Die Überwachung des Internet in der Türkei

Gefährliche Seiten

Nach der Sperre des Videoportals Youtube droht jetzt der nächste Coup der türkischen Internetwächter.

Der Verein für kemalistisches Gedankengut (Atatürkcü Düsünce Dernegi, ADD) hat Mitte April bei der türkischen Staatsanwaltschaft Klage gegen Google Sites erhoben und verlangt die Sperrung der Web­seite in der Türkei. Grund für die Klage ist die unter Google Sites betriebene Amateurseite »Kemalizmin karin agrisi« (Die Bauchschmerzen des Kemalismus), die islamistische Inhalte und Beleidigungen der Person Atatürks enthält. In der Türkei ist die Beleidigung des Staatsgründers und alles, was mit dem »Türkentum« verbunden wird, durch den zu traurigem Ruhm gelangten Artikel 301 des Strafgesetzes verboten.
Sollte die Klage Erfolg haben, würde nicht nur Google Sites, sondern auch die Suchmaschine Google selbst für Internetnutzer in der Türkei gesperrt werden, da man über sie zu der strittigen Webseite gelangt. Im Forum von www.sansuresansur.org, einem Portal, das sich gegen Internetzensur in der Türkei wendet, schreibt der Blogger Ermann: »Ich hoffe, sie sperren die Seite. Dann kriegen die Leute vielleicht endlich mit, was hier passiert.«
Die vor einem Jahr in Kraft getretene und bis heute andauernde Sperrung des Videoportals Youtube.com ist sicherlich der prominenteste, aber bei weitem nicht der einzige Fall von Internetzensur in der Türkei. Medienberichten zufolge wurden seit Mai 2007 über 1 000 Webseiten blockiert und nur um die 40 wieder freigegeben.
Grundlage der Klage des ADD ist erneut das umstrittene Gesetz 5651, das im Mai 2007 in Kraft getreten und im November 2007 um zwei weitere Artikel ergänzt worden ist. Besonders problematisch ist Artikel 8 des Gesetzes, der die Sperrung ganzer Webseiten ermöglicht, wenn auf diesen Seiten kriminelle Aktivitäten nachweisbar sind. Dazu zählen sexueller Missbrauch von Kindern und Kinderpornografie, Aufruf zum Selbstmord, Prostitution, Glücksspiel, Förderung von Drogenmissbrauch und Erwerb gesund­heitsschädigender Substanzen sowie der von Juristen als zu schwammig kritisierte Tatbestand der »Obszönität« und die Beleidigung Atatürks und des »Türkentums« im Allgemeinen.
Obwohl Kommunikationsminister Binali Yildirim beim Beschluss von Gesetz 5651 betonte, der Staat wolle vor allem wirksamer gegen Kinderpornografie vorgehen, fällt nur ein Bruchteil der bis heute gesperrten Internetseiten in die Kategorie des sexuellen Missbrauchs. Türkische Juristen und Bürgerrechtler bezeichnen das Vorgehen des Ministeriums für Telekommunikation als klare Zensur, die der demokratischen Entwicklung des Landes schade.
Für Bürger, die sich von bestimmten Internetseiten beleidigt fühlen, hat das Ministerium für Telekommunikation eigens eine Internetseite und eine Telefonhotline eingerichtet, über die »gefährliche« Seiten gemeldet werden können. Die Dienste erfreuen sich großer Beliebtheit. Offiziellen Statistiken zufolge betrafen 55 Prozent aller Meldungen dabei »obszöne Inhalte«, ein, wie viele Juristen immer wieder betonen, schwam­miger Begriff, der dazu führen kann, dass einige wenige ihre Moralvorstellungen ­einer großen Mehrheit aufzwingen.
In einem Buch von Yaman Akdeniz, Juraprofessor an der Universität in Leeds, und dem Juristen Kerem Altiparmak vom Zentrum für Menschenrechte der Universität Ankara zur Internetzensur in der Türkei, online veröffentlicht im November vorigen Jahres, kommen die Autoren zu dem Schluss, dass die Blockade ganzer Webdienste in der Türkei nicht nur das von der Regierung gesetzte Ziel des Schutzes von Kindern verfehlt, sondern auch illegal ist.
Ein entscheidender Kritikpunkt der beiden Autoren ist die juristische Autonomie, die das Ministerium für Telekommunikation (TIB) durch die Gesetzesregelung erhält. Der Großteil der bis heute beschlossenen Sperren wurde der Studie zufolge nicht von Gerichten, sondern direkt vom Ministerium verhängt. Damit sei die in der Türkei verfassungsrechtlich festgelegte strenge Gewaltenteilung jedoch nicht mehr gewährt. Schuld daran ist eine Lücke in Gesetz 5651:
Haben die Betreiber einer Webseite einen Sitz in der Türkei, verlangt das Gesetz, dass die Staatsanwaltschaft eingeschaltet wird. Ist dies, wie bei den meisten betroffenen Seiten und Netzdiensten, nicht der Fall, ist eine Benachrichtigung der Staatsanwaltschaft nicht festgeschrieben, und das Ministerium für Telekommunikation hat das Recht, die Blockade einer Internetseite selbst anzuordnen. Offiziell handelt es sich bei den Sperren um vorübergehende Maßnahmen, doch da Betreiber im Ausland oft nicht einmal darüber informiert sind, bleiben die Seiten auf meist unbestimmte Zeit blockiert. Fehlende Transparenz sei auch ein Hauptgrund dafür, dass sich die Betreiber der mit einer Sperre belegten Seite nicht adäquat verteidigen könnten.
Mete Tevetoglu, Dozent an der Kadir-Has-Universität in Istanbul und Spezialist für Telekommunikationsrecht, kommentiert: »Die Betreiber einer Seite werden über eine beschlossene Sperre nicht in Kenntnis gesetzt. Sie erfahren es erst, wenn sie versuchen, die Seite aufzurufen. Wenn es auf einer bestimmten Seite gefährliche Inhalte gibt, fordert niemand die Betreiber auf, diese zu entfernen.«
Er weist auch darauf hin, dass es den Betreibern oft nicht möglich sei, alle Inhalte einer Webseite genau unter die Lupe zu nehmen. »In Internetforen werden Hunderte von Kommentaren abgegeben. Immer wieder wird etwas hinzugefügt. Kein Betreiber kann das alles im Auge behalten.« Die Behörden machten es sich zu einfach. »Hier werden nicht die eigentlichen Täter bestraft. Im Fall von Youtube wird zum Beispiel nicht derjenige bestraft, der ein bestimmtes Video hochlädt, sondern ich, als Nutzer der Seite, werde bestraft.«
Die Juristin für Telekommunikation und Anwältin der Internetenzyklopädie Eksisözlük, Basak Purut, teilt seine Meinung. »Das Gesetz muss geändert werden. Dort heißt es: ›Der Zugriff auf die Seite wird blockiert.‹ Heißen müsste es: ›Der Zugriff auf die Inhalte wird blockiert.‹ Auf diese Weise würde nicht die gesamte Web­seite, sondern es würden nur bestimmte Inhalte gesperrt.«
Auch die Klage gegen Google beruht auf dem Prinzip, wegen eines inkriminierten Buches eine ganze Bibliothek zu schließen. Da der Urheber der unliebsamen Atatürk-feindlichen Seite nicht auffindbar sei, müsse man jetzt Google, Anbieter von Google Sites, zur Rechenschaft ziehen. Dieses Vorgehen findet Purut absurd. »Wenn jemand mit einer Waffe der Marke Kirikkale erschossen wird, kann man deswegen nicht die Firma Kirikkale verklagen.« Sie macht auch die Unerfahrenheit der Behörden und Richter mit dem Rechtsraum Internet für das Problem verantwortlich. »Sie behandeln das Internet wie herkömmliche Printmedien.«
Den Recherchen von Akdeniz und Altiparmak zufolge scheinen sich die Internetwächter oft in ihrem eigenen Paragrafendschungel zu verheddern – mit unliebsamen Folgen für Internetnutzer.
So hat sich der islamistische Kreationist Adnan Oktar, auch Adnan Hoca genannt, in den vergangenen zwei Jahren zum Internetzensor Nummer eins gemausert. Nicht weniger als 61 Webseiten wurden auf seine Klagen hin gesperrt, darunter auch die Homepage des Evolutions­biologen Richard Dawkins und zeitweise sogar die Onlineausgabe der Tageszeitung Vatan. Grundlage war dabei Oktars Behauptung, die jeweiligen Seiten würden ihn diffamieren und persönlich beleidigen. Das Gesetz 5651 sieht in diesem Fall, so die Juristen Akdeniz und Altiparmak, keine Sperre der Internetseiten, sondern lediglich ein Entfernen der betroffenen ­Inhalte vor. Auffällig sei auch, dass sich Oktar in fast allen Fällen an zwei lokale Gerichte gewandt hatte, die ansonsten keine Erfahrung mit Telekommunikationsrecht hätten. Doch die meisten der von dem selbsternannten Internetritter erstrittenen Sperrungen sind weiterhin in Kraft.
Auf einer Pressekonferenz im Oktober 2008 machte auch Kommunikationsminister Binali Yildirim keinen Hehl aus der fehlenden Spezialisierung der türkischen Gerichte. »Wir lernen alle jeden Tag dazu. Aber mit der Zeit werden die großangelegten Sperren nicht mehr nötig sein.«