holte und Propagandamaterial hinüberbrachte. Er verbüßte seine Kerkerstrafe in deutschen Gefängnissen bis Ende des Krieges. Über die "gebührende Strafe", die Maurice Bavaud drohte, wußte der Auditor Bescheid, genau wie Bundesrat Rudolf Minger, Chef des Eidgenössischen Militärdepartements, welcher zu der zitierten Stellungnahme hinzufügte: "Wir teilen durchaus die Auffassung des Armeeauditors."

Am 18.Oktober 1940 beschloß dann der Bundesrat, einen Austausch der Saboteure gegen inhaftierte Schweizer gar nicht erst zu versuchen. Man verstand dies auch als Härte gegenüber den Deutschen. Ein Versuch des Nazi-Gesandten in der Schweiz, Otto Köcher, im Januar 1941 doch noch einen Austausch zu erreichen und dafür die Freilassung Bavauds zu betreiben, wurde in Berlin offenbar nicht ernst genommen. Ob Hitler wirklich nicht zu überzeugen gewesen wäre, seinen Attentäter von 1938 wie jenen von 1939, Johann Georg Elser, wenigstens bis zum Kriegsende irgendwo lebend aufzubewahren, ist wohl nie erörtert worden. Im Mai 1941 gab der "Führer" laut Klaus Urner die persönliche Anweisung, Maurice Bavaud hinzurichten.

Aber was hat nun die Bundesanwaltschaft im Mai 1940 bei den drei Zeugen ermittelt?

Nicht viel Neues aus Sicht der Gestapo und auch aus heutiger Historikersicht, wenn man die Bücher von Urner und Meienberg kennt. Ein paar widersprüchliche Angaben: Ein Zeuge äußerte die Meinung, der Mitschüler Gerbohay müsse wirklich russischer Abstammung sein und außerdem Aristokrat; die zwei anderen Zeugen dachten eher, daß Gerbohay im Schlaf bretonisch gesprochen habe, nicht russisch, aber wenn der Inspektor meine, er sei russischer Abstammung?

Was den Einfluß von Gerbohay auf Bavaud betraf, so gab es auch dazu gegenteilige Ansichten. Alle drei Zeugen hielten sowohl Bavaud als auch Gerbohay für intelligent, alle hielten Gerbohay für kränklich (maladif) und Bavaud für gesund. Es kursierten wohl einige vage Gerüchte in der jugendlichen Männergesellschaft des Internats über diese zwei durchaus geschätzten Kollegen, die sich gerne von den andern absonderten und über hochstehende, nicht immer verständliche Themen philosophierten. Die Zeugen waren allerdings nicht unvoreingenommen, denn sie wußten, daß Bavaud im deutschen Gefängnis einsaß, der abenteuerliche Gerbohay sich in Freiheit befand (Frankreich kapitulierte erst einen Monat später), vielleicht erzählte ihnen der Inspektor sogar von der vermuteten Anstiftung Bavauds durch Gerbohay.

Bundespolizei-Inspektor Müller spitzte in seinem an die Gestapo abgelieferten Bericht die Dinge noch etwas zu. Er zitierte auch fast vollständig seinen Brief von Marcel Gerbohay an den Zeugen D., in dem Gerbohay diesem berichtet, er habe dem jetzt leider verhafteten Bavaud geraten, nach Deutschland zu gehen, um dort die Sprache zu lernen, weil er ihm eine Stelle beschaffen könne, für die er deutsche Sprachkenntnisse brauche - allerdings in Paris und nicht bei Hitler. Über die Gründe und die Art der Verhaftung Bavauds tappte sein angeblicher Anstifter Gerbohay offensichtlich im dunkeln. Der von der Bupo fotokopierte Brief taucht in den deutschen Akten wieder auf: in der Anklageschrift gegen Marcel Gerbohay, den die Deutschen im besetzten Frankreich gefaßt, zum Tod verurteilt und im April 1943 hingerichtet hatten. Der Bundespolizist schrieb in seinem Rapport:

"Wir haben die Überzeugung gewonnen, daß Bavaud am Ende seines Aufenthaltes in St. Ilan nicht weniger als ein Strohmann (Homme de paille) von Gerbohay war. Die Freundschaft, die zwischen beiden herrschte, war sicher mehr als Intimität. Keiner der Zeugen wollte es kategorisch erklären, aber es gibt allen Grund zu glauben, daß zwischen Gerbohay und Bavaud homosexuelle Beziehungen bestanden."

Homosexualität war im "Dritten Reich" ebenfalls ein Anlaß, vernichtet zu werden. Der Bundespolizist schrieb außerdem von einer erblichen Belastung Bavauds, da einer seiner Urgroßväter ein Gewohnheitstrinker gewesen sei und einer der Großväter aus demselben Grund habe interniert werden müssen. Der Großteil der fraglichen Zeugen, schrieb der Inspektor, habe jedoch gar nicht Auskunft geben können, weil sie im Ausland weilten oder weil sie Bavaud und Gerbohay nur sehr oberflächlich kannten. Der interessanteste dieser Zeugen, wußte der Inspektor, wäre Charles Rappo, der sich in der Nähe von Rennes befinde.

Vielleicht meinte es Bundespolizist Müller mit seinem Bericht nur gut, indem er einfach beweisen wollte, daß der "Strohmann" Bavaud für seine Tat nicht verantwortlich war.

Telefonat mit Pater Charles Rappo am 19. Oktober 1998:

Homosexualität?

"Je crois pas! Je crois pas!" Nie etwas bemerkt.

Er habe in Saint-Ilan im Bett neben Gerbohay geschlafen, sagt Rappo: Der habe in der Nacht geredet, und zwar vornehmlich dann, wenn Hitler ein besonderer Erfolg gelungen sei. Beim "Anschluß" Österreichs an Deutschland beispielsweise. Beim deutschen Einmarsch in die Tschechoslowakei. Gerbohay sei ein bißchen hysterisch gewesen, aber nicht etwa verrückt. Ja, eine slawische Sprache; er habe wohl irgendwann Kontakt zu weißrussischen Emigranten in Paris gehabt.

Ob nicht beide vielleicht doch verrückt gewesen seien?

"Nein nein! Auf jeden Fall nicht Bavaud." Pater Charles Rappo, 81-jährig, der schon viele Historiker empfangen hat, glaubt, daß Gerbohay und Bavaud bei aller Freundschaft unterschiedliche Gründe haben konnten, gegen Hitler zu sein. Er wäre aber interessiert, auch die Meinung der Bundespolizei kennenzulernen. Damals, nach der Besetzung, hat ihn die Gestapo nicht befragt in Rennes.

Eine Schwester und der jüngste Bruder von Maurice Bavaud haben die neu aufgetauchten Akten gelesen und mit einem ersten kritischen Kommentar versehen. "Wir haben uns entschieden, zu akzeptieren, daß von diesen Dokumenten Gebrauch gemacht wird", schrieben sie an die WoZ. Von den trinkenden Großvätern beispielsweise hört man in der Familie zum ersten Mal.

Nils de Dardel, Rechtsanwalt in Genf und SP-Nationalrat, Präsident des "Comité Maurice Bavaud", sagt: "Wenn die Bundespolizei so etwas hier gemacht hat, wo dann sonst noch?"

Der Text ist zuerst in der Züricher Wochenzeitung WoZ erschienen. Wir danken dem Autor und der WoZ für die Genehmigung zum Nachdruck.