Die Veränderungen in der Musikindustrie

Nicht vom selben Planeten

Wir erleben das Ende des traditionellen Verlaufs der Popgeschichte. Der Mainstream und die Minderheiten haben sich so weit voneinander entfernt, wie es nie zuvor in der Musikgeschichte der Fall war. Gleichzeitig arbeitet die Musikindustrie seit Jahren an ihrer Zielgruppe vorbei, während sich die aufregende Musik zahlreicher ambitionierter Künstler nur noch im Internet und auf Kleinstlabels finden lässt. Über die gewaltigen Veränderungen auf dem Tonträgermarkt und das Ende des Konsenses. Martin Büsser vermisst das Gelände zwischen Underground, Indiestream, Deppen­radio und Klingeltonwerbung.

Nach einem gelungenen Konzert von Datashock, einer Band, deren Musik im weitesten Sinne als Free Folk oder Neopsychedelic klassifiziert werden kann, drückt mir der Sänger eine Plastiktüte in die Hand. Er ist auch Betreiber des kleinen Labels »Meudiademorte« und hat Rezensionsmaterial für mich zusammengestellt. Es handelt sich um einen Plastikbeutel voller Audiokassetten. Ja, richtig: »Meudiademorte« veröffentlicht fast aus­schließlich Kassetten. Und zwar nicht irgend­einen Schrott, sondern hochkarätige Künstler aus den Bereichen Noise, Folk und freie Improvisation. Auch Thurston Moore von Sonic Youth hat dem Mini-Label aus Saarlouis exklusives Material zur Verfügung gestellt. Ein echter Sonic-Youth-Fan sollte sich also von dem Gedan­ken verabschieden, seinen alten Kassettenrekorder zu verschrotten. Obwohl dies naheliegend wäre, da die Produktion von Kassetten demnächst komplett eingestellt werden soll. Insofern handelt es sich fast schon um einen anarchischen Akt der Verweigerung, als Label die Musik auf einem Speichermedium zu veröffentlichen, für das nur noch die wenigsten Menschen ein Abspielgerät haben. Oder sollte man es besser als bewusste Selbstmarginalisierung bezeichnen, die mit der sperrigen Musik auf diesen Kassetten korrespondiert? Einem Journalisten bringt diese Tüte voller Kassetten allerdings ziemlich wenig: Ich kenne kein Magazin mehr, das noch Tapes bespricht. Und ich kenne fast kein Magazin mehr, das Tonträger von Labels rezensiert, die nicht als potenzielle Anzeigenkunden in Frage kommen.
Begleitet wird dieses Sterben eines Tonträgers von Aufsätzen, Ausstellungen und Symposien über das »Mixtape«, die als nostalgisches Aufbäumen gegen das Ende der Kassette deren Tod doch zugleich durch die Musealisierung bekunden. »Sie haben doch bestimmt in Ihrem Le­ben schon mal eine gemixt. Als Sie vielleicht 15, 17 oder 20 Jahre alt waren«, warb das Kommunikationsmuseum Bern 2005 für die aus Frankfurt übernommene Ausstellung »Mix­tapes«: »Für ein ganz persönliches Geschenk an Ihre große Liebe vielleicht. Ja? Dann gehören Sie zur ›Gene­ration Mixtape‹.« Ein ziemlich unpraktisches Speichermedium, auf dem man einzelne Stücke durch ständiges Spulen suchen musste und bei dem der Bandsalat nach einem halben Jahr vorprogrammiert war, wird da zum »Lebensgefühl einer ganzen Generation« stilisiert. Dieser Unsinn zeugt von einer tiefen Verunsicherung der heute 30- bis 50jährigen, die nicht begreifen können, dass derzeit nahezu alles zu verschwinden droht, was ihre bisherige Wahrnehmung von Musik bestimmt hat: der herkömmliche Tonträger, der herkömmliche Musikjournalismus und eine herkömmliche, nämlich in klaren historischen Bahnen verlaufende Musikgeschichte, einteilbar in Generationen, Stile und Epochen. All das steht möglicherweise kurz vor dem Aus.
Wir erleben gerade eine der größten Umwälzungen auf dem Tonträgermarkt seit Erfindung der Schallplatte. Noch ist ungewiss, wohin diese Umwälzung führen wird, ob zum totalen Verschwinden des so genannten materiellen Tonträgers oder zum Nebeneinander der unterschied­lichsten Formate, also zum genauen Gegenteil – einer unüberschaubaren Fülle an Wahlmög­lichkeiten. Sicher ist nur, dass diese Umwälzung weit reichende Folgen haben wird, die nicht nur die Tonträgerindustrie betreffen. Der Musik­journalist als Experte beispielsweise, der dem Publikum ein Spezial- und Insiderwissen präsen­tieren kann, bevor andere auf dieses Wissen Zugriff haben, ist längst schon von einem Journalismus abgelöst worden, der verzweifelt den ihm von der Industrie aufgedrängten Hypes hin­terherhechelt. Er hat sein kulturelles Kapital, das exklusive Fachwissen, längst verloren – näm­lich an die Rezipienten selbst, die mit zwei Klicks auf Myspace exklusivere Acts entdecken können als die Arctic Monkeys und all das, worüber heute noch in der langsam dahinsiechenden Mu­sikpresse berichtet wird. Dasselbe gilt für die Bedeutung einzelner Plattenlabels und Künstler, die durch das Verschwinden alter Hierarchien und Setzungen à la »SST ist das wichtigste Label der achtziger Jahre« oder »Die Zukunft des Pop liegt in Montreal« geradezu gezwungen sind, sich mit anderen zu vernetzen, wenn sie denn noch wahrgenommen werden wollen. Für die Hardcore-Szene in den Achtzigern war »D.I.Y.« noch etwas freiwillig Gewähltes, der Luxus einer Mittelschichtsjugend in ökonomisch vergleichbar stabilen Zeiten. Unter den Bedingungen von Myspace ist aus der Freiwilligkeit eine Notwendigkeit geworden.
All das hat nichts mit Niedergang zu tun, schon gar nichts mit dem Ende von guter Musik – davon gibt es im Gegenteil mehr denn je! –, son­dern es bedeutet erst einmal nur das Ende eines traditionellen Geschichtsverlaufs im Pop, der bislang mit Historisierung und Kanonbildung einherging. Beides hing unmittelbar mit der Ver­öffentlichung und Beurteilung von Tonträgern zusammen. Derzeit erleben wir dagegen den Über­gang von Musik als historischem Spezialwissen hin zu einem ahistorischen, allen zugänglichen Nebeneinander, das alte Machtkäm­pfe und Hierarchien obsolet werden lässt.

Fetisch Vinyl: Die Präsenz des Vergangenen
»Was lehrt uns die derzeitige Krise?«, fragte Ende 2008 ein Artikel auf Spiegel online unter der gleich zwei Phrasen beinhaltenden Überschrift »Anlageobjekt Schallplatte: Schwarzes Gold in Scheiben«: »Zum Beispiel, dass das ja alles nix ist mit diesen Aktien, Fonds und Zertifikaten. Eine viel bessere Geldanlage sind da die ewig tot­gesagten Vinylschallplatten.« In flapsigem Ton wurden die Leser darüber aufgeklärt, dass die CD zwar nichts mehr wert ist, die Vinylschallplatte dagegen Rekordpreise erzielt. Das ist rich­tig, sofern es sich nicht um millionenfach hergestellte Alben von Roger Whittaker oder Boney M handelt, sondern um Nischenprodukte, die ursprünglich in geringer Stückzahl erschienen sind. Der Grund dafür, dass Vinylschallplatten aus der Zeit, als Pop noch einen historisch über­schaubaren Verlauf nahm, derzeit hoch gehandelt werden, hat allerdings ebenfalls etwas mit ei­nem letzten Aufbäumen zu tun. Diejenigen, die sammeln und dabei bereit sind, zum Teil drei­stel­lige Summen für eine Schallplatte auf den Tisch zu legen, versuchen, mit ihrer Sammlung eine Ord­nung in das Geschehen zu bringen, die es auf dem Markt längst schon nicht mehr gibt. Sie re­konstruieren Geschichte, weil sie aufgrund ihrer Sozialisation dem lieb gewonnenen Glauben nicht abschwören wollen, dass Pop mittels Ton­trägern historische Bedeutsamkeit produziert.
Viele der heutigen Sammler sind mit Punk aufgewachsen. Darunter auch die Brüder Markus und Micha Acher von The Notwist, die als Post-Punk-Musiker mit Referenzen an »SST«-Bands wie Dinosaur Jr. begonnen haben. An ihrem 2008 erschienenen Album »The Devil, You And Me« haben The Notwist sechs Jahre lang gearbeitet. Umso ärgerlicher, dass ein Journalist die komplette Platte einen Monat vor dem offiziellen Erscheinungstermin als Download ins Netz stellte. Enttäuscht musste die Band feststellen, dass ihr Werkbewusstsein da draußen nichts mehr zählt. »Wir denken ja noch in Kategorien wie B-Seiten, völlig anachronistisch«, stellte Markus Acher fest und formulierte zugleich Selbst­zweifel: Vielleicht sei es ja unfair, die i-Pod-Kids einfach nur als stumpfe Konsumenten abzutun. Ist es nicht ebenso konsumorientiert, am Fetisch Schallplatte festzuhalten?
Und ist es nicht, könnte weiterhin gefragt werden, ein Widerspruch, dass gerade unglaublich viele Musiker aus der ehemaligen Punk-Szene, die einmal das Flüchtige, Unfertige und Vergängliche zelebrierte, am Tonträger und damit an einem konservativem Werkbewusstsein festhalten? Beispiele hierzu ließen sich viele finden, das prominenteste dürfte Steve Albini sein. Er hasst die CD so sehr, dass er den Vinyl-Veröffentlichungen seiner Band Shellac die musikalisch mit der LP identische CD als Wegwerfprodukt beilegt. Dahinter verbirgt sich wohl ein seltsames, dialektisches Wechselspiel, das sämtliche Plattensammler kennzeichnet, ganz gleich, mit welcher Musik sie sozialisiert wurden: Der Fetisch Vinyl simuliert das Andauern der Intensität des historischen Augenblicks. »In den besten Punk-Singles«, schreibt Greil Marcus in »Lipstick Traces«, »herrscht das Gefühl vor, was gesagt werden muss, müsse sehr schnell gesagt werden, weil die erforderliche Energie und der Wille, es zu sagen, sich nicht lange beibehalten ließen.«
Der Tonträger hält materiell bestenfalls etwas von der Flüchtigkeit des Moments fest, konserviert ein historisch unwiederbringliches Ereignis und gibt dem Sammler das Gefühl, diese in der Musik zum Ausdruck kommende Dringlichkeit jederzeit abrufen zu können. Wer sammelt, gibt sich dem trügerischen Glauben hin, er könne die Vitalität des Augenblicks mit der Samm­lung konservieren wie eine Fliege in Bern­stein. Natürlich ist das ein Paradox: Sammler sammeln aus Angst vor dem Verschwinden, doch das, was sie auf Börsen oder bei Ebay ergattern, ist nichts weiter als der Nachhall von etwas Verschwundenem. Warum hat Jean Baudrillard, der große Theoretiker des Verschwindens, eigent­lich nie über Plattensammler geschrieben? Auf nichts trifft seine Simulakren-Theorie so sehr zu wie auf jene, die glauben, mittels Schallplatten die »echte« Intensität des Moments erheischen zu können, um am Ende doch nur dessen geisterhaften Schatten in ihren Händen zu halten.
Die Fetischisierung von Vinyl hängt unmittelbar mit dem Vitalismus, genauer gesagt: dem Vitalismus-Versprechen von Pop zusammen. Pop will Gegenwart, Unmittelbarkeit. Die CD hat es im Gegensatz zum Vinyl-Original nie geschafft, diesen Kultstatus materialisierter Geschichte zu transportieren. Weil Schallplatten simulieren, Geschichte könne jederzeit wieder als Gegenwärtiges abgerufen werden, sind nur solche Plat­ten teuer und begehrt, die sich in die Geschichte eingeschrieben haben, die also unmittelbar mit einer bestimmten Ära verbunden sind: Beat der frühen sechziger Jahre, Psychedelic der späten sechziger Jahre, Punk der späten siebziger Jahre. Für die Originalpressung der ersten Single von Joy Division werden Unsummen geboten, die Platten irgendwelcher Punk-Epigonen aus den späten Achtzigern bringen gar nichts ein.
Sammler arbeiten mit ihrer Sammlung an einem Kanon. Dies hatte lange Zeit durchaus etwas mit Trotz zu tun, denn all die subkulturellen Relikte, die sie mit hohem Aufwand zusammentrugen, wurden von der offiziellen Ge­schichts­schreibung ignoriert. In den Achtzigern, als ihre ersten Alben erschienen, waren Bands wie die Butthole Surfers oder Big Black kulturell nichts wert, kamen in keinem öffentlichen kulturellen Diskurs vor. Sie wurden weder im Radio gespielt noch von der bürgerlichen Presse besprochen. Inzwischen sind allerdings auch all die Nischen von der offiziellen Geschichtsschrei­bung erfasst worden. Die Aufarbeitung selbst ob­skurer Nebenstränge in Büchern und Ausstellungen schreitet Jahr für Jahr voran, Vinyl-Singles werden längst wie mittelalterliche Handschriften in den Vitrinen der Museen ausgestellt, so etwa in der diesjährigen Düsseldorfer Ausstellung »Sensational Fix« über die Band Sonic Youth. Alleine die Tatsache, dass hier eine Rock­band als Phänomen zeitgenössischer Kunst behandelt wird, zeigt den Bedeutungswandel. Der Kanon ist also längst erstellt. Das macht die Vinyl-Originale so teuer. Zum Zeitpunkt ihres Erscheinens hat die Single »Luxus« von Martin Kip­penberger fünf DM gekostet, heute kann man froh sein, sie für eine dreistellige Summe zu erwerben.
Pop ist in eine posthistorische Phase eingetreten. Die Geschichte ist bis in den letzten Winkel aufgearbeitet worden, doch mit den Veröffentlichungen der letzten fünf bis zehn Jahre tun sich sowohl die Chronisten wie auch die Samm­ler schwer. Seit nahezu alles epigonal geworden ist und Pop nicht mehr als etwas funktioniert, das vorgibt, sich mit Dringlichkeit in die Geschich­te einschreiben zu wollen, ist für viele auch der Reiz des Sammelns aktueller Platten verloren ge­gangen. Die fortschreitende Kanonisierung und Aufwertung der Pop-Vergangenheit hängt, so scheint es, unmittelbar mit der Geschichtslosig­keit gegenwärtiger Popkultur zusammen. Der Erfolg eines Films wie »Control«, der das Leben von Ian Curtis, des Sängers von Joy Division, erzählt, wäre ohne das posthistorische Bedürfnis nach Konstanten nicht möglich gewesen. Diese Konstanten sind etwas, was sich bis in die Techno-Ära hinein vor allem mittels neuer Stile und Bewegungen hat herausbilden können. Dem Heutigen gegenüber ist der Sammler dagegen ziemlich orientierungslos: Wird eine Single von Devendra Banhart oder eine LP der Arctic Monkeys in zehn Jahren ebenso als historische Wegmarke gehandelt werden wie jenes legendäre erste Album von Joy Division? Oder gibt es solche Wegmarken gar nicht mehr, sondern nur noch ein freies Flottieren, ein neoliberal wuchern­des Überangebot?
Diese Orientierungslosigkeit merkt man auch jenen Musikmagazinen an, die vergleichsweise konservativ arbeiten und ihre Leser regelmäßig mit »Best-Of«-Listen beglücken, seien es nun die »50 besten Platten der siebziger Jahre« oder gleich die »500 besten Alben aller Zeiten«, die der Rolling Stone 2003 gekürt hat. Auf den ersten 100 Plätzen finden sich ausschließlich Alben von etablierten Künstlern aus den Sechzigern und Siebzigern, darunter Bob Dylan, die Beat­les, Van Morrison, The Who, Led Zeppelin, James Brown und Pink Floyd. Mit Ausnahme von Nirvanas »Nevermind« kommen die neunziger Jahre und die Zeit danach gar nicht vor. Erst auf den hinteren Plätzen finden sich hin und wie­der Namen wie Radiohead, PJ Harvey, Coldplay und Jane’s Addiction – doch alleine die Nennung ausgerechnet dieser Namen unterstreicht den anachronistischen Rock-Kanon der Jury. Mit ihrem alten Wertesystem, das sich vielleicht noch bedingt auf die sechziger und siebziger Jahre anwenden ließ, kommen sie seit der Zeit, als Pop nicht mehr in Form von zyklischen Bewegungen auftritt, nicht mehr zurecht. Daher wird unter den »Top 100« auch Nirvana oft als die einzige jüngere Band genannt: Grunge als ein von den Medien konstruiertes Phänomen war der letzte verzweifelte Versuch der Presse und der Tonträgerindustrie, so etwas wie eine Bewegung zu installieren. Doch selbst in dieser Beurteilung liegt der Rolling Stone falsch, denn sollte Grunge jenseits der medialen Blase je eine Rolle gespielt haben, dann war »Superfuzz Bigmuff« von Mudhoney die mit Abstand wichtige­re und musikalisch bessere Platte als »Nevermind«.
Aber selbst diese von Nerds gepflegte Unterscheidung, welche Platte zu welcher Zeit wegweisend, besser oder wichtiger war, wagt sich kaum mehr ein Kritiker auf die Musik der letzten Jahre anzuwenden. Es gibt sie zwar noch, die Jahrescharts von Spex, Intro oder Musikexpress, doch alle Beteiligten wissen im Grunde, dass es sich dabei um eine Farce handelt und das Gelistete von Franz Ferdinand bis Bloc Party, von Hot Chip bis Tomte keinerlei musikhistorische Bedeutsamkeit hat, sondern höchstens so etwas wie das gerade noch Wahrgenommene innerhalb der neuen Unübersichtlichkeit darstellt. Die alten Platten steigen deshalb so lange an Wert, so lange noch kein Koordinatensystem für Wertigkeiten im posthistorischen Pop gefunden ist. Und das kann noch einige Jahre dauern.

Vom »Mainstream der Minderheiten« zu ­wu­chern­den Nischen
Mitte der neunziger Jahre reagierte der von Tom Holert und Mark Terkessidis herausgegebene Reader »Mainstream der Minderheiten« auf eine neue Situation: Im Zuge des Erfolgs von Nirvana und des Grunge-Booms verlor die immer schon durchlässige Unterscheidung zwischen Main­stream und Underground ihre Trennschärfe. Plötzlich begann die Plattenindustrie alles unter Vertrag zu nehmen, was Flanellhemden trug und einen wehenden Haarschopf zur Schau stellen konnte. »Alternative« wurde zum neuen Stilbegriff, auf den Bühnen der unzähligen Sommer-Festivals lief gar nichts anderes mehr als »Alternative«, der so zum neuen Mainstream hat­te werden können – und zwar in jeglicher Hinsicht: männlich, weiß, heterosexuell. Dennoch war die Situation relativ neu und ungewohnt. Noch zwei Jahre vor Erscheinen von »Smells Like Teen Spirit« waren Bands wie Nirvana oder Bad Religion durch die Autonomen Jugendzentren Europas getingelt, mit gemietetem Tourbus, ohne eigenes Management. Bis weit in die achtziger Jahre hinein war der US-amerikanische Underground dermaßen von allen Schaltstellen der Musikindustrie abgekoppelt, dass er sich bereits damit abgefunden hatte, nicht von der Mehrheitsgesellschaft wahr­genommen zu werden. Viele Bands aus der Post-Punk-Szene, aus der auch Nirvana hervorgegangen waren, spielten nicht deshalb in Autonomen Jugendzentren, weil sich die Musiker als linksradikal verstanden, sondern ganz einfach deshalb, weil es keine anderen Auftrittsmög­lichkeiten für sie gab. Trotzdem schweißte die Beteiligten das Gefühl, isoliert zu sein, zusammen, die Szene wurde von einem diffusen Gefühl der Solidarität und des Zusammenhalts ge­tragen, dessen Wert manche Musiker erst erkannten, als sie es bereits verloren hatten. »Plötz­lich waren es nicht mehr die alternativen Kids, die das hören wollten«, schreibt der Biograf von Nirvana, Essi Berelian, »sondern all jene, die von diesen Kids verabscheut wurden: Machos, Frauenverächter, Rassisten und Schwule hassende Provinzrowdies.«
Der Umbruch auf dem Tonträgermarkt in Folge von »Smells Like Teen Spirit« war nicht von Dauer. Nicht nur die Karriere von Nirvana sollte schnell und traurig enden, die Majorlabels selbst merkten bald, dass es ökonomisch keinen Sinn ergab, alles unter Vertrag zu nehmen, was den Ruch von »Underground« und »Authen­tizität« hatte. So wurde zum Beispiel der Major-Vertrag der Melvins von »Atlantic Records« nach drei Veröffentlichungen wegen Erfolglosigkeit gekündigt. Die Melvins hatten sich zu wenig an­gepasst, entsprachen nicht dem vermarktbaren Etikett »Alternative«.
Diese Vorgeschichte aus den Neunzigern hat bis in die Gegenwart hinein Spuren hinterlassen, denn nachdem die Majors merkten, dass es keinen Sinn hatte, Hunderte von Newcomer-Bands in der Hoffnung unter Vertrag zu nehmen, eine davon könnte so erfolgreich wie Nirvana sein, änderten sie ihre Strategie radikal. Seit dem Ende der neunziger Jahre verlässt man sich bei den Majorlabels ganz bewusst auf »ökonomisch sichere Formate« und überlässt die Nischen sich selbst. Von »Deutschland sucht den Superstar« bis zur Umgestaltung des MTV-Programms, das inzwischen von Klingeltonwer­bung und Demütigungs-Spielchen beherrscht wird, häufen sich die Beispiele dafür, dass die großen Plattenfirmen mehr und mehr ein junges Publikum im Blick haben und gewissermaßen angesichts der Unübersichtlichkeit kapituliert haben, die im »Post«-Zeitalter herrscht, das keine neuen Jugendbewegungen im klassischen Sinne mehr hervorbringt. Doch diese Entscheidung war bereits der erste Schritt in die Krise. Bald schon kauften die Teenies den für sie produzierten Schrott nicht mehr, sondern brannten ihn, tauschten ihn auf dem Schulhof aus. Die Jugendlichen selbst behandelten die »Bravo Hits« so, wie sie von der Industrie gedacht waren: als in einer Woche vergessene Schleuderware. Tim Renner erwähnt diese Fehlentscheidung in seinem Buch »Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm!«: »Die Demografie spricht in Deutschland ohnehin gegen die Jugend als wichtigste Ziel­gruppe (für Popmusik, M.B.) und stattdessen für diejenigen, die heute zwischen 30 und 50 sind.« Welche Alternativen Tim Renner, der »Ent­decker« von Rammstein, demgegenüber vorschlägt, kann an dieser Stelle höflich verschwie­gen werden. Richtig ist allerdings der Befund, dass die Musikindustrie inzwischen bereits mehr als zehn Jahre an der eigentlichen Zielgruppe, die noch bereit ist, für Musik Geld auszugeben, vorbeiarbeitet. Mit Ausnahme der notorischen Rolling-Stones-, BAP- und Lindenberg-Fans ist das erwachsene Publikum somit an die Nischen verloren gegangen, in welchen es seit der Fixierung der Majors auf die Jugend freudiger wuchert denn je.
Wenn von der »Krise der Musikindustrie« die Rede ist, wird nämlich gerne verschwiegen, dass der Musikmarkt seit der Verbreitung des Internets so vielfältig, ausdifferenziert und musikalisch so aufregend geworden ist wie in keinem der viel beschworenen und nostalgisch ver­klär­ten Pop-Jahrzehnte zuvor, seien es nun »die Sech­ziger«, »die Siebziger« oder »die Achtziger«. Alleine, dass es heute keinen zentralen Ort mehr gibt, wo all das gebündelt, selektiert oder im Sinne einer Strömung eingeordnet wird. Ein Ma­gazin wie Spex war in den Achtzigern deshalb noch diskursmächtig, weil es leicht fiel, wenigstens annähernd alle relevanten Entwicklungen auf dem Independent-Sektor im Blick zu be­halten. Doch mit Foren wie Myspace ist die Zahl an unabhängigen Künstlern sowie die der Klein- und Kleinstlabels gewaltig gestiegen. Man muss sich nur einmal im Internet die Liste der Platten­labels ansehen, die der US-amerikanische Vertrieb »Forced Exposure« in seinem Programm hat, um einen Eindruck davon zu bekommen, wie ausufernd die Indie-Landschaft geworden ist. Druckt man die Liste, hat sie 70 bis 80 Seiten, mit durchschnitt­lich 31 Labels pro Seite, also mehr als 2 000 Labels, deren Erzeugnisse alleine von »Forced Exposure« vertrieben wer­den. »Forced Exposure« ist einer der größten Ver­triebe für Independent-Musik in den USA, der als Mailorder fungiert, aber auch die US-amerikanischen Plattenläden beliefert, allerdings auch ein Vertrieb, der bei weitem nicht jedes In­dependent-Label ins Programm aufnimmt. Bei »Forced Exposure« findet sich nur ambitionierte Musik, die im weitesten Sinne als experimen­tell bezeichnet werden kann, von Post-Punk bis Electronica, von Free Folk bis Free Jazz. Zugleich gibt es aber noch eine Unmenge von Sparten, die bei »Forced Exposure« überhaupt nicht auf­tau­chen, zum Beispiel Reggae, Ska, Dark Wave, Oi-Punk, Heavy Metal, Country oder Blues. Alles in allem dürfte die Zahl der Indie-Labels heute also in die Zehntausende gehen, wobei all die Eigenlabels, auf denen Millionen von Künstlern ihre CDs veröffentlichen, nicht einmal berücksichtigt sind.
Das Angebot erschlägt einen geradezu und macht in seiner Vielfalt deutlich: Die ständigen Tode, die da ausgerufen werden, sei es der Tod der Musikindustrie, sei es der Tod des Tonträgers, sind selbst nichts weiter als ein Mythos, ein Ammenmärchen. An dem Geschäft verdienen le­diglich viel mehr Personen viel weniger als in den Jahrzehnten der Überschaubarkeit.
Die eigentlichen Verlierer dieser Entwicklung sind erst einmal nicht die Musiker, für die Foren wie Myspace eine Möglichkeit darstellen, sich weltweit zu vernetzen. Vielen ist es erstmals dank derartiger Foren möglich, ohne Label und Management eine Tour zu organisieren. Die eigentlichen Verlierer sind die Musikindustrie und der klassische Musikjournalismus. Eine Mischung aus ökonomischen Sachzwängen, Be­quemlichkeit und Ignoranz hat dazu geführt, dass die Presse fast nur noch über den Indie-Mainstream berichtet, für den eigentlich längst schon die Wortschöpfung »Indie­stream« hätte etabliert werden müssen. Der Indiestream von Gruppen wie Franz Ferdinand wirft wenigstens noch ein bisschen Anzeigengeld für die Magazi­ne ab und suggeriert den Lesern, dass man sich noch nicht völlig dem Deppenradio-Konsens ver­schrieben hat. Derweil existieren in der Welt da draußen großartige Plattenlabels, die, was die Qualität ihres Programms angeht, eigentlich so gewürdigt werden müssten, wie in den Acht­zigern Labels wie »SST Records« oder »Homestead« gewürdigt wurden. Doch Labels wie »Load Records«, »Textile«, »Locust«, »Important Records«, »Menlo Park« oder »Fusetron«, um nur einige zu nennen, haben zum Teil nicht einmal einen europäischen Vertrieb, ihre Veröffentli­chungen landen nicht mehr automatisch auf den Schreibtischen der Journalisten – sie sind öko­no­misch nicht ver­wertbar, also wird auch die Mu­sik ignoriert. Infolgedessen hat zumindest die deutsche Musikpresse in den letzten zehn Jah­ren nahezu alles verschlafen, was Relevanz besitzt. Mainstream und Minderheiten haben sich so weit voneinander entfernt, wie es nie zuvor in der Musikgeschichte der Fall war. Der Indie­stream ist dafür der beste Beweis, denn er funk­tioniert wie eine weitere Trennwand, die jegliche Durchlässigkeit zwischen einem, sagen wir, »Load«-Act wie Lightning Bolt und einer Tim­ba­land-Produktion verhindert. Beides ist in seiner Produktion, Intention und Materialästhetik so unterschiedlich, als ob es nicht einmal mehr von ein und demselben Planeten kom­men würde.

Spielwiese der Außenseiter
Ältere erinnern sich vielleicht noch an die Buch­reihe »Rock Session« aus dem Rowohlt-Verlag. Bis in die frühen achtziger Jahre hinein wurde in dieser jährlich in Taschenbuchform erscheinenden Zeitschrift über so ambitionierte Musiker wie Throbbing Gristle, Chrome, Pere Ubu und XTC geschrieben, im Anhang befand sich das »Lexikon der Außenseiter«. In diesem gab es Kurzportraits zu lesen, unter anderem über Kevin Coyne, Townes Van Zandt, The Sonics, Phil Ochs, Peter Hammill und die 13th Floor Ele­vators. Eine krude Mischung also. Und doch folgte die Auswahl einer inhärenten Logik, denn gelistet wurden Künstler, die es zu einer bestimmten Zeit und innerhalb eines bestimmten Genres nicht zu der ganz großen Popularität gebracht hatten und die dennoch etwas Eigenes aufweisen. Aus Townes Van Zandt wurde nun mal kein zweiter Johnny Cash, aus Phil Ochs kein zweiter Bob Dylan, aus Peter Hammill kein zweiter Peter Gabriel, und aus den Seeds wurden keine zweiten Stooges, obwohl man es ihnen allen gegönnt hätte. Und doch handelt es sich weder um Vergessene noch um Verschollene. Jeder, der sich ein bisschen für Musik jenseits der Charts interessiert, hat schon einmal etwas von den 13th Floor Elevators gehört. Nun ist allerdings die Frage, wie solch ein »Lexikon der Außenseiter« heute aussehen würde, wenn man darin ausschließlich Künstler aus den letzten zehn Jahren listen wollte. Zunächst einmal würde schnell deutlich werden, dass es die alten Abstufungen nicht mehr gibt. Entweder jemand ist drinnen im ganz großen Geschäft oder er ist es nicht. Und weil 98 Prozent aller Musiker nicht drin sind, müssen wir uns angewöhnen, nahezu die komplette Branche als ein Sammelbecken von Außenseitern zu betrachten.
Der Außenseiter-Status ist allerdings auch längst kein Qualitätsmerkmal mehr, er bezeichnet nicht mehr notwendig das Kauzige, Verschrobene oder Widerspenstige, was einen Captain Beefheart als Außenseiter gekennzeichnet hat. Auch an ihr Segment und die Mehrheitsgesellschaft angepasste Idioten sind aufgrund der neuen Situation Außenseiter, von der Oi!-Band aus Jena bis zur Melodic-Metal-Band aus Villingen-Schwenningen. Beide finden sich gleichrangig mit Sonic Youth oder Animal Collective auf Myspace. Doch das muss eigentlich nicht wei­ter stören, so lange Myspace auch Gruppen ein Forum bietet, deren Musik so sperrig, radikal oder verschroben ist, dass man sie in den all­seits verklärten Achtzigern ohne Spezialmail­or­der oder nicht minder schwer erhältliche Fanzines nie entdeckt hätte.
Doch diejenigen, die uns die allgemeine Verfügbarkeit als Segen preisen und die digitale Boheme zu den Verwaltern nie gekannter Freiheit erklären, verkennen die ökonomischen Bedingungen: Die derzeit aufregendste und beste Musik ist zwar jederzeit verfügbar, doch kein Radiosender spielt sie und kein Musikmagazin schreibt mehr über sie. In der Regel wird sie von 18- bis 25jährigen gemacht, die sich dies als spätpubertären Luxus leisten, so lange sie noch keinen Gedanken an Krankenversicherung und anderen Blödsinn verschwenden müssen. Das geht für ein paar Jahre gut, dann verschwindet die jeweilige Band wieder von der Bildfläche. Oder sie setzt, wie das bei Animal Collective der Fall ist, mehr und mehr auf ihre Vermarktbar­keit. Der Verschleiß an guten Musikern ist so hoch, weil niemand mehr be­reit ist, für Idealismus zu zahlen. Wolfgang Brauneins vom Kölner Label und Vertrieb a-Musik hat darauf hin­gewiesen, dass experimentelle Musik, die kei­ne Kompromisse an den Markt eingeht, langfristig wohl nur überleben kann, wenn sie sich dem Kunstmarkt andient oder, freundlicher gesagt, vom Kunstmarkt integriert wird. Im Rahmen von Ausstellungen und Vernissagen be­steht für solche Musiker zumindest noch die Mög­lichkeit, halbwegs realistische Gagen zu bekommen.
Langfristig ist das jedoch auch keine Lösung, langfristig wäre nur geholfen, wenn Musik jenseits des Indiestreams wieder eine Öffentlichkeit bekäme, wenn sich darum wieder ein Diskurs jenseits der sich selbst überlassenen Kleinstni­schen bilden könnte. Der verschwundene Diskurs wurde in den Achtzigern und Neunzigern allerdings von einer Kategorie bestimmt, die es nicht mehr gibt – der Kategorie des Neuen. Ganz gleich, ob HipHop, Detroit Techno oder selbst der bereits mit einem »Post« versehene Rock aus Chicago: Stets wurden anhand ge­wisser Künstler neue Strömungen und Stile aus­gerufen, die sich in einen vom Ideal der Fort­schrittlichkeit bestimmten Popdiskurs einfügen ließen. Dies funktioniert heute nicht mehr. Es funktioniert weder bei beliebigen, sowieso nur durch einen Retro-Mix gekennzeichneten Erfolgsgruppen wie Bloc Party, noch funktioniert es bei der wirklich hörenswerten Musik, da sämtliche Singer/Songwriter, Free Folker und Free Jazzer, Minimal-Elektroniker, Queercoreler und Post-Punker ein für allemal an eine durch nichts mehr trennbare Tradition gebunden sind. »All music is folk music«, dieser Satz von Louis Armstrong hat sich in dem Sinne bewahrheitet, dass alle Musik traditionalistisch ge­worden ist. Dies gilt sogar für die Neue Musik, von der Frieder Butzmann in seinem Buch »Mu­sik im Großen und Ganzen« schrieb, dass sie seit den frühen fünfziger Jahren in einem Zu­stand der Erstarrung verharrt. Insofern wirkt es erst einmal paradox, wenn Diedrich Diederich­sen sich in seinem Buch »Musikzimmer« da­rüber beklagt, dass man in Popzeitschriften nicht mehr über Avantgarde schreiben kann. Wel­che Avantgarde, so müsste man als Frage entgegnen.
Doch das, was Diederichsen mit seinem Satz wohl meint, bezieht sich auf etwas anderes. Es mag das Neue in dem Avantgarde-Sinne, in dem Popzeitschriften über Jahrzehnte fast je­den Monat eine neue Avantgarde ausgerufen ha­ben, nicht mehr geben, sehr wohl aber gibt es noch das Sperrige, das Dissidente, das sich dem Mainstream verweigert. Doch dieses lässt sich längst nicht mehr mit dem Begriff des Neuen fas­sen, da es seinerseits einer langen Tradition folgt, die unter anderem auf Sun Ra, Ornette Co­leman, John Cage, Captain Beefheart, Henry Cow oder The Pop Group zurückgeht. Ein neuer Diskurs, der diese Tradition vor dem Untergang in der Fülle von Myspace bewahren wollte, dürf­te nicht mehr mit der Kategorie des Neuen operieren – er würde sich lächerlich machen –, sondern mit der einer abweichenden Materialästhetik. Er müsste in fast schon adornitischer Tradition anhand des Klangbildes, anhand von Brüchen und ver­queren Tonalitäten streng innermusikalisch argumentieren. Dies ist dem Popdiskurs jedoch fast immer fremd ge­we­sen, galt entweder als uncool oder wurde so­wieso immer schon still­schweigend vorausgesetzt und immer dann verworfen, wenn es galt, auch mal wieder den Mainstream als neue Dissidenz zu feiern. Wer retten will, was es noch zu retten gibt, kommt am Problem der Material­ästhetik gar nicht mehr vorbei. Alles andere ist beliebig, nicht mal geschmäcklerisch, und sorgt für die Titelblätter, die längst niemand mehr sehen kann.
Die Plattensammler können zunächst einmal aufatmen. Nichts verschwindet so schnell, wie es prognostiziert wurde. Vor allem das Dissidente hat ein Bedürfnis, sich in die Geschichte einzuschreiben, so verzweifelt sinnlos dieser Ver­such auch immer erscheinen mag. Es wird sie auch noch in den kommenden Jahrzehnten geben, die sperrigen Labels, ganz gleich, ob sie die Musik auf Kassette, Vinyl oder einem Speichermedium veröffentlichen, das wir noch gar nicht kennen. Bevor deren Materialität verschwindet, wird die Materialität der Bloc Partys dieser Welt verschwunden sein. Versprochen.