Sie bewegt sich noch

25 Jahre Tanztheater Wuppertal. Aus der Avantgardistin ist die Bambi-Preisträgerin geworden: Pina Bauschs "Masurca fogo"

Dezember ist die Zeit der Märchen, und zu einem solchen wurde auch das Berliner Gastspiel des Wuppertaler Tanztheaters mit seiner Prinzipalin Pina Bausch. Für die vier Vorstellungen von "Masurca fogo" in der Volksbühne waren die Karten, heißt es, innerhalb weniger Stunden ausverkauft. Tatsächlich ließ sich der Auftritt der legendären Compagnie, die zuletzt vor elf Jahren in Berlin (Ost) und vor 17 Jahren in Berlin (West) gastierte, auf einen einzigen Satz reduzieren: "Es war einmal."

Es war einmal eine Tänzerin mit Namen Pina Bausch, geboren vor 58 Jahren in Solingen, ausgebildet an der Folkwang Hochschule Essen und der Juillard School New York, die 1973 Direktorin des Tanztheaters Wuppertal wurde. "Was soll ich denn in der Fabrik?" lautete ihre skeptische Frage, ehe sie diese Fabrik mit 31 Choreographien und eigenen Stücken zu Weltruhm führte.

An der Oberfläche sieht das heutige Tanztheater dem anfänglichen täuschend ähnlich. Darunter freilich ist es traurig alt geworden. Es lächelt erfolgreich, aber es hat keinen Biß mehr. Zwar erinnert es deutlich an die ursprüngliche Handschrift, aber die hat nichts mehr mitzuteilen: Nichts mehr zu der stilbildenden Tanzauffassung, der Grenzüberschreitung in andere Sparten, den puren Bewegungsanalysen stereotyper Ballettfiguren, zur Absurdität der Welt und des menschlichen Gehampels darin.

Bausch, deren Credo lautete, sie interessiere weniger, wie sich die Leute bewegen, sondern was sie bewegt, subsumiert ihre einstigen Attacken auf den klassischen Ballettbombast mit seinen dauergrinsenden Tanzmaschinen. Doch viele der radikalen Ansätze und Stilmittel sind längst ästhetisches Allgemeingut geworden, so daß sich der Wahrnehmungsschock der frühen Jahre so kaum mehr hervorrufen läßt.

Das ist der Gang der Dinge, und zu dem gehört vielleicht auch, daß sich das ehemals revolutionäre Tanztheater der Pina Bausch, zu Beginn in Stadt und Land geschmäht, mittlerweile als deutsche Wertarbeit internationaler Beliebtheit erfreut. Regelmäßige Tourneen - mit dem Goethe-Institut rund um den Globus - zeugen vom Qualitätssiegel als singulärer deutscher Kultur-Exportartikel. Das Wuppertaler Tanztheater wird zwischen Tokio, Paris und Hongkong nur noch bejubelt: Der "Käfer" unter den Tanztheatern rollt und rollt und rollt.

Im Herbst wurde in Wuppertal ausgiebig das 25jährige Bestehen der Bausch-Truppe gefeiert; niemand verließ mehr türenschlagend die Vorstellungen. Um den sakrosankten Status der Choreographin zu betonen, läßt das Berliner Programmmheft zu "Masurca fogo" auf 13 Zeilen Lebenslauf doppelt so viele Zeilen für "Preise, Ehrungen und Orden" folgen. Die reichen vom "Folkwang Leistungspreis" (1958) über den "Toleranzorden" des Wuppertaler Karnevalsvereins (1988) bis zum "Bambi 98 (Kultur)" und schließen selbstverständlich das "Große Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland" (1997) ein. Am Beispiel des Tanztheaters Wuppertal läßt sich die Vereinnahmung der Avantgarde studieren, und auch, daß die Gegenwehr nicht immer heftig war.

Das jüngste Stück, "Masurca fogo" (uraufgeführt im April in Wuppertal), entstand in Zusammenarbeit mit der Expo 98 in Lissabon samt dortigem Goethe-Institut, freundlich unterstützt zum Beispiel von der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger und Greenpeace Deutschland e.V. Inspiriert wirkt das Stück jedoch eher von Neckermann Reisen und Roy Black & Anita: "Schön ist es auf der Welt zu sein". So niedlich-neckisch, so demonstrativ lebenslustig kommt die emsig auf Multikulti getrimmte Produktion daher. Daß Portugal zu einem der ärmsten Länder Europas mit einer nur mäßig beschwingten Geschichte zählt, bleibt für das Stück ohne Belang. Dafür erfährt man, wie der Eingeborene zu Arm, Bein und Wirbelsäule sagt.

In den hinteren Teil des weißen Bühnenkastens ist durch einen Spalt ein Berg Lava hereingeronnen (Bühne: Peter Pabst). Leider ist er für die High Heels der Tänzerinnen unbegehbar, weshalb sie diese immer brav ausziehen müssen, um ihn zu überqueren. Die Hürden in der Landschaft haben ansonsten für die Choreographie keine Folgen: Vorne wird flott das Tanzbein geschwungen, hinten lagert die Natur herum. Einmal verteilen sich auf der Kuppe ein paar Tänzerinnen in modischen Badeanzügen. Den Rücken zum Publikum, schauen sie vermutlich auf's Meer hinaus. Bald trippeln sie wieder weg, haben aber sehr hübsch in das Bild gepaßt.

Ebenso tiefsinnig ist das gesamte, über zwei Stunden währende "Alles so schön bunt hier"-Treiben, unterlegt von einem pausenlosen, ohrenbetäubenden Musikteppich aus Fados, Tangos, Jazz und Schlagern. Frauen in geblümten Hängerchen und Männer in dunklen Hosen mit hellen Hemden wollen zueinander gelangen, finden aber selten den richtigen Weg. Deshalb tanzen sie sich außer Rand und Band oder zeigen ihre Gags. Beatrice Libonati im engen Pulli und Minirock trägt ein Huhn in braunem Federkleid herbei, auf daß es an einer geplatzten Wassermelone nasche. Nazareth Panadero schüttelt den Zuschauern in der ersten Reihe die Hände und sagt, niederträchtig grinsend, zur Begrüßung gleich "Goodbye".

Wie ein unbestechlicher Zeuge aus glanzvoller Vorzeit spaziert Stammtänzer Jan Minarik ungerührt über den Lavahaufen, ehe er später rote Rosen als Dartpfeile um eine Frau wirft. Die Überbetonung von Alltagsgesten, das Prononcieren vertrauter Balz-, Liebes- und Eifersuchtsrituale ist ein konstantes Thema in den Arbeiten von Pina Bausch. Mittlerweile allerdings erscheint dies als penetrantes Selbstzitat und ergibt nur noch eine nette, spaßige Nummernabfolge mit starken Soli und matten Ensembleszenen.

Bewundernswert allemal, wie konzentriert die zwanzig Tänzer zur Sache gehen, wie leicht selbst komplizierteste Bewegungsabläufe wirken. Ein Großteil ihrer Leistungen verschwindet jedoch im Zwielicht der raumhohen Filmeinspielungen mit der Originalität von Urlaubserinnerungen und Portugal-Reklame: Drei alte, furchtbar pittoreske Akkordeonisten unter Palmen, ein Tanzwettbewerb der original gut gelaunten Einheimischen, der Atlantik, wie er rollt und schäumt. Am Ende bauen die Tänzer aus Sperrmüll heiter eine Hütte. Drinnen tanzen sie dann so fröhlich, wie im darüber geblendeten Film die Rindviecher rennen.

Schließlich ist nur noch das Meer da, ganz naß, ganz flüssig. Die unendlich zähen letzten fünf Minuten gehören allerlei riesig projizierten Blumen, die nicht sprechen, aber im Zeitraffer ganz toll aufblühen. Das Berliner Publikum buhte, ehe es zu klatschen begann.

"Masurca fogo". Stück und Choreographie: Pina Bausch. Bühne: Peter Pabst. Kostüme: Marion Cito. Mit dem Ensemble des Tanztheaters Wuppertal.
Weitere Aufführungen: 7., 8., 9., 10. Januar 1999 (Wuppertal)