Drogenkrieg in Mexiko

Too Big to Fail

Die Verteilungskämpfe der mexikanischen Drogenkartelle kosten Tausende Menschen das Leben. Die US-Regierung unterstützt den »Krieg gegen die Drogen«, doch viele Medien, Politiker und Beamte betrachten Mexiko als hoffnungslos korrupten, manche sogar als »gescheiterten« Staat.

Der »kleine Vicente« wollte ein großer Boss werden. Den mexikanischen Ermittlern zufolge war »El Vicentillo«, der 34jährige Vicente Zambada Nie­bla, Sohn und Angestellter von Ismael »El Mayo« Zambada, einem der meistgesuchten Drogencapos der Welt, im Kartell für die Logistik zuständig und durfte nach eigenem Ermessen Morde in Auftrag geben. Doch am 18. März endete seine Karriere. Kurz nach Mitternacht stellten ihn Militärs in Lomas del Pedregal, einem Nobelviertel von Mexiko-Stadt. Aufmerksamen Bürgern waren »El Vicentillo« und seine fünf Leibwächter mit ihren Sturmgewehren verdächtig erschienen. Die Armee war sogleich zur Stelle und zwang die Drogenhändler, sich zu ergeben. So effektiv kann der »Krieg gegen die Drogen« in Mexiko mitunter aussehen, zumindest in Presseerklärungen der Staatsanwaltschaft.
Überraschend angesichts der Rolle, die »El Vicentillo« zugeschrieben wird, ist der Umstand, dass gegen ihn in Mexiko kein Haftbefehl vorliegt. Er wird jedoch in den USA gesucht und soll demnächst den dortigen Behörden übergeben werden. Von »einem Geschenk« sprach deshalb die mexikanische Wochenzeitung Proceso. Die Demonstration staatlicher Effizienz erfolgte zur rechten Zeit. Denn eine Woche später stand der Staatsbesuch Hillary Clintons bei Präsident Felipe Calderón auf dem Programm. Und eigentlich wollten von der second lady alle nur eins hören: ob sie das von Gewalt, Korruption und Drogenhändlern geplagte Mexiko nun für einen failed state hält oder nicht.
Wie es überhaupt zu dieser Debatte gekommen ist, ist rückblickend nicht einfach zu rekonstruieren. Fest steht, dass der Fund for Peace, ein US-amerikanischer Think Tank, im Juli vorigen Jahres Mexiko auf Rang 105 der potenziell vom Scheitern bedrohten Staaten gesetzt hatte. Damit gehört das Land jedoch lediglich zu den 92 Staaten, bei denen eine »Warnung« ausgesprochen wird, und nicht zur Spitzengruppe jener 35, bei denen »Alarm« geschlagen wird.
Wirklich ernst nahm diese »Warnung« in Mexiko niemand. Lediglich in der linken Tageszeitung La Jornada wurde der failed state ab und zu bemüht, um das Scheitern der landesweiten Militärkampagne zu belegen, mit der die rechtskonservative Regierung dem Verteilungskrieg der Drogenkartelle beikommen will. Erst Joel Kurtzman, Mitbegründer des neoliberalen Milkin Institute, regte mit einem Beitrag im Wall Street Journal Mitte Februar tatsächlich eine Debatte an. Er spekulierte unter Berufung auf US-Militärstrategen über einen »völligen Zusammenbruch der Zivilregierung wie in Pakistan«. Wenn die »epidemische Gewalt« in Mexiko anhalte, wären die USA »gezwungen, Per­sonal an die Grenze zu verlegen«.

Wer so etwas sagt, wird in Mexiko schnell zum »Feind der nationalen Souveränität« erklärt. Auch wenn der Krieg mit den USA 150 Jahre zurückliegt, bedrückt der damals erlittene Gebietsverlust die patriotische Seele vieler Mexikaner bis heute. Ohne über das Konzept des failed state auch nur ansatzweise zu diskutieren, versicherte die regierende Partei der Nationalen Aktion (Pan), das Geschrei »katastrophischer Totenvögel« sei bedeutungslos, man habe den Staat im Griff. Präsident Calderón soll La Jornada zufolge ausgerufen haben: »Das Gewaltmonopol bin ich.« Die parlamentarische Linke wiederum zog sich auf eine Verschwörungstheorie zurück. »Der mexikanische Staat ist zumindest politisch gescheitert«, erklärte Porfirio Muñoz Ledo von der Breiten Progressiven Front (FAP). »Die usurpatorische Regierung darf nicht die Nation in den Abgrund stürzen«, fordern andere linke Kritiker, weil sie so »der US-Mafia den Weg ebnet, um Mexiko wie den Irak militärisch zu zerstören«.
Solche Thesen mögen absurd klingen, doch der Druck der US-Regierung wächst. Die Regierung Calderóns entsandte Ende Februar zusätzliche Mi­litärs und Bundespolizisten nach Ciudad Juárez, der bis dato am härtesten umkämpften Stadt Me­xikos. Die Anwesenheit von 10 000 bewaffneten Einsatzkräften hat die Mordrate nach Angaben der Regierung um 70 Prozent gesenkt. Kritiker weisen jedoch darauf hin, dass sich die Zahl der Morde im Rest des Bundesstaats Chihuahua verdoppelt hat.
Andere Zahlen sind noch beunruhigender. Die Menschenrechtskommission von Chihuahua geht von über 3 000 verfassungswidrigen Verhaf­tungen, 4 000 illegalen Hausdurchsuchungen und über 1 000 Fällen von Folterungen durch die Militärs aus. Präsident Calderón sprach von »not­wendigen Maßnahmen« und erklärte, dass »die Bekämpfung der Unsicherheit ihren Preis hat« und der »größte Feind der Menschenrechte letztlich das organisierte Verbrechen« sei. Unterstützung erhält er inzwischen sogar vom scheiden­den Ombudsmann der Nationalen Menschenrechtskommission, José Luis Soberanas, der eine wachsende Bereitschaft des mexikanischen Verteidigungsministeriums zu erkennen glaubt, mutmaßlichen, von Soldaten begangenen Menschenrechtsverletzungen« nachzugehen.
Bisher ist in Mexiko jedoch noch nie ein Militär­angehöriger vor ein ziviles Gericht gestellt worden. Dabei ist die Aufhebung dieser Straffreiheit sogar als Forderung im »Plan Mexiko« festgeschrieben, mit dem die USA den mexikanischen Staat finanziell, materiell und organisatorisch beim »Kampf gegen die Drogen« unterstützen. 15 Prozent der vorgesehenen Finanzhilfe in Höhe von 400 Millionen Dollar wurden im vergangenen Jahr nicht ausgezahlt, weil Mexiko in Men­schen­rechtsfragen nicht kooperiert. Der Ende Februar verabschiedete »Plan Mexiko« für dieses Jahr fordert erneut eine solche Kooperation, doch deutet vieles darauf hin, dass das zurückgehaltene Geld doch noch ohne Auflagen ausgezahlt wird.
Die mexikanische Regierung ist bereit, über kriminelle Aktivitäten auch einmal hinwegzusehen. Bis 1,5 Millionen Euro Kopfgeld gibt es für Hinweise, die zur Ergreifung des Führungspersonals mexikanischer Drogenkartelle führen. Generalstaatsanwalt Eduardo Medina Mora verspricht: »Auch Menschen, die selber Narcos sind oder mit Narcos in Kontakt stehen, können die Prämie kassieren.« Bisher gibt es noch keine heiße Spur. Wohin gefördertes Denunziantentum führen kann, zeigt jedoch der derzeitige Wahlkampf. Senatoren- und Bürgermeisterkandidaten aller Parteien werfen einander vor, von Narcos gespon­sert zu werden.

Solche Vorwürfe werden in den USA gerne aufgegriffen. Zahlreiche Politiker, Beamte und Medien scheinen ein Interesse daran zu haben, die mexikanische Politik zu diskreditieren. Es mag stimmen, dass Genaro García Luna, Mexikos Minister für Öffentliche Sicherheit, »mit den Kartellen arbeitet«, wie es der Leiter der US-amerikanischen Antidrogenbehörde (DEA), Anthony Placido, andeutete. Es ist jedoch außergewöhnlich, dass die mutmaßliche Verwicklung hoher Politiker verbündeter Staaten in kriminelle Aktivitäten öffent­lich bekannt gegeben wird. Und warum wird unter Berufung auf fragwürdige Statistiken behauptet, dass der Süden der USA von »grenz­über­greifenden Banden« und der »mexikanischen Ent­führungsindustrie« erobert wird? Es sei nicht ersichtlich, wie die Staatsanwaltschaft von Arizona zu der Aussage komme, Phoenix habe gleich nach Mexiko-Stadt die zweithöchste Entführungs­rate der Welt, stellt Laura Carlsen vom Center for International Policy fest. Die Grundlage des Rankings sei unklar, überdies hätten die meisten der bekannt gewordenen Entführungen mit dem Drogenhandel nichts zu tun.
Edgardo Buscaglia, Forscher des Mexikanischen Technologischen Instituts (ITAM), sieht darin einen Versuch der USA, den Druck auf Mexiko zu erhöhen. Denn vor allem die finanzielle Infrastruk­tur der Kartelle sei bisher so gut wie unberührt von der mexikanischen Antidrogenpolitik geblieben. Buscaglia schätzt, dass »Drogengeld heute mit 78 Prozent der legalen wirtschaftlichen Aktivitäten Mexikos verbunden ist«.
Die Maßnahmen richten sich jedoch vornehmlich gegen Kartellmitarbeiter der unteren Ränge. Das Journalistenkollektiv der Webseite Narconews stellt fest: »Auch ohne Hype ist die Wahrheit beängstigend genug: Mit mehr als 5 000 Morden im Jahr 2008 wurde der Drogenkrieg tödlicher als die Drogen selbst.« Tatsächlich gebe es eine Zu­nahme der Gangaktivitäten, doch müsse auch gefragt werden, warum sich etwa in der nordmexikanischen Großstadt Monterrey 26 000 Män­ner bewaffneten Gangs angeschlossen hätten. »Eine große Stadt, die ihre Jugend allein und ohne Chancen lässt, ist eine Gesellschaft, die früher oder später den Bach runtergeht«, sagt der in Mon­terrey lebende Aktivist Guillermo Martinez Berlanga.
Die mexikanische Journalistin Lydia Cacho erwartet eine weitere Eskalation, da der Drogenhandel in den USA mehr und mehr als »terroristische Gefahr« betrachtet werde. Unter Berufung auf kanadische Geheimdienstunterlagen zitiert Cacho aus einem »Plan A«, der eine »grenzübergreifende Kooperation bei der Antidrogenpolitik« vorsieht, und einem »Plan B«, »der darin besteht alles Nötige zu tun, um sich gegen die kriminellen Gruppen zu schützen, mexikanische Militärs und Regierende eingeschlossen«.

Kritiker des »Kriegs gegen die Drogen« hoffen allerdings, die neue US-Regierung werde die Drogen­bekämpfung entmilitarisieren. Davon war nicht die Rede, als Hillary Clinton Ende März in Mexiko zu Wort kam. Die Regierung der USA hatte der me­xikanischen Presse schon am Abend vor Clintons Ankunft mitgeteilt, dass 300 bis 400 Mitglie­der der Nationalgarde an die Grenze zu Mexiko verlegt werden sollen. Clinton will Mexiko 80 Mil­lionen Dollar zum Kauf von Black-Hawk-Hubschraubern leihen, die US-Außenministerin betonte aber auch die »Mitverantwortung« der USA für den Drogen- und Waffenhandel.
Auf der Pressekonferenz gab sie dann die ersehn­te Antwort. Nein, Mexiko sei kein failed state. »Ich glaube nicht, dass es in Mexiko ein nicht regierbares Territorium gibt«, sagte Clinton. Im aktuellen »Plan Mexiko« liest sich das anders. Dort werden 12 Millionen Dollar für Ausbildungsprogramme zur Verfügung gestellt, »um die Zahl nicht regierbarer Territorien zu verringern«.