Beratungspflicht bei Abtreibungen

Die Frist läuft ab

Der Bundestag streitet immer noch über eine neue Regelung zur Beratungspflicht bei Abtreibungen. Doch das Ende der Legislaturperiode drängt die Abgeordneten zu einer Entscheidung.

Eigentlich sollte den beteiligten Parteien zufolge alles besser werden: Die laufende Debatte um Abtreibungen geht auf den Koali­tionsvertrag der SPD und der Unionsparteien von 2005 zurück, in dem vage festgelegt wurde, die Situation bei Spät­abtreibungen zu verbessern. Das erklärte Ziel der Änderungsvorschläge für eine sozial-medizinische Indikation bei Abtreibungen ist es, die Beratung der Frauen zu verbessern sowie die Zahl der Abtreibungen zu reduzieren.
Doch in der derzeitigen Debatte geht es, anders als immer suggeriert wird, weder um Spät­ab­treibungen noch um die Abtreibung von Embryonen, bei denen Anzeichen für eine spätere Behinderung zu erkennen sind. Geändert werden soll das Schwangerschaftskonfliktberatungsgesetz, das den Paragrafen 218 ergänzend regelt. Diese Änderungen würden alle Schwangerschaftsabbrüche nach sozial-medizinischer Indikation betreffen. Eine embryopathische Indikation, d.h. eine gesetzliche Erlaubnis zur Abtreibung im Fall einer diagnostizierten Missbildung des Fötus oder einer wahrscheinlichen Behinderung des Kindes, gibt es in Deutschland seit der letzten Änderung des Paragrafen 218 von 1995 nicht mehr.
Abtreibungen von Föten, bei denen mit Missbildungen zu rechnen sein dürften, sind demnach nur noch zulässig, um »eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden«, und auch nur, wenn »die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann« (Paragraf 218a, Absatz 2). Diese Indikation hat keine Frist. Eine Frau darf heutzutage also nicht mehr abtreiben, weil sie vermutlich ein behindertes Kind zur Welt bringen würde, sondern weil dies eine Beeinträchtigung ihrer Gesundheit darstellen würde, was von einem Arzt bescheinigt werden muss. Die Entscheidung liegt also nicht bei der Frau – es sei denn, sie entscheidet sich dafür, eine schwerwiegende Beeinträchtigung ihrer Gesundheit auf sich zu nehmen.

In der politischen und medialen Debatte wird aber weitgehend so getan, als existiere die embryopathische Indikation noch. Es wird so getan, als entschieden sich viele Frauen, von einer pränatalen Diagnose geschockt, leichtfertig für Abtreibungen von Föten mit möglichen Behinderungen. Außerdem ruft der irreführende Titel »Spätabtreibungsdebatte« den Eindruck hervor, es bestünde ein schwerwiegendes Problem, das dringend zusätzlicher gesetzlicher Regelungen bedürfte. Dies ist nicht der Fall: In Deutschland wurden 2007 lediglich 200 Schwangerschaften nach der 23. Woche abgebrochen, es gab also nur 200 Spätabtreibungen. Die Abbrüche nach sozial-medizinischer Indikation sind insgesamt seit 1995 beständig gesunken: Waren es 1996 noch 4 818 Abbrüche, fiel die Zahl 2008 nach Angaben des Statistischen Bundesamts auf 2 989. Zudem weichen Pro Familia zufolge jährlich mehr als 1 100 Frauen in die Niederlande aus, um dort einen Abbruch vornehmen zu lassen. Häufig wurde ihnen von deutschen Ärzten vorher eine soziale Indikation verwehrt.
Diese Zahlen legen keinen unmittelbaren Änderungsbedarf für das Schwangerschaftskon­flikt­beratungsgesetz nahe, dennoch bemühen sich vor allem die Gruppen um die Abgeordneten Johannes Singhammer (CSU), Kerstin Griese (SPD) und Ina Lenke (FDP) um eine Änderung. Noch Mitte April lagen von diesen Abgeordneten jeweils eigene Änderungsentwürfe vor, die verschärfende Regelungen vorsahen.

Am 20. April änderte sich jedoch die Lage: Die Gruppen von Singhammer, Griese und Lenke einigten sich mit einer weiteren Gruppe um die Grüne Katrin Göring-Eckardt auf einen gemeinsamen Entwurf, der eine verpflichtende Wartezeit von drei Tagen zwischen einer entsprechenden Diagnose und einer möglichen Abtreibung vorsieht. Die Ärzte sollen nach der Diagnose eine medizinische Beratung über die Bedeutung der Testergebnisse durchführen und die Schwangere an eine psychosoziale Beratungsstelle vermitteln – diese Beratung soll aber freiwillig sein. Verstieße ein Arzt gegen diese Auflagen, drohte ihm eine Geldstrafe bis 5 000 Euro. Vor allem die Unionsparteien wollten darüber hinaus auch ein verbindliches Beratungsprotokoll sowie eine Dokumentationspflicht für Ärzte einführen. Damit konnten sie sich aber nicht durchsetzen, wohl auch, weil Verbände wie Pro Familia große Kritik und datenschutzrechtliche Bedenken geäußert hatten. Die Möglichkeit der statistischen Erfassung soll aber weiterhin, unabhängig von dem gemeinsamen Entwurf, zur Abstimmung gestellt werden.
Die Gruppen um Christel Humme und die Grünen-Politikerin Irmingard Schewe-Gerigk, die bisher eine Veränderung des Gesetzes als ­unnötig abgelehnt hatten, haben daraufhin ihrerseits einen Gesetzentwurf vorgelegt. In diesem wird ein Recht auf medizinische Beratung vor einer Pränatal-Diagnose festgeschrieben, auch das »Recht auf Nicht-Wissen« wird garantiert. Außerdem soll den Frauen nach der Diag­nose eine »ausreichende Wartezeit« gewährt werden.
Die Bundestagsfraktion der Linkspartei will keinen der beiden Anträge unterstützen, da diese das Selbstbestimmungsrecht von Frauen nicht genügend berücksichtigten. Von der Gruppe um Singhammer, Griese und Lenke ist bisher keine schriftliche Version ihres Kompromissvorschlags zu erhalten, was darauf hinweist, dass über diesen das letzte Wort noch nicht gesprochen wurde. Tatsächlich äußerte sich Lenke schon Ende April eher im Sinne des neuen Entwurfs von Humme und Schewe-Gerigk: In einer Diskussionssendung des RBB sprach sie sich sowohl gegen eine starre Wartefrist von drei Tagen als auch gegen ein Bußgeld für Ärzte aus.

Monika Frommel, die Direktorin des Instituts für Sanktionenrecht und Kriminologie der Universität Kiel, kritisiert vor allem eine festgelegte Frist im Falle der medizinischen Indikation. Sie weist besonders auf die Frage hin, wie in Notfällen verfahren würde. Immerhin beträfe eine festgelegte Frist alle Frauen mit sozial-medizinischer Indikation, auch solche, deren Leben akut bedroht wäre. Eine flexible bzw. ausreichende Frist, wie sie der Humme-Entwurf vorsieht und nun offenbar auch die Gruppe um Lenke befürwortet, erscheint Frommel zufolge angemessener.
Weil bei so genannten Gewissensentscheidungen in Bundestagsabstimmungen kein Fraktionszwang herrscht, wird weiterhin um jede Stimme gerungen. Allzu viel Zeit bleibt nicht mehr: Über die verschiedenen Entwürfe muss der Bundestag Mitte Mai abstimmen, damit das Vorhaben noch in dieser Legislaturperiode abgeschlossen werden kann.